ENS für Netware kontra Netware 4.0

Banyan bietet Netware-Usern Zugangsmöglichkeit zu Streettalk

25.09.1992

MÜNCHEN (gh) - Bisher eher die graue Maus in der Networking-Szene, scheint Banyan Systems nun endgültig die gewohnte Zurückhaltung aufgeben zu wollen. Mit "ENS für Netware" (Enterprise Network Services) stellen die Entwickler der Company aus Westboro Novell-Anwendern jedenfalls genau das zur Verfügung, was diese in vielen Fällen leidlich vermissen: Die Features des Vines-Verzeichnisdienstes "Streettalk". Während man bei Banyan Systems von einer "Integrationslösung" spricht, sehen Insider eher eine direkte Konkurrenz zu Netware 4.0.

Bereits vor einigen Wochen hatte Banyan im Zusammenhang mit der Präsentation von "Vines für SCO Unix" mit einem neuen, dreigeteilten Marketing für das Netzwerk-Betriebssystem Vines überrascht (vgl. CW Nr. 32 vom 7. August 1992, S. 15: "Vines für SCO Unix 1.0 Banyan will Novell erneut herausfordern"). Neben dem Geschäft mit den "Native-Vines"-Versionen sowie der Integration von Vines in diverse Unix-Umgebungen proklamierten die Banyan-Verantwortlichen seinerzeit als drittes Standbein ihrer Strategie das Bemühen um Interoperabilität zu anderen Netzwerk-Betriebssystemen.

Mit ENS für Netware soll nun spätestens zum Ende des vierten Quartals das erste Produkt dieser neuen Linie ausgeliefert werden, das den Vines-Verzeichnisdienst Streettalk sowie eine Reihe weiterer Vines-Features in puncto Netzwerk-Management und Systemverwaltung auch für Novell-Anwender verfügbar macht. Im Gegensatz etwa zu Vines für SCO Unix handelt es sich bei ENS für Netware also nicht um eine vollständige Vines-Version, sondern um ein erweitertes "Streettalk-NLM", das nach Angaben von Banyan die Nutzung dieser integrierten Services in bereits installierten Netware-Umgebungen ermöglicht.

Der Directory-Service Streettalk gewährleistet die topologie- und ortsunabhängige Verwaltung von LANs und WANs. Innerhalb von Vines-Netzen können dadurch Server automatisch Informationen über Ressourcen im Netz austauschen. Mit dem Zugriff auf diese Dienste wird nun für Netware-Anwender die "manuelle" Übertragung entsprechender LAN- oder WAN-Daten hinfällig.

Bei der Portierung von ENS für Netware soll Banyan zufolge die gleiche Integrationsebene wie im Streettalk-Verzeichnis existieren, ohne daß bestehende Novell-Netze ersetzt oder unterbrochen werden müssen.

Ein Netware-Client hat also wie bisher Zugriff auf den Netware-Server, darüber hinaus können nun aber auch die Streettalk-Services und über diese wiederum die Ressourcen des gesamten Netzes in Anspruch genommen werden. Für die ENS-Implementierung genügt laut Banyan ein dedizierter 386er PC, wobei ein einzelner ENS-Server maximal acht Netware-Server mit den entsprechenden Services bedienen kann.

Die Anbindung an die Netware-Umgebung erfolgt über Netware Loadable Modules (bei Netware 3.11) oder Value Added Process (VAP bei Netware 2.2). Der ENS-Server ist dabei laut Banyan allerdings nicht mit einem Vines-Server gleichzusetzen, da wesentliche Features wie Datei- und Druckfunktionen fehlen. In heterogenen Umgebungen mit Vines- und Netware-Netzen kann die ENS-Serversoftware darüber hinaus auch auf einen Vines-5.0-Server geladen werden.

