IT-Service-Management

Wohin steuert Itil?

07.04.2008 von Albert Karer
Warum der De-facto-Standard in vielen Unternehmen mittelfristig keine Rolle mehr spielen wird - ein Beitrag zur aktuellen Itil-Diskussion.

In den vergangenen Jahren hat wohl kaum ein Thema mehr Einfluss auf Organisationen und Mitarbeiter der IT-Branche genommen als die IT Infrastructure Library, kurz Itil. Ihre Wirkungen reichen von der Entwicklung eines ganzen Geschäftssegments bis zum einzelnen IT-Servicemitarbeiter, der sich heute fast zwingend "Itil-zertifizieren" muss. Aber schon tauchen die ersten kritischen Kommentare auf (siehe beispielsweise: "Rettung oder Regulierungswut?") Und man darf sich bereits fragen: Wohin geht die Reise? Was kommt nach Itil? Mittelfristig werden die meisten Unternehmen, so ist zu erwarten, Itil kaum noch benötigen.

Itil ist besser als gar nichts

Der Schock kam in den 90er Jahren: Damals wurde uns klar, dass uns die Ergänzung der relativ einfachen Mainframe-Technologien durch die komplexen verteilten Systeme mit ganz neuen organisatorischen Anforderungen überrollen würde. In der IT taten sich vier Handlungsfelder auf, die in Analogie zum Anlagenbau folgendermaßen beschrieben werden können:

Diese Handlungsfelder beschäftigen uns nach wie vor. Von einem generell verfügbaren Lösungsansatz sind wir noch weit entfernt - egal, was die Verkaufsabteilungen mancher Softwarehersteller und viele Itil-Berater behaupten.

Anfang der 90er Jahre war Itil zumindest einmal der Aufhänger für eine Service-Management-Diskussion in der IT. Indem alle Betroffenen mit denselben "neutralen" Basisinformationen und Definitionsvorschlägen versorgt wurden, sollten sie in die Lage versetzt werden, von einer gemeinsamen Basis aus zu agieren. Das ist auch heute noch ein wichtiges Argument für Itil.

Budgets wanderten in die Fachbereiche

Mitte der 80er Jahre bestanden die IT-Abteilungen aus zwei Bereichen: der Entwicklung und der Produktion, die neben Betrieb und Support auch für die Infrastruktur verantwortlich zeichnete. Der Kunde, also die Fachbereiche, spielte aus Sicht der IT eine untergeordnete Rolle.

Zu Beginn der 90er Jahre entwickelt sich ein dritter Bereich, den wir heute als IT-Service-Management bezeichnen. Er sollte hochwertige IT-Dienstleistungen erbringen, mit deren Hilfe die Kunden ihr Geschäft optimal erledigten konnten.

Albert Karer fragt bereits: Was kommt nach Itil?
Foto: Karer Holding AG

Die interne Softwareentwicklung und die IT-Produktion haben in den meisten Unternehmen nach und nach an Bedeutung verloren. Der Anteil der Individualsoftware-Entwicklung schrumpfte zugunsten der Standardsoftware, auch wenn er im Zeichen von Web-basierenden Lösungen und SOA eine Renaissance erlebt. Infrastruktur- und Netzbetrieb sind vielerorts ganz oder teilweise ausgelagert.

Parallel hierzu verschob sich die Budgetverantwortung von den IT-Abteilungen in die Fachbereiche. Die Anwender benehmen sich heute tatsächlich wie Auftraggeber; sie verwalten das Geld und bezahlen damit die IT.

In der Konsequenz werden Serviceleistungen transparent gemacht, also wie Produkte definiert und bepreist. Die IT muss lernen, Angebote zu erstellen und Verträge zu formulieren. Themen wie Marketing, Vertrieb, Leistungsangebot und Preis dominieren die Beziehung zu den Kunden. Zwischenzeitlich stellt sich manches Unternehmen schon die Frage, ob es hier nicht über das Ziel hinausschießt (siehe auch: "IT krankt am Utility-Syndrom").

Als die IT erwachsen wurde

Mit dieser Entwicklung etablierten sich zunehmend die Anforderungen des klassischen Produkt-Managements. Schön, dass die Autoren von Itil V3 das auch bemerkt haben! Sie schafften es, IT-Dienstleistungen auf Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, denen jedes Produkt unterliegt. Zyniker fragen mit Recht, ob die IT eigentlich erst gestern erfunden wurde.

