Angemessen komplementär zur Informationstechnik leben

16.09.1983

Prof. Dr. Klaus Haefner Universität Bremen

Wenn die Frage beantwortet werden soll, welche Konsequenzen die neuen Medien für Bildung und Ausbildung im nächsten Jahrzehnt haben werden, so fordert das eine Charakterisierung eben dieser neuen Technologien, um Mißverständnisse zu vermeiden:

Unter Neue Medien sei im folgenden sowohl die Gesamtheit der technischen Systeme verstanden, die als Konsequenz einer zunehmenden Leistungssteigerung der technischen Informationsverarbeitung (zum Beispiel Mikroelektronik) intensiv in alle Lebensbereiche vordringen als auch die technische Infrastruktur der Kommunikation (zum Beispiel Kabelnetze, digitale Netze), die durch Investitionen der Bundespost und anderer Träger entstehen. Natürlich fallen dann auch alle Kombinationen dieser beiden Komponenten unter den Begriff der Neuen Medien, wie zum Beispiel der Bildschirmtext, der im nächsten Jahr bundesweit verfügbar sein wird.

Vermeidet man die vielen- zum Teil in die Irre führenden- Bezeichnungen für bestimmte Ausprägungen der Neuen Medien und konzentriert sich auf ihre Funktion, so kann man sie auch wie folgt beschreiben: Neue Medien sind die Gesamtheit aller informationstechnischer Systeme, die den Informationszugang mit technischen Mitteln verbessern und/ oder die technische Abwicklung von informationsverarbeitenden Prozeduren ermöglichen. Informationen und Prozeduren können dabei sowohl dem kommerziellen als auch dem privaten Bereich entstammen.

Was bleibt als typisch menschlich?

Grundsätzlich läßt sich ferner feststellen, daß- ausgehend von den heute erkennbaren Trends- das Preis/ Leistungsverhältnis für Informationszugang und Informationsverarbeitung bei den Neuen Medien im nächsten Jahrzehnt drastisch fallen wird. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die zu erwartende breite Penetranz der neuen Techniken.

Bis in die 50er Jahre gab es praktisch keine technischen Lösungen für die Abwicklung komplexer Informationsverarbeitungsprozesse, nur das Gehirn konnte hierfür genutzt werden.- Betrachtet man breite Schichten der Bevölkerung, so gibt es auch bis heute noch kein technisches System, welches einen selektiven und effektiven Informationszugang für jedermann verfügbar macht, erst das Bildschirmtext- System wird dies erlauben.- Aus dieser Situation heraus ergab sich das Primat menschlicher Informationsverarbeitung und- speicherung, welches kulturell und bildungsökonomisch die treibende Kraft war für eine intensive Bildung und Ausbildung breiter Schichten.

Mit der Leistungssteigerung der technischen Informationsverarbeitung einerseits und dem technisch gesicherten, schnellen Zugang zur Information andererseits verschiebt sich die Bedeutung menschlicher Leistungen: Die Gesellschaft kann in vielen Bereichen zunehmend wählen zwischen menschlicher Informationsverarbeitung (zum Beispiel Facharbeiter, Lehrer) oder technischer (in Form zum Beispiel von computergesteuerten Werkzeugmaschinen, Roboter beziehungsweise computerunterstütztem Unterricht).

Neue Medien sind also nicht "irgendeine" zusätzliche Komponente der informationellen Umwelt des Menschen, sie stellen vielmehr eine grundsätzliche Herausforderung an das menschliche Denken dar. Der Mensch wird mit den neuen Medien an einem zentralen Punkt seines Selbstverständnisses berührt: Hat die elektromechanische Maschine viele Leistungen der menschlichen Motorik übernommen, so kann die Informationstechnik breite Flächen der kognitiven Leistung des Menschen substituieren, verbessern, erweitern.- Was aber bleibt dann als typisch menschlich?

Die Potenzen der Neuen Medien werden im nächsten Jahrzehnt zu einer Polarisierung der Menschen in den Industrienationen in drei Gruppen führen: Während es den "Autonomen" gelingt, im wesentlichen ohne Neue Medien beruflich beziehungsweise privat auszukommen (zum Beispiel Handwerker im Baubereich, Alternative auf dem Lande), verwenden die "Unberechenbaren" die Neuen Medien zum Teil sogar intensiv, sie sind aber in der Lage, jenseits der Leistung der Informationstechnik im eigentlichen Sinne des Wortes unberechenbare, das heißt, technisch nicht realisierbare Informationsverarbeitungsprozesse abzuwickeln (zum Beispiel Manager, Politiker, Ärzte, Ingenieure).

Die dritte Gruppe umfaßt die "Substituierbaren", alle jene, deren Leistungen ganz oder teilweise im beruflichen, aber auch im privaten Leben technisch substituiert werden können (zum Beispiel der Facharbeiter am Montageband, die Schreibkraft, der Schachpartner); für sie besteht die Gefahr, mittelfristig wirklich substituiert zu werden, woraus sich gravierende gesamtgesellschaftliche Konsequenzen ergeben: Wie sollen Gewinne verteilt werden, wenn ein zunehmender Prozentsatz der Bevölkerung nicht mehr an der Arbeit beteiligt ist? Wie verändert sich die Freizeit, wenn die Freizeitautomaten (zum Beispiel Videospiele) den menschlichen Partner substituieren?

Computerunterstützter Unterricht für jedermann

Den Übergang von unserer heutigen Situation- wo noch ein hoher Anteil der Informationsverarbeitung von menschlichen Gehirnen erledigt wird- in eine "informierte Gesellschaft"- wo technische Sklaven weite Bereiche von Produktion und Administration übernehmen und der Mensch nur noch "Globalsteuerungen" vornimmt (wie heute bereits zum Beispiel in der automatisierten Elektrizitätswirtschaft)- wird lang und schwierig sein. Wir werden dazu ein breites und differenziertes Wissen in allen Betrieben und öffentlichen Einrichtungen brauchen. Um dies zu vermitteln, können die neuen Medien intensiv genutzt werden.

