Unternehmenskultur im Wandel

Warum Geld für Bewerber nicht alles ist

Kommentar  von Holger  Pralle
Fachkräftemangel, COVID-19 und Generation Z revolutionieren das Berufsleben. Klarer Bewerbertrend: Firmen, die Work Life Balance vorleben, sind im Vorteil.
Unternehmen, die insbesondere die Generation der jüngeren Arbeitnehmer erreichen wollen, sollten ihre Arbeitszeitmodelle flexibel gestalten und sich im Zuge ihrer Firmenkultur stark in Sachen Work-Life-Balance engagieren.
Foto: Djomas - shutterstock.com

Nine-to-five hat ausgedient. Der Job wird bei vielen Mitarbeitenden als ein Baustein des Lebens betrachtet - nicht mehr und nicht weniger. Besonders deutlich wird die Transformation, die Unternehmen gerade durchlaufen, beim Thema Mobile Working: Jahrzehntelang galt Arbeiten außerhalb der Firma in Chefetagen bestenfalls als geduldet, um sich im Wettbewerb um die besten Talente alle Optionen offenhalten zu können. Doch die fortschreitende Digitalisierung mit technologischen Innovationen in Kommunikation und Mobilität, spätestens aber die Corona-bedingte Umsiedlung ins Home-Office, führen selbst bei konservativen Unternehmenslenkern zum Umdenken. Treiber für einen Richtungswechsel in der Unternehmenskultur sind vor allem junge Beschäftigte, die Angehörigen der Millennials und Generation Z, mit einer oft klaren Meinung von Arbeit. Sie arbeiten, um zu leben, nicht umgekehrt.

Großraumbüros, Bällebäder, Matetee und Yogakurse: alles schön und gut. Wollen Unternehmen neue Talente finden und halten, müssen sie den Bewerber:innen aber viel mehr zu verstehen geben, dass Flexibilität, Agilität und die individuellen Interessen der Angestellten keine Lippenbekenntnisse sind. New Work hat Organisationen einen neuen Maßstab aufgedrückt. Der sogenannte Cultural Fit ist für viele Personalentscheider künftig sogar grundlegend dafür verantwortlich, ob eine Organisation gedeiht oder nicht.

Bewerber hinterfragen die Arbeits- und Firmenkultur

Das sind Erfahrungen, die unser Unternehmen in zwanzig Jahren New Work gemacht hat; zu diesem Ergebnis kommen aber auch mehr und mehr Umfragen. Ende 2021 hatte das Bewertungsportal Glassdoor rund 1000 Deutsche und über 4000 weitere internationale Teilnehmer zum Stellenwert von Unternehmenskultur und -leitbild interviewt. Über 75 Prozent gaben an, sie würden im Vorfeld einer Bewerbung die Firmenkultur des potenziellen Arbeitgebers genau unter die Lupe nehmen.

Der Grund: Über die Hälfte der Befragten ist davon überzeugt, dass die Zufriedenheit im Job nicht primär vom eigenen Gehalt, sondern mehr von der Arbeitskultur im Unternehmen abhängig ist. Für Arbeitgeber, die ihr Recruiting sowie die Mitarbeiterbindung optimieren wollen, heißt das im Klartext: sie müssen eine Firmenkultur sowie ein Arbeits- und Wertesystem etablieren, mit dem sich Mitarbeiter:innen und Bewerber:innen identifizieren können.

Recruiting Trends 2022
Jon Stross: Greenhouse Software
„Einstellungsentscheidungen werden auf Basis von Daten und Fakten getroffen.“
Isabelle Hoyer, Employers for Equality
„Endlich verstehen immer mehr Unternehmen, wie wichtig gelebte Vielfalt ist.“
Barbara Zesik, Omio
„Der Fachkräftemangel ist allgegenwärtig und beschränkt sich nicht mehr auf einzelne technische Berufe.“
Vanessa Mauri Stephan, Coyo
„Wir veröffentlichen in den sozialen Medien Videosequenzen, in denen wir authentisch unseren Arbeitsalltag zeigen.“
Rebecca Clarke, Recruitee
„Die Corona-Pandemie hat vielen Unternehmen vor Augen geführt, an welchen Stellen sie ihre Kultur noch verbessern können.“
Julian von Blücher, Talent Tree
„Unternehmen sollten es Bewerbern so einfach wie möglich machen.“
Rabea Thies, Meister
„Wir haben in letzter Zeit die besten Talente über Events entdeckt.“

Arbeit und Privatleben neu austarieren

Doch wie kann das aussehen? Es kommt darauf an, die Balance zwischen Job und Privatleben - Stichwort Work-Life-Balance - richtig auszutarieren. Auch im Beratungsgeschäft hält deshalb zunehmend ein Verständnis Einzug, die Belange der Mitarbeitenden zu berücksichtigt.

