Die "Digitalisierung" ist der Ohrwurm des Jahres. Jeder kennt Beispiele von digitalen Newcomern, die Traditionsfirmen angreifen oder ganze Branchen in Panik versetzen: Amazon im Buch- und Einzelhandel, Uber im Taxigewerbe oder Airbnb bei den Hotels. Anscheinend sind es immer kleine Schnellboote, die den großen Tankern das Leben schwer machen.
Doch was ist eigentlich mit dem Großteil der Unternehmen, die solide wirtschaften, Beziehungen pflegen, ausgereifte Geschäftsmodelle mitbringen und definierten Prozessen folgen? Auch die brauchen eine digitale Transformation. Auf jede Branche kommen Herausforderer wie Amazon und Uber zu.
Innovatoren und Follower
Unternehmer, Chief Technology Officers (CTOs), CIOs oder Chief Digital Officers (CDOs) entscheiden jetzt, ob das eigene Unternehmen "Innovator" oder "Follower" wird: Der Follower imitiert, was der erfolgreiche Mitbewerber macht. Der Weg des "Innovators" ist riskanter: Er probiert selbst neue Wege für seine Branche aus und setzt damit Standards - oder produziert Flops. Er holt sich Inspiration aus anderen Branchen oder Märkten, kombiniert Ansätze neu und entwickelt Geschäftsmodelle. Manche sind erfolgreich. Viele, von denen niemand erzählt, scheitern.
Beide Wege können erfolgreich sein. Wer Tonangeber und Marktführer bleiben will, wird das Beste aus beiden Welten zu verbinden suchen: Größe und Schnelligkeit, Sicherheit und Innovation, Spontanität und effiziente Prozesse. Es geht darum, etabliert und erfolgreich zu sein wie eh und je, aber so attraktiv wie die "New Kids on the Block".
Doch wie geht das? Wie stellen es Unternehmen an, die sich mit Erfolg neu erfunden haben, IBM etwa oder Fresenius? - "Transformation" kann denen gelingen, die nicht sofort alle Antworten haben, die Fragen stellen und dabei führen, die Chancen sehen und Gelegenheiten nutzen. Durch kontinuierliche Arbeit auf drei sich gegenseitig beeinflussenden Gebieten: Strategie - Organisation - Technik. Die Fragen lauten: Wem verkaufe ich was? Mit welchen Ressourcen und wie erbringe ich diese Leistung effizient? Wen brauche ich und betraue ich dafür mit welchen Aufgaben? Und wo muss ich eigentlich anfangen?
Organisation: Das richtige Team bilden
"Organisation" ist die Art, wie man eine Leistung erbringt, wen man dafür einsetzt und wie die Mannschaft geführt und gestaltet wird. Es ist die Dimension, die Unternehmen bereits mitbringen und gegen deren Vorgaben ein Chef-Innovator wohl am stärksten ankämpfen muss: die "Immer-schon"-Gesetzmäßigkeit. Eine starke Organisation im Rücken gibt dem Erneuerer aber auch Freiheiten: Budget, um Neues auszuprobieren, ein Netzwerk, in dem sich neue Ideen diskutieren lassen, und geneigte Kunden, die Prototypen gern testen.
Neue Technologien verändern die Arbeitsverteilung: Externe Berater oder Dienstleister übernehmen mehr oder andere Aufgaben als heute. Externes Wissen lässt sich leichter ins Unternehmen einbinden. Auf der anderen Seite wandern mit der Einführung neuer Big-Data-, Cloud- oder Social-Media-Techniken Aufgaben ins Unternehmen zurück, die heute vielleicht noch eine externe Agentur erledigt.