Durch Mikrorechner einerseits (gegebenenfalls in Kombination mit audiovisuellen Speichern) und durch zentrale Datenbanken in Kombination mit Telekommunikationsstrecken andererseits, ist es heute möglich, kostengünstigen, computerunterstützten Unterricht anzubieten. Insbesondere können Einführungskurse, Übungskurse, Simulationen, Expertensysteme verfügbar gemacht werden, die es erlauben, nicht nur "einfaches Wissen" zu vermitteln, sondern auch das Erreichen sehr komplexer Lernziele zu unterstützen (zum Beispiel Training von Piloten und Kapitänen auf Simulatoren, Ausbildung von Managern an computerisierten Planspielen, Einführung in neue Disziplinen für Fachleute eines anderen Gebietes mit kontrollierten Datenbanken).

Wenn es gelingt, Lehrprogramme für den computerunterstützten Unterricht heute derart zu realisieren, daß einige tausend, ja vielleicht sogar einige zehntausende Lernende sie benutzen, so können die Kosten pro Lernstunde und Lernendem zur Zeit bei 5 Mark bis 15 Mark liegen; ein Preis, der zum Beispiel an deutschen Universitäten in vielen Veranstaltungen überschritten wird, der sogar unter gewissen Bedingungen unter den Unterrichtskosten der reformierten Oberstufe liegt. Die Neuen Medien bieten also große Potenzen einer breiten Bildung und Ausbildung.

Eine neue Bildungskrise

So gewaltig diese Potenzen der Nutzung der Neuen Medien in Bildung und Ausbildung sind- sowohl bezüglich ihrer Ökonomie im Vergleich zum personalen Unterricht als auch bezüglich der Qualität der didaktischen Aufbereitung- so nutzen sie wenig, wenn das, was mit ihnen an Qualifikationen vermittelt werden kann, im Beruf beziehungsweise im Privatleben deshalb irrelevant ist, weil Wissen mittels informationstechnischer Systeme zuverlässig und besser zur Verfügung steht als in menschlichen Gehirnen (zum Beispiel Expertensysteme) und die informationsverarbeitenden Prozeduren bereits an Computer übergeben sind (zum Beispiel Bankautomaten, Textverarbeitung).

Aus dieser Diskrepanz zwischen der potentiellen Leistungsfähigkeit eines personalen oder auch computerunterstützten Ausbildungs- und Bildungssystems einerseits und den veränderten Bedürfnissen des Berufs- und Privatlebens andererseits, ergibt sich die neue Bildungskrise. Sie hat zwei zentrale Aspekte: Zum einen wird der mittlere Lernende (nicht der "intelligente") zunehmend Schwierigkeiten mit den Lernzielen haben: Einfache Qualifikation, die er erwerben könnte, kann er später nicht mehr nutzen, weil diese Qualifikation die Informationstechnik bereits "aufgesogen" hat; aufwendige Qualifikationen der "Unberechenbaren" erfordern aber hohe Anstrengungen und bleiben für viele aus genetischen und Milieu- Gründen unerreichbar. Viele Lernende werden also demotiviert. Es wird für sie zunehmend schwieriger werden, sich klar zu machen, wozu überhaupt gelernt werden soll. Die traditionelle Aussage, "Bildung zahlt sich immer aus", ist nicht mehr so einfach aufrecht zu erhalten!

Der zweite Aspekt der neuen Bildungskrise knüpft an diese für den Lernenden wichtige Feststellung an und betrifft die gesamte Finanzierung des Bildungswesens: Wenn menschliche Informationsverarbeitung nur sektoral und selektiv nachgefragt wird, lohnt es dann ein breites Bildungswesen zu finanzieren, welche volkswirtschaftlich nicht mehr unmittelbar relevante Qualifikationen vermittelt? Bei den Lernzielen des heutigen Bildungswesens lautet die Antwort angesichts der Potenzen der Informationstechnik schlicht "nein".- Vielerlei Sparpläne für das öffentliche Bildungswesen zeigen bereits erste praktische Schritte in diese Richtung.

Der einfache, auf das Individuum zielende Human- Kapital- Ansatz ist seit der breiten Penetranz der Informationstechnik nicht mehr gültig, er bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Modifikation. Diese aber ist heute kaum begriffen, geschweige denn geplant oder praktiziert.- Wir brauchen weiterhin ein leistungsfähiges Bildungssystem, aber mit veränderten Lernhorizonten: Einerseits müssen wir den Menschen vielmehr als bisher qualifizieren, mit der Informationstechnik in einer angemessenen Komplementarität zu leben.

Andererseits gilt es insbesondere, die "typisch- menschliche" Informationsverarbeitung (zum Beispiel Nichtstreng- rationales, Kreatives, Unsystematisches, Affektives) zu entwickeln. Welche Potenzen hier bestehen, gilt es systematisch auf dem Wege in ein Bildungssystem jenseits der neuen Bildungskrise zu erproben. Eine gewaltige Aufgabe inhaltlicher Art, der gegenüber alles, was bei der Bewältigung der "Bildungskatastrophe" der 60er Jahre geleistet wurde, wie ein Kinderspiel erscheint.

Abdruck eines Vortrages, der auf dem Kongreß "Neue Medien" der Konrad- Adenauer- Stiftung kürzlich in Berlin gehalten wurde.

Literatur: Haefner: "Die neue Bildungskrise- Herausforderung der Informationstechnik für Bildung und Ausbildung", Basel 1982.