Interview mit Deutschland-Chef von Spencer Stuart

„In Europa gibt es kein Silicon Valley“

24.11.2023 von Hans Königes
Erfolgreiche Softwareunternehmen sind in Europa die große Ausnahme. Doch was sind die Gründe und was muss sich auf der Führungsebene tun? Lars Gollenia, IT-Experte und Deutschland-Chef der Top-Executive-Search-Firma Spencer Stuart, liefert Antworten.
Lars Gollenia, Spencer Stuart: "Die CEOs der europäischen Softwareunternehmen müssen sich stärker und sichtbarer auf dem Talentmarkt präsentieren."
Foto: Spencer Stuart

Warum hinkt die europäische Softwareindustrie ihrem US-amerikanischen Pendant hinterher?

Lars Gollenia: In der Tat, Europa verfügt über einen großen Binnenmarkt, weltbekannte Universitäten und Forschungseinrichtungen und ein reiches industrielles und technisches Erbe. Doch im Verhältnis zur Größe seiner Wirtschaft existieren nur wenige börsennotierte europäische Softwareunternehmen. Dies ist umso auffälliger, wenn man den Blick in die USA wendet. Europäische Softwareunternehmen waren in der Vergangenheit anfällig für Übernahmen. Erschwerend hinzu kamen ein gedämpftes Investitionsklima, ein fragmentiertes Regulierungssystem sowie ein erbitterter Kampf um globale Talente, insbesondere mit der US-Konkurrenz.

Darüber hinaus gibt es vielschichtige Gründe, etwa kultureller Natur: Die Themen "Gründen" und "Scheitern" werden in Europa ganz anders wahrgenommen. Die Gründung eines eigenen Unternehmens ist automatisch mit dem Risiko des Scheiterns verbunden. Diese Risikobereitschaft ist in den USA traditionell viel stärker ausgeprägt. Scheitern wird nicht als negativ empfunden, sondern vielmehr als Bestandteil des Unternehmertums. Erfolgreiche Unternehmer werden als Vorbilder gesehen. Qualifizierte Talente haben keine Angst, etwas zu beginnen. Wenn sie scheitern, ist das in Ordnung, sie gehen zum nächsten Projekt über und geben sich noch mehr Mühe, ein Projekt zum Erfolg zu führen. In Deutschland wächst hingegen schnell der Neid auf unternehmerischen Erfolg.

Gibt es darüber hinaus marktspezifische Unterschiede?

Gollenia: Der US-Markt ist riesig. Trotzdem verfügen alle Marktteilnehmer über eine einheitliche Sprache und eine einheitliche Kultur. Und es herrschen die gleichen Regularien. Das Wirtschaftssystem der USA bietet einen einfacheren und schnelleren Zugang zu Risikokapital. Die USA verfügen über einen riesigen Binnenmarkt und einen damit verbundenen großen Talent-Pool. Es ist möglich, Unternehmen von bedeutender Größe aufzubauen, bevor man überhaupt über eine internationale Expansion nachdenken muss.

Gründen in Europa ist eine komplexe Angelegenheit

Das ist in Europa ganz anders. Hier sind die Voraussetzungen viel diverser und es ist erschwerend für die Unternehmen, vor allem junge, die sich erst noch am Markt etablieren müssen. Dies erhöht die Kosten für die Geschäftsabwicklung und die Anpassung der Software. Dazu kommt die Komplexität der Übersetzung, die Notwendigkeit, die Software an verschiedene Länder anzupassen - nicht nur die Sprache, sondern auch Datenschutz, Währung und andere Dinge. Anders formuliert: Je standardisierter die Lösung und je homogener der Markt, desto einfacher das Wachstum.

Das Thema "Risikokapital" wird oft genannt.

Gollenia: Natürlich spielt auch der in Europa schwierigere Zugang zu Risikokapital eine entscheidende Rolle, ebenso wie zu anderen Ressourcen. Mitunter herrscht auch ein Mangel an Verständnis für die spezifischen Probleme, mit denen Softwareunternehmen konfrontiert sind. Investoren mangelt es oft an detaillierten Softwarekenntnissen. Sicherzustellen, dass sie beispielsweise das Geschäftsmodell verstehen, ist alles andere als einfach.

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Toptalente zieht es oft in die USA

Die Suche nach Talenten wird schnell international, doch viele gut ausgebildete Menschen zieht es in die USA. Und so wandert neben finanziellem auch viel intellektuelles Kapital über den Atlantik.

Was müssen Führungskräfte europäischer Softwareunternehmen tun, um deren Potential zu entfalten?

Gollenia: Zusammengefasst: Europas Softwareführer müssen Stabilität und Orientierung schaffen, aber auch die Motivation und das Engagement, die nötig sind, um die Innovation, das Talent und den unternehmerischen Schub zu nutzen, die innerhalb ihrer Grenzen vorhanden sind.

