Interview zu ESM

Enterprise Service Management steht erst am Anfang

23.11.2018 von Heinrich Vaske
Das IT Service Management (ITSM) ist in den meisten Unternehmen bestens bekannt und erprobt. Mit dem Enterprise Service Management (ESM) sollen die Prinzipien auch auf Bereiche jenseits der IT übertragen werden. Wir haben den Experten Jürgen Dierlamm nach dem Stand der Dinge befragt.
Jürgen Dierlamm war von April 2013 bis September 2018 Geschäftsführer des IT Service Management Forums (itSFM) und der itSMS GmbH. Seit Oktober 2018 arbeitet der zertifizierte ITIL-Experte wieder als Rechtsanwalt und Unternehmensberater.
Foto: Michaela Handrek-Rehle

Das IT Service Management (ITSM) ist in den meisten Unternehmen gut eingeführt, das Enterprise Service Management (ESM) aber noch relativ neu. Sind die Betriebe schon im großen Stil dabei, das strukturierte Denken aus dem ITSM auf andere Unternehmensbereiche auszudehnen?

Dierlamm: Noch sind die Firmen und Behörden überwiegend nicht so weit, das Potenzial von Service-Management-Prozessen, -Workflows und -Kennzahlen in der gesamten Organisation für verschiedene Non-IT Services anzuwenden. Die mehr als 20jährige Praxiserfahrung aus dem ITSM ist aber eine hervorragende Basis.

Das ist allerdings noch nicht überall erkannt. Die Fachabteilungen sprechen auch zu wenig mit den IT-Bereichen. Es ist sehr wohl möglich, die Prozesse und Tools, zum Beispiel Service Request Management und das Ticket System, auch für andere Bereiche anzuwenden. Hier liegen Synergien brach.

Es gibt erste Piloten, aber eine grundlegende Ausdehnung steht noch am Anfang. Hier muss die IT auf die Fachbereiche zugehen nach dem Motto: "Tue Gutes und sprich darüber". Meist ist die IT aber in dem Ruf gefangen, immer nur für Ausfälle verantwortlich zu sein und die Tickets der Anwender nicht schnell genug zu bearbeiten.

Ohne IT Service Management würden die IT-unterstützten Geschäftsprozesse heute nicht so gut laufen wie sie es meist tun. Hier sollte sich die IT auch besser vermarkten. Sonst breitet sich die Schatten-IT weiter aus, und die Fachbereiche kaufen sich an der IT vorbei Softwarelösungen - oft aus der Cloud - ein, um ihre Workflows zu digitalisieren. Das ginge jedoch meist auch mit den ITSM-Ticket-Systemen.

Welche Serviceprozesse sind besonders für ein solches Standardisierungs- und Automatisierungs-Procedere geeignet? Personalwesen, Einkauf, Kundenservice?

Dierlamm: Der Treiber ist oft die Digitalisierung in den Fachbereichen. Papierbasierte Abläufe mit Genehmigungen, Unterschriften und der Beteiligung von mehreren Sachbearbeitern, darunter manchmal auch externe Provider, sind gute Kandidaten. Hier lassen sich viele Workflows in die Service-Management-Lösungen einbinden. Man kann ständig nachverfolgen, wer ein Ticket bearbeitet, eskalieren und die zugehörigen Assets sehen.

Letztlich sind alle Prozesse mit Serviceanteilen für Mitarbeiter und Kunden geeignet. Beispiel Personalmanagement: es gibt dort seit Jahren ein dem ITSM-Framework vergleichbares Prozessmodell. Es nennt sich Dave-Ulrich-Modell. Dort sind Rollen für die Personalarbeit definiert.

Wenn man nun Anfragen nach einem Arbeitszeugnis, einer Beförderung, nach Resturlaub oder ähnlichem auch in Workflows packt wie im IT-Service, kann man die gleichen Tools nutzen, um diese Prozesse zu modellieren und ablauffähig zu machen. Eines unserer Mitglieder hat dafür eine eigene Instanz des ITSM-Ticket-Systems erstellt. In einem Service-Katalog im Intranet werden dafür die Services angeboten - genau wie im IT-Service.

Es geht um Nachhaltigkeit, Transparenz und Dokumentation

Geht es beim Digitalisieren und Streamlining von Abläufen nur um Effizienzvorteile? Oder was ist das primäre Ziel von ESM?

Dierlamm: Ziel ist - wie bei ITSM auch - die Nachhaltigkeit, Transparenz und Dokumentation. Nur so werden Zuständigkeiten und Abläufe sichtbar. Jeder weiß, was zu tun ist. Der Anwender kann sich immer informieren. Service-Kataloge und Service-Request-Tickets sind dafür der Schlüssel. Die Effizienz stellt sich dann von selbst ein. Es lässt sich auf jede Art von Service anpassen. Gemeinsam ist allem die BPMN- Notifikation mit ereignisgesteuerten Prozessketten.

Kann die Standardisierung von Prozessen nicht zu Nachteilen in Sachen Flexibilität und Agilität führen? Was können Anwender tun, damit ESM nicht zu einem steifen Korsett wird?

Dierlamm: Das Thema Agilität treibt uns im ITSM gerade um. Hier sollen Vorteile aus der agilen Projektarbeit auch im Betrieb nutzbar sein. Das geht mit ITSM aber nur dann, wenn eine ITSM- beziehungsweise ESM-Lösung auch im Einsatz ist. Flexibilität ist gesichert, da die Abläufe leicht angepasst werden können in den Ticket-Systemen. ESM ist daher meist eine Erleichterung, kein Korsett.