IT-Services gehorchen zunehmend den Anforderungen des klassischen Produkt-Managements. Itil V3 trägt dieser Tatsache Rechnung.
Foto: itSMF

Der Aspekt "Kundenbeziehung" hat zu einer radikalen Veränderung der IT-Wahrnehmung in den Unternehmen geführt. Aus Sicht des Kunden spielen die technischen Fähigkeiten seines IT-Dienstleisters keine entscheidende Rolle mehr. Sie sind für ihn selbstverständlich. Technisches Know-how kann man schließlich von außen einkaufen. Wichtig ist für den Kunden nur: Werden die Bedürfnisse meines Geschäfts innerhalb meines Zeitrahmens und mit einem aus meiner Sicht angemessenen Aufwand befriedigt?

Der Wandel von der technikorientierten zur serviceorientierten Leistungserbringung wirkte sich nicht nur auf die Ablauforganisation, sondern auch auf die Einstellung, das Selbstverständnis und das Verhalten der Mitarbeiter aus. Das IT-Service-Management wurde in unzähligen Firmen neu erfunden, und die Ende der 90er Jahre einsetzende Itil-Verbreitung tat ein Übriges: Ähnliche Aufgabenstellungen führten zu vergleichbaren Lösungsansätzen, auch wenn sie in unterschiedlichen Sprachen und Begriffswelten umgesetzt wurden.

War Itil vor zehn Jahren nur roter Faden, so hat sich mit der aktuellen Version 3 die inhaltliche Qualität der Dokumentation und der Abstimmung wesentlich verbessert. Altbekannte betriebs-wirtschaftliche Grundsätze (Stichwort Produktlebenszyklus) wurden wiederentdeckt und integriert. Itil bietet heute ein Framework auf guter theoretischer Grundlage. So ist die Itil-Dokumentation für alle, die im IT-Service-Management aktiv sind, völlig zu Recht eine Art "Bibel" geworden. Doch das geschriebene Wort ist noch lange nicht das gelebte, und der "Frame" muss in der täglichen Praxis mit viel "work" gefüllt werden.

Euphorie und Wirklichkeit

In einer von vielen Schlagworten geprägten Welt müssen "Best Practices" und "Benchmarks" oft als Ersatz für die eigene Kompetenz herhalten. Deshalb hat Itil echte Euphorie ausgelöst. Das allein zeigt, wie hoch die Nachfrage nach Lösungsansätzen für die IT-Service-Aufgaben ist. Im Gegensatz zu anderen IT-Themen, die erst mal einen kräftigen Marketing-Schub benötigten (erinnern Sie sich noch an Computer-aided Software-Engineering, kurz: CASE?), handelt es sich diesmal nicht um einen "geweckten" oder "initialisierten" Bedarf. Das Bedürfnis, Alltagsaufgaben hinsichtlich Qualität, Performance und Preis "optimal" zu erbringen, ist echt.

Selbstverständlich türmt sich auch hier bereits seit einigen Jahren eine Marketing-Welle auf. Es gibt wohl keine Softwarelösung im IT-Service Management-Umfeld mehr, die nicht "Itil-minded" oder sogar Itil-zertifiziert wäre. Kongress- und Schulungsangebote überschlagen sich, Sekundärliteratur steht in unterschiedlichster Qualität zur Verfügung. Zudem wird mehr oder weniger erfolgreich versucht, bekannte Problemfelder wie das Projekt-Management im Itil-Fahrwasser zu positionieren.

Auf Basis von Itil haben ganze Wirtschaftszweige spezifische Dienstleistungen und Produkte entwickelt, mit denen sie erhebliche Umsätze generieren. Damit tragen sie aus rein wirtschaftlichem Interesse zur Durchsetzung von Itil bei. (Das gilt selbstverständlich auch für den Autor!).

Auch aufgrund des Fehlens einer echten Alternative ist Itil heute ein wahrer "De-facto-Standard", sprich: durch Nutzung und nicht durch Regelung zu einem Standard geworden. Die Best-Practices-Sammlung bietet:

Speziell im regelungsverliebten Deutschland kommt auch der Punkt zum Tragen, dass Itil einem offiziellen Regelwerk so ähnlich sieht.

