ERP-Einführung

Verbiege ich die Software oder meine Firma?

27.08.2010
Bei jeder ERP-Einführung müssen sich die Verantwortlichen fragen, wie stark sie die eigenen Abläufe und die Software anpassen. Darüber diskutierten Anwender, ERP-Hersteller und unabhängige Experten.

Thomas Reich ist IT-Leiter bei der Firma Alfons Haar Maschinenbau. Im Jahr 2002 und damit vor Reichs Eintritt hat das Unternehmen die ERP-Lösung "Infor.com" eingeführt. Damals wurde eine veraltete Applikation auf Basis der IBM-Midrange-Plattform "S/36" abgelöst. Die alten Prozesse wurden in der neuen ERP-Software abgebildet. Rund 1000 Modifikationen weist Infor.com heute auf. Warten lässt sich die Lösung nur mit viel Aufwand. So manche Anpassung wurde für Mitarbeiter eingerichtet, die mittlerweile nicht mehr im Unternehmen sind.

"Wir wollen nun einen anderen Weg gehen", lautet Reichs Devise. Das könne ein anderes ERP-Produkt sein, aber auch der Umstieg auf ein neues Release der bestehenden Business-Applikation.

Ein krasses Gegenbeispiel schildert Markus Hirth, IT-Chef der John GmbH aus Freilassing. Sie hat im Rahmen der Einführung der ERP-Software "Semiramis", die heute zu SoftM gehört, die Firmenstruktur nach der Software ausgerichtet. Man kam dabei mit wenigen Modifikationen aus. "Bei uns war das vergleichsweise einfach: Wir haben 40 User, und ich war Key User und Projektleiter in einem, konnte somit die Prozesse einfach festlegen. Dafür konnten wir auf die im ERP-System angelegten Standardabläufe zugreifen." Gleichwohl sei das System flexibel. "Innerhalb von etwa sechs Monaten habe ich das Altsystem abgelöst, dessen Daten übernommen und die Anwender mit der neuen Software vertraut gemacht."

Differenzierung über Prozesse

Viele Anwender dürften sich irgendwo zwischen Alfons Haar Maschinenbau und John wiederfinden. "Das hängt stark von der Bereitschaft und der Fähigkeit der Unternehmen ab, Prozesse zu standardisieren", kommentiert Andreas Naunin, Direktor Mittelstand bei SAP Deutschland. "Wenn ich mich über Prozesse differenziere, dann muss ich sorgfältig überprüfen, ob ich sie zugunsten einer neuen ERP-Software anpasse." Wer jedoch eine ERP-Applikation modifizieren wolle, müsse sicher sein, das auch schaffen zu können: "Individuelle Anpassungen führen zu mehr Komplexität. Je kleiner die Unternehmen, desto geringer die Manpower dafür."

Standardsoftware plus Branchenspezifika

Dem widerspricht Andreas Lied, Chef des SAP-Konkurrenten Wilken, grundsätzlich nicht, sieht aber in Standardsoftware kein Allheilmittel. "Es gibt nicht den einen Standard, mit dem eine Vielzahl an Prozessen abgedeckt werden kann", gibt Andreas Lied zu bedenken, der den SAP-Mitbewerber Wilken aus Ulm leitet. "Wir liefern Basisfunktionen, die sowohl für einen Energieversorger als auch für eine Krankenkasse passen." Ergänzungen, um branchenspezifische Prozesse zu realisieren, erzeuge Wilken individuell die jeweilige Kundengruppe. "Der Bestellprozess bei einer Sparkasse muss ganz andere Randbedingungen erfüllen als bei einem Stadtwerk."

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ERP-Einführungen bieten die Chance, über bisherige Abläufe nachzudenken, appelliert IT-Leiter Reich. "Wer an ein neues Projekt herangeht, sollte die Chance nutzen, seine eigenen Prozesse in Frage zu stellen." Ihm zufolge sollten Firmen hier auf die Softwarehersteller zugehen, um Potenziale zu identifizieren. Eine neue Software sei wie ein Hausbau. Man hat noch alle Optionen, etwas zu ändern. Doch dafür müssen Veränderungen auch gewollt sein. "Prozesse im Unternehmen haben ein ausgeprägtes Beharrungsvermögen. Ohne Änderungswillen vom Manager bis hinunter in die Linienfunktionen geht das nicht", kommentiert SAP-Mann Naunin. Reich kommt bei seinem ambitionierten ERP-Vorhaben entgegen, dass die Eigentümer seines Unternehmens die dafür erforderliche IT-Affinität mitbringen (siehe "Mittelständler wracken ERP-Systeme ab").

