Die deutsche Autoindustrie steht weiterhin vor entscheidenden Umbrüchen: Während vor einigen Monaten nicht wenige Industrie-Kenner die Marke "Made in Germany" in Gefahr sahen, fordert die Digitalisierung OEMs und Zulieferer auf sämtlichen Ebenen: Neue Geschäftsmodelle und der Wandel der Mobilität stellen die bewährten Geschäftsmodelle auf den Kopf. Dass die Kundschaft heute stark individualisierte und genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Produkte erwartet, stellt dabei auch die traditionell eher starren Fertigungsprozesse der Industrie vor Herausforderungen.
Entscheidend für die Zukunft von Audi, BMW und Mercedes wird jedoch sein, wie die Konzerne den Umstieg auf alternative Antriebe meistern. Insbesondere wenn es darum geht, die komplexen Elektro-, Hybrid- und Wasserstoff-Antriebe möglichst effizient und reibungslos in den Montageprozess zu integrieren. Die Konkurrenz im Segment der Benzin- und Diesel-Alternativen schläft nicht. Dabei sollte man allerdings nicht nur an Tesla, sondern auch an Konzerne wie Nissan denken. Die Japaner sind dank ihres - bereits seit 2010 produzierten - "Leaf" aktueller Marktführer im E-Auto-Segment.
Um die Entwicklung eigener, ressourcenschonender Antriebe und Modelle vorantreiben zu können, ist es für die deutschen OEMs wiederum von zentraler Bedeutung, Kosten einzusparen. Erhebliches Potenzial sehen die deutschen "Big Three" dabei in der Automatisierung und Vernetzung ihrer Prozesse und Produkte auf der Grundlage von Daten. Mit unterschiedlichen Konzepten suchen sie deshalb nach dem Königsweg zur Fabrik der Zukunft. Im folgenden Video bekommen Sie einen ersten Überblick, wie man sich diese bei Audi vorstellt:
Das Herzstück von Audis Smart Factory ist ein Konzept, das ein inzwischen ehemaliger Mitarbeiter der Innovationsmanagement-Abteilung erarbeitet hat. Fabian Rusitschka ist heute CEO der Arculus GmbH - einem Start-Up, das vor kurzem unter Beteiligung der Audi AG entstanden ist. Das Konzept des Gründers ist nach Angaben des Großkonzerns die Grundlage für die "vierte industrielle Revolution". Denn möglicherweise habe in der Smart Factory "irgendwann auch das Fließband als serieller Taktgeber ausgedient", meint Dr. Hubert Waltl, Vorstandmitglied und verantwortlich für Produktion und Logistik bei Audi.
Modulare Fertigung: Die 4. Industrielle Revolution?
In der Fabrik der Zukunft soll nach der Vorstellung Audis die Modularisierung der Automobil-Montage verwirklicht werden. Fahrerlose Transportsysteme (FTS) verbringen hier die entsprechenden Karosserie-Teile automatisiert zu Arbeitsstationen - und zwar bedarfsgerecht. So wird sichergestellt, dass das System mit maximaler Effizienz und Produktivität arbeitet. Die Tauglichkeit seines Smart-Factory-Konzepts hat Arculus-CEO Rusitschka, damals noch in Diensten von Audi, erstmals mit Hilfe einer kleinen Armee von Staubsaugerrobotern und einem Smartphone erprobt.
Die modulare Fertigung soll in Zukunft zentrale Probleme der Autoproduktion lösen: Bisher führt der starre Fertigungsprozess am Fließband in vielen Fällen zu Leerlaufzeiten. Beispielsweise wenn werksseitige Sonderausstattungen oder alternative Antriebe montiert werden müssen. So verlängert sich für alle Autos die Produktionsdauer - und die Kosten steigen. In Zukunft sollen die autonom fahrenden FTS, die mit Hilfe eines Funksystems auf wenige Zentimeter genau geortet und von einem zentralen Rechner gesteuert werden, die entsprechenden Teile automatisiert an Fertigungsinseln transportieren, wo Mensch und Roboter kooperieren. Für die Arbeiter bringt das nach Sicht von Audi wiederum zwei Vorteile: den Fließbandtakt und die entfallenen Wege am Band.