Die digitale Transformation wirkt sich auf die bestehende Mannschaft, die Kompetenzen im Team und die Anforderungen an künftige Mitarbeiter aus. Wie sich der Personalbedarf jeweils ändert, hängt vom Ziel ab. Dass sich der Kompetenzbedarf ändert, ist dagegen sicher: Veränderte Geschäftsprozesse und neue technische Umsetzungen verlangen andere Skills. Das bedeutet nicht, dass man dies nicht mit der bestehenden Mannschaft leisten könnte. Im Gegenteil: Vielleicht sind ja schon Mitarbeiter an Bord, die die Digitalisierung vorantreiben. Die wichtigsten Fragen:
Welche Rollen lassen sich aus dem Geschäftsmodell ableiten? Welche Fähigkeiten sollen die Mitarbeiter künftig haben? Zum Beispiel: Wie viel Know-how braucht der Datenanalyst technisch, wie viel fachlich? Können Mitarbeiter für neue Aufgabengebiete qualifiziert werden? Wie nutzt man das Potenzial, das man schon hat?
Nach Studien wie dem Gallup Engagement Index 2013 arbeiten 16 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland mit Energie und Freude daran, den eigenen Arbeitgeber voran zu bringen. Wie lässt sich das Engagement solcher Mitarbeiter entfalten?
Welche Rahmenbedingungen sind für das Digital-Team zu schaffen? Gibt es Freiräume bei Budgetfragen, im selbstorganisierten Arbeiten oder bei der Teamzusammensetzung? Ist das Team schnell und schlagkräftig genug? Hat es eine Umgebung, in der es Fehler machen und aus der Rückmeldung des Marktes lernen darf? Und ist es in der glücklichen Lage, das Gelernte schnell in neue Ansätze umsetzen können?
Die Diskussion über die nötigen Skills und Rollen wird von strategischen und technischen Fragen umrahmt: Technologieentscheidungen definieren Skill-Anforderungen an die eigenen Entwickler. Eine geänderte Aufgabenverteilung zwischen dem Unternehmen und den beteiligten Dienstleistern wirkt sich auf künftige Job-Profile aus.
Strategie: Der Weg ist das Ziel
Für einen Einzelhändler mit dem Erfolgsmodell Amazon vor Augen stellt sich die Frage "Was bedeutet Digitalisierung für mein Geschäft?" anders als für die durch Uber aufgerüttelte Taxibranche. Im ersten Fall könnte diese Frage lauten: Wie halte ich bei einem schier grenzenlosen Angebot mit schneller und fast kostenloser Lieferung mit? Im zweiten: Wie binde ich Kunden nach dem Verlust einer Quasi-Monopolstellung an mich? Für einen Verlag kann die Frage noch anders lauten: Wie regle ich Lizenzfragen und digitale Verwertungsrechte? Wie schütze ich mein digitales Produkt? Helfen neue Preismodelle, etwa Abos oder Pay-per-Use-Abrechnungen?
Den Kunden abholen, wo er steht
Neue Vertriebs- und Servicekanäle tragen zum disruptiven Potenzial der "News Kids" bei. Ein Beispiel dafür ist das Unternehmen Bloomy Days. Es überträgt das Abomodell aus dem Zeitschriftengeschäft auf ein verderbliches Gut, Blumen, und digitalisiert deren Vertriebsweg: Bestellt wird per Webshop. Das und eine vom digitalen Vorreiter Amazon als Quasi-Standard gesetzte Logistik vervielfachte das Absatzgebiet des Startups; die Gründerin wurde in anderthalb Jahren Chefin von 20 Angestellten. Daraus lässt sich auch lernen: Was für andere Branchen gang und gäbe ist, kann für das eigene Umfeld Neuland sein.
Ähnlich wirken Social-Business-Komponenten: Community-ähnliche Wohnungstauschplattformen wie Airbnb beginnen das Gespräch mit ihren Facebook-gewöhnten Kunden bereits im digitalen Wohnzimmer. Statt sie erst auf einem virtuellen oder gar realen Marktplatz zu umwerben, holen die Anbieter ihre Interessenten da ab, wo sie stehen, und machen sie schon vor dem ersten Kauf zu Freunden.
Welche Leistungen überzeugen den Kunden, und zwar über das Produkt hinaus? Was benötigt der Kunde für ein gutes Einkaufserlebnis? Wie lassen sich online und offline sinnvoll verknüpfen?
Wie lassen sich die Kunden begeistern? Eine liebevolle Verpackung? Gratisproben? Regelmäßige Tipps? Emotionale Ansprache geht schnell schief. Doch richtig eingesetzt, verstärkt und unterstreicht sie das Angebot.
