Wir schreiben das Jahr 1995 - ein sonniger Juni-Tag in Boston, USA. Ich betrete ein Appartement, die Platzverhältnisse sind beengt, die Einrichtung stünde auch einer Hausbesetzer-Kommune gut zu Gesicht. Zwischen den Bergen der ganz normalen Abbauprodukte des alltäglichen Lebens finden sich immer wieder kleine Grüppchen junger Männer. Auf dem Küchentisch macht sich ein 15-Zoll-Röhrenbildschirm breit, der mit einem offenen PC Case verheiratet wurde. Die Rückseite wird dominiert von einem Netzwerkkabel-Strang, der zu einem Hub im Wohnzimmer führt. Auf dem Bildschirm ein Datenwust, Logfile-Überreste und am Bildschirmrand eine in schimmerndem rot und blau dekorierte Bash-Root-Meldung.
Ich kannte Unix und hatte auch einige Zeit mit verschiedenen kommerziellen Unix-Systemen wie OSF/1, HP-UX, SunOS und Sun Solaris verbracht. Aber das hier ist etwas ganz anderes: Das System auf dem Küchentisch ist ein Server - inklusive File Storage, DNS und Web Serving über eine Einwahlverbindung. Natürlich ist der Server auch mit dem halben Dutzend Systeme, die überall in besagtem Appartement verteilt sind, verbunden. Vor den meisten dieser Systeme sitzen Jugendliche und junge Erwachsene - völlig ergriffen und eingenommen von der virtuellen Aktivität um das Betriebssystem, das aus der Küche kommt.
Wenn Sie sich jetzt fragen, was die Jungspunde da eigentlich treiben: Sie schreiben Code für den Linux-Kernel und die GNU-Userspace-Anwendungen drumherum. Zu dieser Zeit ist die Szene auf der ganzen Welt aktiv, denn Informatik-Studenten und Computing-Nerds haben ein spannendes, neues Spielzeug für sich entdeckt: ein kostenloses Unix-Betriebssystem. Es ist zu dieser Zeit gerade ein paar Jahre alt und wächst unaufhörlich. Dass die juvenilen Coding-Nerds mit ihrem Tun gerade die Welt verändern, soll erst Jahre später klar werden.
Vom Hobby-OS zum Open-Source-Rausch
Die 1990er Jahre sind eine ziemlich geschichtsträchtige Zeit für die IT-Branche: Im Jahr 1993 legen die Bell Labs Unix System Laboratories und Berkeley Software Design Inc. einen Rechtsstreit wegen Urheberrechtsverletzungen außergerichtlich bei - und machen so den Weg frei für Open-Source-Varianten des Betriebssystems BSD. Das soll die Tech-Community in den Folgejahren wesentlich prägen und inspirieren.
Das Timing der außergerichtlichen Einigung hätte nicht besser sein können: Ein finnischer Universitäts-Student namens Linus Torvalds hatte bereits 1991 damit begonnen, seinen eigenen, persönlichen Kernel zu entwickeln. Torvalds selbst wird später sagen, dass er sich diesem Projekt wahrscheinlich nie gewidmet hätte, hätte das BSD-OS bereits zu jener Zeit kostenfrei zur Verfügung gestanden. Als der Rechtsstreit um BSD geklärt ist, steckt Linux bereits im Geburtskanal und wird von genialen Köpfen begrüßt, die dafür sorgen werden, dass dieses Betriebssystem heute einen Großteil unserer Welt antreibt.
Die Entwicklungsgeschwindigkeit legt daraufhin schnell zu: Die Userspace-Anwendungen, die um den GNU-Kernel herum gebaut werden, bilden schließlich das, was die meisten Leute heute umgangssprachlich als "Linux" bezeichnen - sehr zum Leidwesen von GNU-Erfinder Richard Stallman. Zuerst ist Linux die Domäne von Hobby-Bastlern und Idealisten, dann beginnt die Supercomputer-Industrie sich für die Open-Source-Software zu interessieren und trägt sie in den "IT-Mainstream".
Im Jahr 1999 kommt das "Hobby-OS" bereits in zahlreichen Großunternehmen - zum Beispiel aus dem Finanzwesen - zum Einsatz und gräbt den etablierten Playern das Wasser ab. Viele Unternehmen haben bis dahin exzessiv in Hardware und Software von Anbietern wie Sun Microsystems, IBM oder DEC investiert und fangen jetzt an, begabte Entwickler und System-Architekten zu verpflichten, die die letzten Jahre ihres Lebens den kostenfreien Linux-Distributionen gewidmet haben.