Das Rechnergehirn der modularen Fertigungsvision überwacht den Produktionsprozess fortwährend und sorgt für eine "seamless experience" in der Montagehalle, wo das Motto "just in time" zum neuen Standard wird. Die Belastung der jeweiligen Arbeitsstation erkennt das System und leitet die FTS bei "Staugefahr" nach Möglichkeit zu anderen Stationen um. Von diesem Konzept der bedarfsgerechten, fließbandlosen Fertigung verspricht sich Audi gegenüber dem bewährten System nach offizieller Verlautbarung eine Produktivitätssteigerung von "mindestens 20 Prozent". Bei steigender Variantenvielfalt seien noch größere Sprünge zu erwarten. Demnächst wird die Arculus GmbH ihr Konzept der modularen Fertigung im Rahmen eines Testlaufs im ungarischen Audi-Werk in Györ erstmals zum Einsatz bringen - weitere Testläufe in anderen Werken sind ebenfalls geplant.
Die fahrerlosen Transportsysteme, die beim Konzept der modularen Fertigung zum Einsatz kommen, funktionieren im Übrigen auf Basis der gleichen Navigationssoftware und Sensorik, die Audi im Bereich des autonomen respektive pilotierten Fahrens verwendet. Sie sind bereits im Serieneinsatz und transportieren Fahrzeug-Großteile an die Montagelinien. Und wenn Sie sich fragen, ob die modulare Fertigung mit ihrem KI-gesteuerten Gehirn auch entsprechend abgesichert ist: Waltl versicherte auf Nachfrage, dass die IT-Sicherheit bei Audi eine zentrale Rolle im Entstehungsprozess technologischer Innovationen einnehme und man in diesem Bereich deshalb sowohl auf die Unterstützung interner als auch externer Spezialisten setze.
Produktion mit Wearables, Drohnen & 3D-Druck
Doch die Innovation kommt bei Audi nicht nur von externen Partnern wie Arculus: Das Audi Production Lab - im "Insider-Jargon" auch P-Lab genannt - ist eine Art Innovationsabteilung, in der sich fünf Mitarbeiter mit neuen Technologien und deren möglichem Praxiseinsatz befassen. Hierbei steht nach Aussage von Audi die Start-Up-Mentalität im Vordergrund: Viel Kreativität, viele Experimente, keine Angst vor Fehlern. So treiben die P-Lab-Mitarbeiter den Einsatz zahlreicher neuer Technologien im Konzern voran - meist erst einmal im Rahmen von Pilotprojekten. Dabei zählen sie auch auf Kooperationen mit zahlreichen Partnern aus der Technologie-Branche - zum Beispiel wenn es um Wearables geht. Die werden bereits seit längerem in der Industrie eingesetzt - auch bei den OEMs: BMW setzt beispielsweise inzwischen in mehreren Werken auf smarte Arbeitshandschuhe und beim US-Autobauer Tesla gehören Datenbrillen zum täglichen Bild in der Fertigung.
In der Fabrik der Zukunft von Audi sollen Wearables und insbesondere Datenbrillen sowie AR-, VR- und MR- (Mixed Reality) Headsets ebenfalls eine wesentliche Rolle spielen. Im ungarischen Werk in Györ stattet Audi Mitarbeiter in der Motorenmontage mit Datenbrillen von Google aus. Diese sollen bei der Montage der hochkomplexen Antriebe mit vielen hundert Kleinteilen - die sich noch dazu teilweise zum Verwechseln ähnlich sehen - unterstützen. Das geschieht zum Beispiel durch die Einblendung von Trainingsvideos und Schritt-für-Schritt-Anleitungen - und verleiht der Motorenmontage Videospiel-Charakter.
Der Nachweis, dass diese Art der Montage zu mehr Produktivität führt, steht indes noch aus. Neben Google Glass setzt Audi auch Microsofts Hololens und HTCs VR-Brille Vive in Testprojekten ein: Mit Hololens könnten künftig ganze Karosseriebauanlagen detailliert im virtuellen Raum in Teamarbeit geplant werden. Und die HTC Vive, kombiniert mit einem Rucksack-PC, könnte bei der VW-Tochter in verschiedensten Bereichen zum Einsatz kommen - von der Qualitätssicherung bis hin zum Mitarbeitertraining.