In USA: Besseres Nebeneinander von Uni und Wirtschaft

Es fällt allerdings auf, dass sich europäische Softwareunternehmen viel zu selten in direkter Nachbarschaft zu Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen ansiedeln. In den USA ist ein direktes Nebeneinander von Wirtschaft und Wissenschaft selbstverständlich. Die Wege für qualifizierte Talente von der Universität ins Unternehmen sind kurz. Egal ob sie als Angestellte in ein bereits existierendes Unternehmen eintreten oder ob sie ein eigenes Start-up gründen. Ein Silicon Valley ist dazu in der Lage, Talente anzuziehen und eine Karriere im Softwarebereich zu eröffnen. In Europa fehlt eine vergleichbare Region.

Hier müssen europäische Unternehmenslenker einen viel stärkeren Beitrag leisten. Die CEOs der europäischen Softwareunternehmen müssen sich stärker und sichtbarer auf dem Talentmarkt präsentieren. Auch muss das klassische und überkommene Bild vom "Software-Geek" überarbeitet werden.

Muss man generell früher ansetzen, um junge Menschen für das Thema "Software/IT" zu begeistern?

Gollenia: Um Talente frühzeitig zu entdecken und Interesse an einer eigenen unternehmerischen Karriere zu fördern, muss das Fach "Software" oder "Informatik" noch stärker an den Schulen gelehrt werden. Das klingt einerseits selbstverständlich, scheitert aber häufig an der technischen Ausstattung der Schulen oder der mangelnden Befähigung des Lehrkörpers. Es kann nicht sein, dass Schüler ihren Lehrenden die Materie erklären müssen.

Welche Fähigkeiten brauchen künftige Führungskräfte in der IT und wie sieht Führung in Zukunft aus? Wie lassen sich qualifizierte Mitarbeiter gewinnen und halten und welchen Stellenwert hat Diversität?

Gollenia: Führung lässt sich nicht alleine durch Fachkompetenz beschreiben. Heutzutage müssen Führungskräfte in der Lage sein, Menschen mit verschiedenen Charakteren oder aus unterschiedlichen Kulturen zu einem erfolgreichen Team zusammenzuschweißen. Es geht darum, diverse Teams zu installieren, die sich erfolgreich von ihren Mitbewerbern unterscheiden.

Die Entwicklungszyklen im Softwaresegment werden immer kürzer. Führungskräfte müssen zeitnah auf Veränderungen reagieren. Dies erfordert eine hohe Agilität und ein gutes Augenmaß sowie die Fähigkeit, die richtigen Themen zu adressieren und schnell zu erkennen, welche Ideen kommerzialisiert werden können? Die klassische "Drei Jahres-Strategie" hat ausgedient.

Wird Führung also immer komplexer?

Gollenia: Es gibt heutzutage nicht mehr den einen richtigen Führungsstil. Zweck und Branche bestimmen den passenden Stil, ebenso die Verfügbarkeit von Talenten. Wie entscheidungsfreudig sind Führungskräfte? Wie gehen Führungskräfte mit ihren eigenen Ängsten um, etwa das richtige Thema zu verpassen, oder mit den Ängsten ihrer Mitarbeiter?

Herausforderung Diversität

Auch die Gewinnung von Frauen als Fach- und Führungskräfte in der Softwareindustrie wird ein immer wichtigerer Bestandteil von moderner Führung. Die Teams der Zukunft sind divers. Für Frauen existieren immer noch zu viele Hürden auf dem Weg in eine Führungsposition.

Die Zeit der hierarchischen Führung ist vorbei. Heute haben sich eher empathische Führungsstile etabliert, also Leader, die die Stärken ihrer Mitarbeiter fördern. Denn diese Mitarbeiter sind häufig gut ausgebildete Akademiker mit einer eigenen fundierten Meinung. Diese können nicht autoritär geführt werden. Soft Skills werden immer entscheidender. Führungskräfte müssen ihre Mitarbeiter inspirieren, motivieren, mit ihnen zusammenarbeiten. Und sie müssen sich selbst hinterfragen: "Was kann ich besser machen?"

Was empfehlen Sie?

Gollenia: Führungskräfte können Mitarbeiter gewinnen, indem sie erklären, wie die Branche einige der schwierigsten Geschäftsprobleme lösen und gleichzeitig durch die Vereinfachung des Alltags einen enormen Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel leisten kann.

Die Softwareindustrie kann auch zu mehr Nachhaltigkeit beitragen, indem sie die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften sicherstellt, nicht erneuerbare Energiequellen überwacht und zur Minimierung von Emissionen beiträgt. Gerade von CEOs börsennotierter Unternehmen wird heutzutage erwartet, dass sie zu geopolitischen und sozialen Themen öffentlich Stellung beziehen.

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