Nachdem die Nachweise in Sachen Performance und Kostenreduktion gegenüber dem Management erbracht sind, entwickelt sich das "Wasser abgraben" zu einer Axt-Attacke: Innerhalb einiger, weniger Jahre schafft es Linux, den kommerziellen Unix-Händlern tausende von Stammkunden abzujagen. Es ist der Beginn eines Open-Source-Rausches, der bis heute anhält.
Mit Elastizität und Code-Sharing zum Durchbruch
Die Fehlannahme über Linux, dass es sich dabei um ein vollständiges Betriebssystem handle, hält sich bis heute. Denn im eigentlichen Sinn bezeichnet der Ausdruck Linux nur den Linux-Kernel. Die Anbieter einer bestimmten Linux-Distribution wieRed Hat oder Ubuntu definieren, welche Teile des Betriebssystems um den Kernel herum erhalten bleiben und komplettieren somit das OS. Jede Distribution besitzt dabei ihre Eigenheiten und verwendet spezifische Methoden für alltägliche Aufgaben wie Service Management, Dateipfade oder Konfigurations-Werkzeuge.
Diese Elastizität ist es, die Linux mit einem solchen Nachdruck in diverse IT-Facetten eindringen lässt: Ein Linux-System kann genau so groß - oder klein - sein, wie es sein soll. Adaptionen des Linux-Kernels können also sowohl einen Supercomputer antreiben, als auch eine Smartwatch oder einen Netzwerk-Switch. Auch deswegen ist Linux inzwischen DAS Betriebssystem für Mobile und Embedded Devices und bildet daneben auch die Basis für den Großteil der Internet Services und -Plattformen.
Um auf diese Weise wachsen zu können, musste Linux sowohl das Interesse der besten Software-Entwickler aufrechterhalten als auch die Herausbildung eines Ökosystems forcieren, das auf dem Grundsatz des gegenseitigen Code-Sharing aufbaut. Der Linux Kernel wird unter der GNU Public License Version 2 Mitte 1991 veröffentlicht. Die Lizenzvereinbarung besagt damals, dass der Code zwar frei verwendet werden darf, jegliche Veränderungen (oder die Benutzung des Quellcodes in anderen Projekten) aber ebenfalls zur freien Verfügung gestellt werden müssen.
Daraus entsteht in der Folge ein blühendes Ökosystem für Entwickler, das Linux immer weiter wachsen und gedeihen lässt. Die zunächst lose zusammengeschlossenen Developer beginnen damit, Linux an ihre Bedürfnisse und Gewohnheiten anzupassen und teilen die Früchte ihrer Arbeit untereinander. Wenn der Kernel beispielsweise ein bestimmtes Device nicht unterstützt, kann ein Entwickler kurzerhand einen Gerätetreiber schreiben und ihn mit der Community teilen, so dass jedermann davon profitiert. Dasselbe Verfahren wird auch bei Performance-Problemen oder Bugs angewandt. Das Linux-Projekt wird so von tausenden, miteinander vernetzten Freiwilligen (weiter)entwickelt.
Die Enterprise-Linux-Revolution
Diese Art der Entwicklung passt nicht zu den etablierten Praktiken der Branche. Die Anbieter kommerzieller Betriebssysteme sehen Linux als Spielzeug, als Modeerscheinung, als Witz. Schließlich arbeiten die besten Entwickler an ihren - oft mit Hardware verbundenen - Betriebssystemen
Für diejenigen, die eine der kommerziellen Unix-Kathedralen von Sun, DEC oder IBM im Einsatz haben, sind Dinge wie Quellcode-Sharing oder die Bewältigung von Enterprise-Aufgaben mit handelsüblicher Hardware schlicht undenkbar. Das macht man bis dahin einfach nicht. Erst mit dem zunehmenden Erfolg von Unternehmen wie Red Hat und Suse beginnt das Umdenken. Denn diese ehemaligen Start-Ups bieten genau das, was viele Kunden und Anbieter brauchen: eine kommerzielle Linux-Distribution.
Die Entscheidung, Linux im Unternehmensumfeld einzusetzen, wird allerdings nicht etwa deshalb getroffen, weil das OS kostenlos ist: Wenn man einer großen Finanzinstitution in Aussicht stellt, ihre Serverkosten - bei gleichbleibender oder sogar höherer Performance und Zuverlässigkeit - um 50 Prozent zu reduzieren, ist einem Aufmerksamkeit gewiss.
Das Ökosystem wächst
Da Linux auch als Grundstein vieler Websites dient, wächst das Ökosystem immer weiter: In den vergangenen zehn Jahren hält Linux in so gut wie jeder Spielart des Computing Einzug und trägt so auch den Open-Source-Gedanken weiter. Hierdurch wird Linux zum Eisbrecher für tausende anderer Open-Source-Projekte, die es teilweise ohne diesen Support nicht geschafft hätten.