Ein weiterer interessanter Anwendungsfall ist der Einsatz von Drohnen in der Smart Factory. Die könnten künftig automatisiert Teile transportieren, die kurzfristig bei Nachbestellungen - etwa wenn kurz vor der Montage ein Kratzer im Lack der Dachantennen bemerkt wird - benötigt werden. Audi hat einen solchen Einsatz bereits getestet, wegen der strengen rechtlichen Regularien beim Einsatz von UAVs (Unmanned Aerial Vehicles) allerdings nur außerhalb der Produktionszeiten und innerhalb der Werkshallen. Da die Navigation in einer Werkshalle einer Autofabrik wegen zahlreicher dynamischer Hindernisse eine Herausforderung darstellt, sind die Testdrohnen - Audi kooperiert auf diesem Feld unter anderem mit Intel - mit einer intelligenten Sensorik ausgestattet. Derzeit stellen die strengen Arbeitssicherheitsbestimmungen ein weiteres Hemmnis beim Einsatz von Drohnen in der Fertigung dar. Wenn die Rechtslage geklärt ist, könnten die fliegenden Helfer sich aber nicht nur bei Transportaufgaben als nützlich erweisen, sondern auch, wenn es um komplizierte Montage-, Reparatur- oder Wartungsarbeiten geht. Im Bereich der physischen Sicherheit könnten Drohnen ebenfalls einen Mehrwert bieten - beispielsweise für den schnellen Transport von Defibrillatoren.
Der Einsatz von Kunstoff-3D-Druckern ist für Audi ein alter Hut: Bereits seit den 1990er Jahren setzen die Ingolstädter nach eigener Aussage diese Technologie ein. Auch BMW und Mercedes nutzen die additive Fertigung seit längerem für die Erstellung von Prototypen und Werkzeugteilen. Im neu gegründeten Metall-3D-Druck-Zentrum im Audi Werk Ingolstadt entstehen an drei riesigen Druckern nun auch Teile aus Stahl- und Aluminium im Laserschmelzverfahren. Der Einsatz der Technologie könnte künftig für (noch) mehr Leichtbau sorgen: Eine Gewichtsersparnis zwischen 20 und 30 Prozent hält man bei Audi für realistisch. Die Herstellung komplexer Fahrzeugteile dauert in den High-Tech-Monstern momentan allerdings noch zu lange für den Einsatz in der Serienfertigung: Ein 1000 Gramm schweres Metallrohr benötigt eine Fertigungszeit von einem Tag. Der praktische Einsatz der Technologie ist in einigen Jahren zumindest in der Kleinserie denkbar. Allerdings entstehen im Audi-Werk Ingolstadt bereits Werkzeugteile im Metall-3D-Druckverfahren. Wegen des hohen Innovationsgrades im Bereich der 3D-Drucker setzt man bei Audi im Übrigen auf Leasing, wenn es um die Geräte selbst geht, die von EOS und SLM Solutions stammen.
Keine Smart Factory ohne Big Data Analytics
Daten spielen nicht nur in der Zukunftsplanung von Audi eine wesentliche Rolle. Das Ziel aller Unternehmen heißt: bisher getrennte Datenströme zu einem Data Lake zusammenzufassen, um ein möglichst umfassendes Bild aller Prozesse und deren Verknüpfungen zu erhalten. Nur so lassen sich neue Zusammenhänge erkennen und gezielte Optimierungen vornehmen. Die Daimler AG etwa propagiert für ihre Vision der Smart Factory eine "production data cloud", die für die Zusammenführung der weltweiten Produktionsdaten sorgen soll.
Kein Wunder, dass auch im Ingolstädter P-Lab an Big-Data-Projekten getüftelt wird: Im Bereich der Produktion hat man mit Hilfe von Daten und Algorithmen die Fehlerquote bei Schraubvorgängen reduziert. Wenn der Akkuschrauber bei einem solchen Vorgang einen Fehler erkennt - beispielsweise Späne im Gewinde - schaltete er bislang innerhalb von zwei Sekunden automatisch ab. Nach der Auswertung anonymisierter Schraubvorgänge ließ sich feststellen, dass sich solche Fehler mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits nach 0,3 Sekunden vorhersagen lassen. Mit Hilfe dieser Erkenntnisse erzielt Audi im Ingolstädter Werk nach eigenen Angaben eine "immense Effizienzsteigerung", weswegen dieses Vorgehen nun in allen Werken der VW-Tochter Einzug halten soll. Die Ausdehnung auf andere Betriebsmittel wird ebenfalls erwogen.
