Digitales Dilemma

Daran scheitern Unternehmen bei der digitalen Transformation

15.07.2022
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 
Die Notwendigkeit der digitalen Transformation ist unumstritten. Doch fast zwei Drittel der Unternehmen kommen mit der digitalen Transformation nicht voran.
Die Gründe, warum Unternehmen an der digitalen Transformation scheitern, sind vielfältig.
Die Gründe, warum Unternehmen an der digitalen Transformation scheitern, sind vielfältig.
Foto: TarikVision - shutterstock.com

Die Mitarbeiter sind unwillig oder unfähig mit anderen Abteilungen zusammenzuarbeiten, die IT ist zu komplex, es fehlt an Fachwissen - die Gründe, warum Unternehmen an der digitalen Transformation scheitern, sind vielfältig. Trotz hoher Investitionen gelingt es den Unternehmen häufig nicht, so die Roland-Berger-Studie "The digital dilemma - Why companies struggle to master digital transformation", ihre Organisation in eine einzige digitale Einheit zu verwandeln, in der Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Produkte und Maschinen in einem datengetriebenen Netzwerk miteinander verknüpft sind.

Mehr als zwei Drittel der Befragten gaben an, ihr Unternehmen begegne Herausforderungen im Wandel zur digitalen Organisation. Für die Studie wurden mehr als 50 Verantwortliche auf Vorstandsebene aus führenden Unternehmen zahlreicher Branchen befragt.

Die Ergebnisse der Studie fasst Jochen Ditsche, Partner bei Roland Berger, so zusammen: "Das 'digitale Dilemma', in dem sich Unternehmen befinden, die in ihrer digitalen Transformation nicht vorankommen, entsteht zumeist nicht durch technische Grenzen, sondern aufgrund von organisatorischen und strategischen Versäumnissen der Firmen. Oftmals schaffen es selbst wichtige digitale Initiativen nicht über den Status von Pilotprojekten hinaus". So gab etwa eine Führungskraft zu Protokoll, dass sein Team zwar mehr als 230 potenziell wichtige und wertvolle digitale Initiativen ausmachte, aber nicht in der Lage war, sie zu priorisieren, zu finanzieren oder durchzuführen.

IT-Systeme zu komplex

68 Prozent der Unternehmen sehen große Herausforderungen in der digitalen Transformation.
68 Prozent der Unternehmen sehen große Herausforderungen in der digitalen Transformation.
Foto: Roland Berger

Der Studie zufolge sehen sich 68 Prozent der Unternehmen mit dem digitalen Dilemma konfrontiert: Sie kommen mit der digitalen Transformation nicht gut voran - branchenübergreifend. Die Hauptgründe dafür sind fehlendes technologisches Know-how (62 Prozent) und eine unzureichende Verwaltung des digitalen Portfolios (46 Prozent).

60 Prozent der Befragten beschreiben zudem die IT-Systeme ihres Unternehmens als komplex, drei Viertel davon halten sie sogar für nicht mehr überschaubar. Nur sechs Prozent der Verantwortlichen geben an, ihre Systeme seien schlank und gut handhabbar. So verwundert es nicht weiter, dass Pilotprojekte häufig erfolgreich sind, aber ihr unternehmensweiter Rollout - sprich die Skalierung - dann an Legacy-Systemen scheitert. Oder das Management konzentriert sich auf die Einführung digitaler Geschäftsmodelle, aber die IT-Abteilung ist nicht in der Lage, mit den Innovationen Schritt zu halten.

Cloud-First-Strategien enttäuschen

Bei der digitalen Transformation offenbart sich im Zusammenhang mit der IT noch ein weiteres Dilemma. War es in der Vergangenheit gängige Praxis die wachsende Komplexität der IT-Installation mit der Installation einer neuen Software-Generation zu bekämpfen, bis diese ebenfalls zu komplex wurde, so hoffen heute viele Führungskräfte diesen Kreislauf mit Cloud-first-Anwendungen zu durchbrechen.

So haben sich insgesamt 63 Prozent der Befragten einer Cloud-First-Strategie verpflichtet. Der Weg dorthin ist jedoch nicht einfach. Cloud-first-Anwendungen sind in der Regel teuer. Des Weiteren werden sie oft nicht strategisch implementiert. Ferner versäumten es die Unternehmen häufig, einen effizienten Cloud-Betriebsmodus zu planen.

In der Praxis gehen die Erwartungen der Unternehmen an die Cloud-first-Strategie über die reine Skalierbarkeit und Kostensenkung hinaus, sie wünschen sich kürzere Innovationszeiten. Außerdem erhoffen sie sich innovative Produkte und Dienstleistungen für ihr eigenes Geschäft, ohne hohen Investitionsaufwand. Soweit die Theorie, die Realität sieht jedoch anders aus: Viele Unternehmen sehen ihre Kosten steigen - also das Gegenteil von dem, was sie sich erhofft hatten.

Unwillige Mitarbeiter

Eine weitere Hürde bei der digitalen Transformation ist oft die Belegschaft der Unternehmen und deren fehlende Agilität. 69 Prozent der Befragten zufolge seien ihre Teams nicht in der Lage, abteilungsübergreifend zusammenzuarbeiten, sei es mangels der richtigen Fähigkeiten oder aufgrund der Firmenkultur.

Roland-Berger-Partner Ditsche fordert deshalb bei den Führungskräften "das Bewusstsein, dass die digitale Transformation zuerst ein Umdenken der Belegschaft erfordert, für das geworben werden muss" Zudem geben 70 Prozent an, dass ihnen mindestens drei technologische Expertisen im Unternehmen fehlen. Fachleute, die von den Führungskräften am stärksten gesucht werden, sind: Enterprise Architects (77 Prozent), Data Scientists (60 Prozent) und Back-end Developer (57 Prozent). Gleichzeitig sind solche Experten auf dem angespannten Arbeitsmarkt kaum verfügbar. Und es wird immer schwieriger, die Mitarbeiter mit diesen Expertisen zu halten.

Vier Säulen der digitalen Transformation

Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse empfehlen die Studienautoren, die digitale Transformation auf vier Säulen aufzubauen. Zunächst gelte es, eine gemeinsame Geschäfts- und Digitalstrategie zu entwickeln, bei der die IT-Verantwortlichen von Beginn an in den Prozess einbezogen werden. So könnten Silos innerhalb des Unternehmens aufgebrochen werden.

Der nächste Baustein ist, so die Autoren, ein effektives operatives Modell. Um erfolgreich zu sein, müssten die Organisationen agil aufgestellt und alle Prozesse aufeinander abgestimmt werden. Ein entscheidender Punkt sei dabei die frühe Einführung von Portfolio-Management-Gremien, die Ressourcen zuweisen und alle digitalen, geschäftlichen sowie IT-Prozesse führen.

Weiterhin sollte sich die Personalpolitik auf die Aktivierung, Gewinnung und Bindung von Mitarbeitern konzentrieren. Dabei könne beispielsweise eine jährlich aktualisierte Human Intelligence Map helfen, die den Bedarf und das Angebot an kritischen Fähigkeiten aufzeigt. Damit könnten drohende Lücken identifiziert und frühzeitig in Fortbildungen oder zusätzliche Stellen investiert werden. Letztlich sei zudem eine schlanke Unternehmens- und Datenarchitektur, die modular aufgebaut und passgenau auf die Bedürfnisse des Unternehmens zugeschnitten ist, von großer Bedeutung.

Die vollständige Studie ist hier zum Download zu finden.