Und doch ist die Geschichte von Linux viel mehr als nur die Erfolgsstory eines offenen Kernels und Betriebssystems: Es ist von entscheidender Bedeutung, zu verstehen, dass große Teile der Software und Services, die wir heute wie selbstverständlich nutzen, ohne den Erfolg von Linux gar nicht existieren würden.
Jeder, der die Tage erlebt hat, als Linux ein verbotenes Wort war und Open-Source-Software vom Management als Bedrohung empfunden wurde, weiß, wie beschwerlich dieser Weg war. Das Umdenken, das Linux in Gang gesetzt hat, hat die Welt Schritt für Schritt verändert und gezeigt, dass Open-Source-Software für den technologischen Fortschritt unabdingbar ist.
Microsofts Open-Source-Kurswechsel
Die ersten 15 Jahre der Linux-Geschichte sind also ziemlich bewegt - die letzten zehn allerdings noch ein bisschen mehr. Denn der durchschlagende Erfolg von Googles Android-Plattform bringt Linux auf mehr als eine Milliarde Devices. Inzwischen kann man fast den Eindruck gewinnen, dass jede noch so kleine Ecke unseres digitalen Lebens auf einem Linux-Kernel läuft - egal ob es dabei um Kühlschranke, TV-Geräte oder die Thermostate auf der Internationalen Raumstation geht.
Microsoft hat den langen Kampf gegen Linux inzwischen aufgegeben und im Rahmen des Anniversary Updates für Windows 10 den Ubuntu Bash fest in sein Betriebssystem integriert. Diese Erweiterung ermöglicht die Nutzung von Linux-Befehlen unter Windows. Aber nicht nur in Sachen Client-Betriebssystem geht Microsoft neue Wege in Sachen Open Source: Linux ist über Windows Server virtualisierbar und zahlreiche Linux-Images sind inzwischen in Microsoft Azure integriert (zum Beispiel auch Red Hat Enterprise Linux). Das ermöglicht Unternehmen, Windows und Linux parallel zu nutzen und enger miteinander zu verknüpfen.
Microsofts Kurswechsel unter Satya Nadella hat den einfachen Grund, dass eine Zusammenarbeit mit dem Open-Source-System effizienter und nutzbringender ist - schließlich hat der jahrelange Kampf keine Vorteile gebracht und eine Vielzahl von Serverdiensten läuft unter Linux schlicht besser. Dabei hat sich der Windows-Riese nicht nur Linux geöffnet - sondern der Open-Source-Welt ganz generell: Unter anderem stellt das Unternehmen inzwischen sowohl das .NET-Framework als auch Visual Studio für Softwareentwickler quelloffen und kostenlos zur Verfügung.
Linux-Entwickler auch schonmal im Clinch
Innerhalb der Linux-Community entstehen auf regelmäßiger Basis Abspaltungen und Probleme - nicht nur, wenn es um den Desktop-Einsatz geht. Das "brouhaha surrounding system" ist ein Beispiel - ebenso wie die Streitereien um die Mir-, Wayland- und die veralteten X11-Display-Server. Die Entwicklung, dass einige Distributionen im Namen der Benutzerfreundlichkeit zu viel vom eigentlichen Betriebssystem abstrahieren, hat bei zahlreichen Linux-Nutzern für Verdruss gesorgt. Glücklicherweise ist Linux aber immer genau das, was man daraus macht und die unterschiedlichen Ansätze der verschiedenen Linux-Distributionen sprechen unterschiedliche Nutzertypen an.
Diese Freiheit ist jedoch ein zweischneidiges Schwert: Schlechte technologische und funktionale Entscheidungen haben in der Vergangenheit bereits mehr als ein Unternehmen "das Leben" gekostet, das populäre Desktop- oder Server-Produkte in eine Richtung entwickelt hat, die die User vor den Kopf stößt. Wenn eine Linux-Distribution von solchen Entwicklungen zurückgeworfen wird, kommen eben andere Distributionen mit einem neuen oder anderen Ansatz. Dabei sind die die Distributionen nicht direkt mit der Kernel-Entwicklung verbunden - sie können also "kommen und gehen", ohne dass die Kernkomponenten des Betriebssystems davon betroffen ist. Der Kernel selbst ist übrigens so gut wie immun gegen schlechte Entscheidungen auf Distributions-Level.
Die Geschichte von Linux ist insbesondere geprägt von Anpassungsfähigkeit: Das Open-Source-OS passt sich jeder Art von Bedürfnissen an - egal ob es dabei um virtuelle Server, Cloud-Instanzen oder Mobile Devices geht. Der Erfolg des Linux-Kernels und des Entwicklungs-Modells ist nicht zu verleugnen und wird weiterhin die Stellung halten - während rundherum weiter Giganten entstehen. Und untergehen.
Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag unserer US-Schwesterpublikation infoworld.com.