Welche Trends aus anderen Branchen sind im eigenen Umfeld noch nicht angekommen? Hier hilft ein Blick in Nachbars Garten: Welche Technologie nutzen Web-Unternehmen? Wie setzt ein Versandunternehmen neue Maßstäbe in der Logistik? Welche Absatzwege sind für die jeweilige Branche noch nicht erschlossen?
Wie wirkt sich das Transformationsprojekt auf das bestehende Geschäft aus? Was alles wird neben Vertrieb und Kundenansprache noch auf den Kopf gestellt? Sind neue Preismodelle nötig? Neue Vertriebsstrukturen? Neue Partner?
Wie beteiligt man die bestehendenPartner am Erfolg? Welche Geschäftsmodelle binden sie ein oder geben ihnen vielleicht sogar ein eigenes neues Geschäftsmodell?
Technologie: Die Bremse und das Gaspedal
Ohne technischen Unterbau kommt auch die beste Strategie nicht über das Konzeptstadium hinaus: Technik ist wesentlich für eine bezahlbare, automatisierte "Bis-morgen-Logistik" oder effizientes Social Selling.
Digitalisierung wird oft - berechtigt oder unberechtigt - als reine Technologiediskussion und losgelöst von der analogen Welt geführt. Doch Investitionsschutz, Risikominimierung und bestehende Systemlandschaften sprechen dafür oder fordern sogar, alles zusammen zu sehen, zu diskutieren und zu planen.
Einem Unternehmer, CTO oder CIO stellt sich damit die Grundsatzfrage: Wie muss denn nun eigentlich die IT-Zielarchitektur aussehen? Welche sind die zukunftsfähigen Technologien für Betrieb, Flexibilität, Skalierung und Integration?
Wie innovativ ist die IT? Wie viel schafft die IT-Organisation selbst, und wie viel wird durch externe Dienstleister erbracht? Wird fehlende Innovationskraft auf die IT zurückgeführt? Es lohnt der Blick auf bekannte Engpässe wie technische Problempunkte. Das aktuelle Vorgehens- und Umsetzungsmodell kann ebenfalls eine Rolle spielen: Wie agil sind diese Modelle und damit das Unternehmen?
Mit welchen Technologien hat das Team Erfahrung? Welche haben sich in der jeweiligen Branche bewährt, welche in anderen? Und welche technischen Hypes werden gerade intensiv diskutiert?
Open-Source-Software ist ebenfalls ein Punkt, den man ins Kalkül ziehen sollte. Es kann ein Vorteil darin liegen, Provider-unabhängige Software einzusetzen. Oder ist die Strategie etwa die, grundsätzlich alles selbst zu entwickeln, um damit schneller, flexibler und unabhängiger zu werden?
Welche Compliance-Vorgaben sind einzuhalten? Welche Datenarten gibt es, und wie sensibel sind sie? Was passiert, wenn ausgelagerte Anwendungen nicht (mehr) verfügbar sind oder alle Daten verlieren?
Darf das Unternehmen Anwendungen von einem SaaS-Anbieter mit Rechenzentren außerhalb Deutschlands beziehen - und dort auch Anwendungsdaten lagern? Wie weit kann der Betrieb gemäß der eigenen Policy und den bestehenden gesetzlichen Regelungen gehen? Ist das im Unternehmen eigentlich geregelt?
Und morgen wird transformiert!
Alle Fragen beantwortet, und jetzt ist alles klar. Also auf los geht's los! Oder doch nicht? Die Transformation beginnt mit vielen Fragezeichen. Gefolgt von vielen - gern kontroversen - Ausrufezeichen. Dann gilt es zu filtern, zu simulieren, zu erproben. Und vor allem: Sich zu trauen, etwas zu entscheiden. Dabei ist es egal, mit welcher Dimension das Unternehmen anfängt: Es gibt kein etabliertes Vorgehen für den transformierenden Dreisprung. Wichtig ist, in allen drei Dimensionen zu springen. (fm)