Migrationspfad für die Netware-Klientel

Mit der Ankündigung von ENS für Netware verdichten sich indes erneut Spekulationen darüber, daß Banyan offensichtlich dazu übergeht, für die Netware-Klientel einen direkten Migrationspfad zu Vines zu ebnen. Neu in diesem Zusammenhang ist jedoch das nur noch halbherzige Dementi aus Westboro. Bernard Fisher, European Sales Manager von Banyan Systems, interpretiert ENS als eine "kostengünstige Integrationslösung", die beide Welten zusammenführen solle. Für Banyan-Verhältnisse jedoch ungewöhnlich selbstbewußt spricht der Manager zugleich offen aus, was in Insider-Kreisen schon seit längerem gemunkelt wird: "Banyan stellt den Anwendern mit Streettalk die Directory-Services zur Verfügung, an denen Novell seit mehr als neun Jahren arbeitet."

Damit legt der Banyan-Verantwortliche - ob gewollt oder ungewollt - den Finger auf die Wunde des Marktführers aus Provo. Der Grund: Novell wird frühestens zum Jahresende mit dem Release 4.0 ein Netware-Upgrade auf den Markt bringen, das über ein mit Streettalk vergleichbares Adressierungsverzeichnis verfügt. Für nicht wenige Netware-Anwender könnte sich daher durch die Möglichkeiten, die ENS für Netware bietet die Frage einer Migration zu Netware 4.0 zunächst gar nicht stellen.

Unabhängig davon ist der Novell-Konkurrent aus Westboro derzeit bemüht, sein Image als Networking-Company zu untermauern und auszubauen. "Die Wahl eines Netzwerk-Betriebssystems ist mehr denn je eine strategische Entscheidung", macht Sales-Manager Fisher deutlich und verweist genüßlich auf den "Giganten" Microsoft, dessen bisher geringer Erfolg im Netzwerk-Business zeige, daß Manpower nicht das entscheidende Kriterium sei. Sein Unternehmen halte hingegen - mit weltweit nicht mehr als 60 Mitarbeitern - nach Erhebungen des Marktforschungsunternehmens Dataquest rund 26 Prozent Marktanteil bei unternehmensweiten Netzen mit mehr als 35 Benutzern pro Server.

Für welchen Weg sich die Anwender letztlich entscheiden, dürfte nach Ansicht vieler Beobachter auch davon abhängen, ob der technische ENS-Support nicht unter dem zu erwartenden Konkurrenzkampf mit Novell leidet. Vielerorts befürchtet man, daß Novell naturgemäß auftretende Mängel bei der Software beziehungsweise Probleme bei deren Implementierung in den Verantwortungsbereich von Banyan schieben wird und umgekehrt. Um dies zu verhindern, soll, wie Fisher betont, ein zwischen beiden Firmen noch auszuhandelndes Technical-Alliance-Support-Abkommen in Kraft treten. "70 Prozent aller Vines-Netze beinhalten bereits kleinere Netware-Inseln" bemüht sich auch Axel Schultze, Geschäftsführer der Münchner Asonic GmbH, in diese Richtung gehende Befürchtungen zu entkräften.

Die tägliche Praxis bei Asonic - zusammen mit Adcomp und Telemation exklusiver Banyan-Distributor für Deutschland - habe gezeigt, daß bei den Systemhäusern vor Ort, die große Netze installieren, in der Regel sowohl Vines- als auch Netware-Erfahrungen vorhanden seien; es könne also, so Schultze, durchaus davon ausgegangen werden, daß "beide Weiten zusammenwachsen".

Ob der Banyan-Distributor recht behält, wird aller Voraussicht spätestens ab dem Ende des vierten Quartals 1992 anhand konkreter Verkaufszahlen nachgeprüft werden können, wenn ENS für Netware für den deutschen Markt ausgeliefert wird. In dem Paket sollen der Streettalk-Verzeichnisdienst und die Streettalk-Verzeiehnishilfe STDA, der Sicherheitsservice, Netzwerk-Management-Tools sowie Software zur Unterstützung des IPX/SPX-Kommunikationsprotokolls zusammengefaßt sein.

Der Richtpreis für die Komplettlösung liegt bei knapp 10 000 Mark. ENS für Netware will Banyan darüber hinaus auch als SW-Zusatzoption für bestehende Vines-Netze zu einem Preis von rund 8000 Mark pro Vines-Server vertreiben.