Eine Auszeit, um neben der Beratung eine Ausbildung zur Skilehrerin zu machen, mehrere Monate remote von Italien zu arbeiten, Freitagnachmittags zum Wellenreiten, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen: Unternehmen brauchen eine neue Vorstellung davon, wie viel Freiraum sie Mitarbeitenden einräumen, damit diese ihren Interessen nachgehen können. Natürlich gilt, dass Ziele erreicht, Projekte beim Kunden abgeschlossen werden müssen. Umso wichtiger ist es, eine Kultur zu ermöglichen, die Mitarbeitenden in Absprache mit Kunden und Teams ermöglicht, ihre Zeit selbstständig planen zu können.

Eigenverantwortliches Arbeiten fördert die Motivation

Dieser Freiraum bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Job und Privatleben, sondern auch auf das Maß an Entscheidungsfreiheit, das Mitarbeitende genießen. Denn auch das ist ausreichend belegt: Mikromanagement tötet Motivation, selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Arbeiten hingegen fördert sie. Leitplanken statt Regeln lautet das Gebot der Stunde, um Mitarbeiter den nötigen Freiraum zu geben. Das fängt bei der Auswahl des eigenen Dienstwagens an und hört bei der Art und Weise auf, wie man ein Projekt führt. Hier zeigt sich, wie viel New Work wirklich in einem Unternehmen steckt.

Was ist das Geheimrezept, das einen guten Arbeitgeber ausmacht? Im Grunde ganz einfach: Jeder will, dass man ihm vertraut, ihn respektiert, ernst nimmt, nicht behindert und wahrnimmt - nicht als Nummer oder Ressource, sondern als Mensch. Arbeitgeber, die dies nicht nur verstanden haben, sondern auch in die interne Kommunikation, Führungsverhalten, Feedback-Gespräche, Entscheidungsprozesse, Gratifikationsprozesse etc. übersetzen, werden es in jeder Hinsicht leichter haben.

Natürlich ist das kein Freibrief für alle Mitarbeitenden. Damit New Work funktioniert, müssen auch sie einen Teil dazu beitragen. Arbeitgebende sind auf Mitarbeitende angewiesen, die nicht nur fachlich hervorragend sind, sondern die den Freiraum, der sich ihnen bietet, auch ausfüllen wollen und sich für ihre Aufgabe, ihre Kollegen und ein Stück weit für das Unternehmen verantwortlich fühlen. (pg)

Virtueller Roundtable "Hybrid Work"
Christian Malzacher, Bechtle
"Bei uns kommen immer noch primär technische Fragen an. Schließlich wird durch die Vielzahl der Anbieter die Beratung immer wichtiger, um den Technologie-Stack auch richtig zu orchestrieren. Verbunden mit organisatorischen Themen entstehen so ganzheitliche Change-Management-Prozesse."
Mark-Oliver Schuller, CGI
"Aktuell tendieren die Arbeitnehmer dazu, die Flexibilisierung langfristig behalten zu wollen, während die Arbeitgeber noch zwiegespalten sind. Einerseits lockt ein reduzierter Real-Estate-Footprint, andererseits droht Zusammengehörigkeit verloren zu gehen."
Martin Bauer, Cluster Reply
"In der Diskussion wird noch zu selten die Sinnfrage gestellt: Welchen Mehrwert bringt hybrides Arbeiten für mein Unternehmen? Es nützt nichts, wenn jedes Unternehmen plötzlich wie Spotify sein will. In einem Krankenhaus ist eine Flexibilisierung zum Beispiel schwierig."
Gregor Knipper, Jabra
"Bei global tätigen Unternehmen existieren hybride Arbeitsmodelle schon mehr als ein Jahrzehnt. Wenn Sie ortsunabhängig rekrutieren, dann entstehen Teams mit einem sehr hohen Skillset. Und wenn die Technik stimmt, dann kommt innerhalb dieser Teams auch ein richtiges Teamgefühl auf."
Markus Grüneberg, Okta
"Früher konnte man sich im Büro hinter der Büro-Firewall verstecken und war einigermaßen geschützt. Mit verteiltem und mobilem Arbeiten hat sich das geändert. Die Sicherheit findet heute auf der Ebene der Endgeräte und Mitarbeiter statt und diese werden hier häufig alleine gelassen."
Martin Kraus, ServiceNow
"Als der erste „Covid-Schock“ kam, hat vieles nicht funktioniert und wenn, dann hat der Datenschutzbeauftragte dazwischengefunkt. Viele Mitarbeiter haben sich selbst organisiert und die weniger IT-Affinen wurden in der Folge sozial ausgeschlossen. Dann kam nach dem ersten Lockdown die große „Zurück ins Büro“-Gegenbewegung. Dieser Drang hat jetzt wieder ein wenig nachgelassen."
Jens Reichardt, SPIRIT/21
"Die Dynamik eines Büros und den Faktor Zufall schaffen Sie nicht mit virtuellen Espressorunden, in denen man sich dann doch wieder nur teamintern trifft. Wir alle sind soziale Wesen und wollen mit anderen Menschen interagieren. Auf dieses Grundbedürfnis hin sollten Büros der Zukunft ausgerichtet sein."