In der Logistik-Abteilung soll in Zukunft ein neues Software-Tool dafür sorgen, die Visualisierung von Daten einfacher und überschaubarer zu gestalten. Dazu kooperiert Audi mit den Business-Intelligence-Spezialisten von Tableau Software. Bislang müssen sich die Mitarbeiter der Logistik-Abteilung für die Analyse der Warenbewegungen durch "umfangreiche Excel-Tabellen" wühlen. Das soll mit dem neuen Big-Data-Tool der Vergangenheit angehören: Bisher voneinander getrennte Datensätze werden miteinander verknüpft - Korrelationen zwischen einzelnen Lieferanten und Verpackungsstationen über farbliche Markierungen auf den ersten Blick erkennbar. So wurde unter anderem sichtbar, dass sich durch die Zusammenlegung von Frachtrouten enorme Zeit-, Kosten- und Emissions-Einsparungen realisieren lassen. Audi geht davon aus, dass mit dem Tool künftig Einsparungen im sechsstelligen Bereich zu realisieren sind. Der im P-Lab entstandene Prototyp der Software ist inzwischen reif für den Serieneinsatz.
In der Logistik-Abteilung im Audi-Werk Neckarsulm werkelt man ebenfalls daran, die Abläufe mit Big Data Analytics zu verbessern: Hier heißt das Zauber-"Wort" "Predictive Yard Management". Dabei geht es darum, den Abholungsprozess der fertig montierten Audi-Pkw durch die Spediteure zu optimieren. Bislang stehen die Autos im Schnitt 1,6 Arbeitstage auf dem Werksgelände, nehmen Fläche in Anspruch und verursachen Kosten. Die Idee des Projektteams: mithilfe der Datenströme aus Produktion und Versand möglichst präzise vorherzusagen, wann eine LKW-Charge abholbereit ist. Im Idealfall kommt der Spediteur also künftig genau dann im Werk an, wenn die für ihn bestimmte Pkw-Charge gerade bereitgestellt wurde.
Automatisiert und autonom in die Zukunft?
Audi bringt im Werk Ingolstadt darüber hinaus auch neue Technologien in vielen weiteren Bereichen zum Einsatz. In der folgenden Bildergalerie erhalten Sie Details über weitere Projekte für Audis Smart-Factory-Vision:
Die Automatisierung dürfte über die nächsten Jahre in großen Schritten - insbesondere in der deutschen Autoindustrie - Einzug halten. Nicht nur in den Produkten der Autobauer, auch in ihren Fabriken wird künftig die IT eine wesentliche Rolle spielen. Dabei gibt sich Audi - wie auch BMW und Mercedes - viel Mühe, zu betonen, dass man keinesfalls plane, Menschen im großen Stil durch Maschinen zu ersetzen. Im Fokus stehe in der Smart Factory stattdessen eine Kooperation zwischen Mensch und Maschine, beziehungsweise die bestmögliche Ergänzung und Erweiterung menschlicher Fähigkeiten durch Technologie.
Beim US-Hersteller Tesla geht man die Sache etwas unverblümter an: Hier werden Sitze und Windschutzscheiben schließlich bereits seit dem ersten Tag zu 100 Prozent von Roboterhand eingesetzt. "Automation to the fullest" sieht der US-Konzern selbst - und nicht ohne Stolz - als Maßstab für die Produktion seines Model S. Durch die Übernahme des deutschen Maschinenbau-Spezialisten Grohmann Anfang November 2016 könnte Elon Musks Konzern diesem Ziel noch ein Stück näher kommen.
Ob nun BMW, Mercedes, Tesla oder Audi mit der modularen Fertigung das beste Smart-Factory-Konzept für die Zukunft in der Schublade hat, lässt sich nicht abschließend klären. Vielleicht werden in der Autoindustrie künftig aber auch ganz andere Dinge entscheidend für den messbaren Erfolg einer Marke sein - Security, Datenschutz, Nachhaltigkeit oder Transparenz zum Beispiel.