Oft löst veraltete Software den ERP-Wechsel aus

Doch nicht überall sind die Voraussetzungen so gut. Oft handeln Firmen bei der ERP-Einführung aus der Not heraus, meint Karsten Sontow, Vorstand des IT-Beratungshauses Trovarit AG aus Aachen. "Nicht selten ist das bestehende System total veraltet oder sogar nicht mehr verwendbar. Diesen Unternehmen bleibt nichts anderes übrig, als die bestehenden Abläufe so rasch wie nur möglich in der neuen ERP-Lösung abzubilden."

Kurze Projektlaufzeiten sind auch unter Normalbedingungen erwünscht. "Von den 350 einschlägigen Projekten, die wir im letzten Jahr abgewickelt haben, konnten die meisten innerhalb der vorgesehenen Zeit umgesetzt. Die Kunden hatten sich für branchenorientierte Standardlösungen entschieden", so Naunin. Der Hunger nach Individualisierung komme oft erst danach. Hier sollten sich die Firmen genau fragen, was die jeweilige Anpassung bringt. So lässt sich die Anzahl der Sonderwünsche kräftig reduzieren. Dem pflichtet Reich bei: "Ein Projekt steht und fällt mit dem Projektleiter, der die Führungsverantwortlichen für sich gewinnt."

Sonderwünsche treiben die ERP-Projektkosten in die Höhe

Schnell könne es passieren, dass die Key User durch Sonderwünsche die Projektkosten in die Höhe treiben. Denn obwohl der Begriff ERP für eine unternehmensweite Software steht, durchdringen diese Programme die Abteilungen einer Firma unterschiedlich. "ERP-Anbieter - auch wir - überschätzen ihre Produkte zum Teil", so Naunin selbstkritisch. Die Software komme dort massiv zum Einsatz, wo Abläufe sich automatisieren lassen, und um große Datenvolumen zu verarbeiten. An anderen Stellen werde das Programm indes nur sporadisch genutzt.

Individualität in den softwaregestützten Abläufen lohnt sich nach Überzeugung von Wilken-Geschäftsführer Lied für Prozesse, mit denen sich das Unternehmen differenziert. "Bei Energieversorgern ist der Bedarf an Individualisierung in der Materialwirtschaft und im Controlling nicht so spektakulär, wohl aber im Einkauf sowie in kundennahen Prozessen wie dem Umzug eines Kunden oder einem Zählerwechsel."

Verbesserungspotenziale sind nicht immer offensichtlich

Doch laut IT-Berater Sontow sind die Potenziale nicht überall offensichtlich. "Viele Unternehmen tun sich schwer, zwischen kritischen und unkritischen Prozessen zu unterscheiden, wenn es darum geht, eine ERP-Einführung zu konzipieren." In der ERP-Zufriedenheitsstudie hätten 75 Prozent der Teilnehmer auf die Frage, warum sie ein bestimmtes ERP-System gewählt haben, geantwortet: "Die Software brachte genau das, was wir wollten." Am Ende gaben aber 30 Prozent an, mit nichts mehr Ärger gehabt zu haben als mit individuellen Anpassungen. Manche Anbieter forcierten Individualisierungen, da sie damit im Beratungsgeschäft gut verdienen könnten.

ERP-Anwender könnten viel voneinander lernen, wenn es um gute Prozesse geht. Einige Unternehmen sind Sontow zufolge durchaus offen für einen Austausch. Andere hätten jedoch Angst, dass Konkurrenten, die sich für das gleiche ERP-Produkt interessieren, über den Softwarehersteller Details über die eigenen Abläufe oder Geschäftsgeheimnisse erfahren könnten. "Die IT-Leiter haben da in der Regel weniger Berührungsängste", entgegnet Lied. Die Freundschaft gehe aber auch unter den DV-Chefs nicht so weit, dass sich jemand in die Lieferantenbedingungen schauen lässt. (fn)