Wenn IT-Mitarbeiter über die Ticket-Systeme schimpfen im Sinne von: "Das hätte ich schnell nebenher erledigt, jetzt muss ich erst ein Ticket aufmachen", wird verkannt, dass sich die Effizienzvorteile erst beim nächsten ähnlichen Ticket einstellen, da man von den Erfahrungen profitiert. Kollegen können aus den Erfahrungen mit anderen vergleichbaren Tickets lernen.

Analytics lässt sich schlecht in ITSM-Systeme hineinentwickeln

Aus den Serviceanfragen und -interaktionen von internen und externen Kunden kann ein Unternehmen eine Menge lernen. Wie viel Analytics steckt bereits in den ESM-Lösungen?

Dierlamm: Das Thema Predictive Maintenance und künstliche Intelligenz (KI) in den ITSM- und ESM-Lösungen steht erst am Anfang. Die Zuordnung von Daten zu vergleichbaren Servicefällen setzt Datenqualität und Wissen über Geschäftsprozesse voraus. Das zu analysieren und nutzbar zu machen ist eine hohe Kunst, die noch einige Jahre braucht.

In einigen Systemen ist bereits Analytics vorhanden. Die Praxis, zum Beispiel bei Continental, zeigt aber, dass der Trend eher zu selbstentwickelten Analytics- und KI-Lösungen geht, als diese Möglichkeiten in die vorhandenen ITSM-Systeme hineinzuentwickeln. Der Erfolg steht und fällt mit der Qualität der Metadaten.

Um Services und Workflows zu konfigurieren, anzupassen, zu automatisieren und externe Service zu integrieren braucht man Tools und gegebenenfalls Low-Code-Environments. Ist das eine Überforderung für mittelständische Softwareanbieter?

Dierlamm: Fast alle modernen ITSM-Lösungen sind inzwischen so ausgestaltet, dass man nicht mehr programmieren oder den Code anpassen muss. Es gibt gute Engines für die flexible Gestaltung von Workflows. Hier sehe ich keine Überforderung. Die Kunst ist es vielmehr, die Anforderungen der Geschäftsprozesse zu versehen, aufzunehmen und umzusetzen. Hier sind Prozessberater und ITSM-Spezialisten gefragt. Bei den Tools heißt es dann: Form follows Function.

Manche Firmen wechseln alle paar Jahre ihre ITSM-Lösung

Wie groß ist die Gefahr für Anwender, sich von einer ESM-Plattform abhängig zu machen weil man sich zu tief auf vorgegebene Prozesse, Datenstrukturen und Benutzeroberflächen einlässt?

Dierlamm: Hier gibt es Erfahrungen aus über 20 Jahren ITSM auf Basis der ITIL-Standards. Viele Firmen haben sich abhängig gemacht, indem sie bis ins Unendliche Customizing auf individuelle Anforderungen betrieben haben. Damit ist man nicht mehr updatefähig und hat sich in eine Vendor-Lock-in-Situation gebracht.

Ich habe Ticket-Systeme gesehen, die sieben verschiedene Status für Problems geschaffen haben. Das geht vollkommen an ITIL und Best Practices vorbei. Der Projektleiter ließ sich nicht beirren und meinte zum Tool-Integrator: "Take it as a management decision". Damit entstehen Abhängigkeiten.

Das lässt sich von vornherein vermeiden, wenn man sich an vernünftigen Standards orientiert. Ich kenne Organisationen, die wechseln wegen der besseren Nutzbarkeit für sich wandelnde Prozesse alle paar Jahre die ITSM-Lösung - ohne Probleme.

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Gibt es nicht eine Grauzone der Überschneidungen mit BPM, vielleicht auch ERP und CRM? Welche Plattform ist die "Lead-Plattform" und wie behalten Anwender die Übersicht?

Dierlamm: BPM ist der gemeinsame Nenner für ITSM und ESM. Ich kenne Organisationen, die Aufbau- und Ablauforganisation in ARIS oder ADONIS modelliert haben. Dort konnten die ITSM-Prozesse problemlos hinterlegt werden. Und auch umgekehrt. Wichtig ist, dass aus einem modellierten Ablauf eines Prozesses möglichst gleich ein Code entsteht, der dies in einem Workflow- oder Ticket-System analog zu ITSM nutzbar macht. Das ist die Lead-Plattform für alle Abläufe.

Hersteller kann ich Ihnen dazu keine empfehlen. Sehen Sie sich am besten auf der itSMF-Webseite um. ERP und CRM laufen in der Regel vergleichbar ITSM- oder ESM-Lösungen ab: Es gibt Stamm- und Bewegungsdaten. Dazu werden Aufgaben verteilt. Alle Asset Daten sind vorhanden, und können für Requests, Störungen und Changes herangezogen werden. Zeitstempel zeigen die Veränderungen. SAP oder Salesforce kann man eigentlich auch für ITSM verwenden, es gibt Beispiele. Die Synergien kann man in Workshops mit den Beteiligten aufzeigen, und eine gemeinsame ESM Marschroute festlegen.

Wie lässt sich der Erfolg von ESM messen?

Dierlamm: Hier ist die Antwort in den über 2.000 Seiten ITSM nach ITIL oder in COBIT 5 bereits vorgegeben: Kennzahlen und KPIs. Diese Frameworks haben für alle Prozesse messbare Kennzahlen. Damit kann man auch ESM-Prozesse messen.