In der Praxis machen sich allerdings auch die negativen Aspekte des De-facto-Standards bemerkbar. Nicht, dass Itil dafür etwas könnte! Aber die Wirklichkeit wird dem allgemeinen Standardbegriff nun einmal nicht gerecht. Die folgende Liste der Irrtümer erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit

Die im Itil-Umfeld grassierende Kommerzialisierung ist wohl der Sargnagel für das an sich epochale Werk. Zweckentfremdet und von Menschen transportiert, die selbst nie wirklich Verantwortung für das IT-Service-Management getragen haben, wird Itil zum Selbstzweck. So genannte Itil-Projekte - schon dieser Begriff zeigt den falschen Schwerpunkt auf - werden auf theoretischer Basis in einen laufenden Betrieb "implementiert". Der Einfachheit halber optimiert man Prozesse, die schon mehr oder weniger gut funktionieren. Doch bereits für das relativ einfache Change- und Problem-Management fehlen Energie und Geld. Und beim hochkomplexen Configuration-Management lässt sich der Business Case nicht mehr darstellen.

Zertifizierte Qualitätsmängel

Ein Qualitäts-Management-System nach ISO prüft primär, ob die Vorgaben, die ein Unternehmen sich gegeben hat, eingehalten sind und ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess gelebt wird. Das bedeutet nicht zwingend, dass dabei Qualität herauskommt oder tatsächlich Verbesserungen implementiert werden! In wie vielen Unternehmen läuft das Qualitäts-Management parallel zur realen Welt? Sie kennen sicher auch eins, vielleicht sogar Ihres?

Ähnliche Tendenzen sind bei Itil erkennbar. Hier stehen ebenfalls die Prozessorientierung, der Kunde und die organisatorische Regelung im Vordergrund. In Itil V3 kommt die Maxime der kontinuierlichen Verbesserung hinzu. Folglich kombinieren viele Unternehmen Itil und Qualitäts-Management. Und damit schaffen sie dummerweise eine gute Grundlage für ein Regelwerk, das komplett außerhalb der Produktionswirklichkeit existiert.

Mit dem internationalen Standard ISO 20000 und der zu erwartenden Zertifizierungswelle folgt die nächste Phase der Itil-Evolution: die Bürokratisierung. ISO-Normen sind an sich ja nicht schlecht. Schlecht ist meist nur, was in der Praxis daraus gemacht wird. Im schlimmsten Fall wird es bald ISO-20000-Verantwortliche geben, die - als Buchhalter oder Controller - IT-Service-Management-Prozesse entwerfen und kontrollieren, die nicht gelebt werden, die dem Management fadenscheinige Alibis liefern (nach dem Motto: Wir sind schließlich zertifiziert!) und die von der Praxis keine Ahnung mehr haben, weil sie mit der Entwicklungsdynamik nicht Schritt halten können. Folglich sind diese Regelwerke auch nicht in der Lage, Veränderungen rasch zu bewältigen.

Solche "Itil-Experten" bilden schnell einen Kostenblock, der regelmäßig und mit Recht in Frage gestellt wird. Und letztendlich sorgen sie dafür, dass das ganze Thema in einer nicht mehr ernst genommenen Stabsstelle verschwindet, die der ursprünglichen Itil-Idee ganz und gar nicht mehr gerecht wird.

Allerdings hat die Itil-Euphorie auch ihre Vorteile. Sie erklärt die Gestaltung und regelmäßige Anpassung der IT-Prozesse offiziell zu einer Notwendigkeit. Dafür müsste vor allem die Consulting-Zunft den Itil-Autoren, die sich übrigens vor allem aus Beratern und Softwareherstellern rekrutieren, auf ewig dankbar sein.

Auf zu neuen Ufern - mit und ohne Itil

Die Frage, was nach Itil kommt, ist möglicherweise irreführend. Itil war und ist keine bahnbrechende Erfindung, sondern eine Kumulation von Know-how aus der Betriebswirtschaftslehre und der IT-Organisation. Deshalb wird sich Itil genauso in die Vielzahl existierender Management-Methoden, Optimierungsansätze und "Standards" einordnen wie Business Process Reengineering, Lean Production und Lean Management, Six Sigma etc.

Optimale Prozessorganisation im IT-Management - so heißt das jüngste Buch von Albert Karer. Es ist 2007 im Springer Verlag, Berlin, erschienen und bietet unter anderem eine ausklappbare Grafik, die alle wichtigen IT-Management-Prozesse und ihre Verknüpfungen im Überblick darstellt. Karer schöpft sein Wissen aus langjähriger Tätigkeit als Berater für Prozess- und Projekt-Management.
Foto: Springer Verlag, Berlin

Auch mit der neuen Itil-Version 3 fokussieren die Autoren auf eine Forderung, die schon mehr als 20 Jahre alt ist: Die wertschöpfenden Geschäftsprozesse und deren Ergebnisse sind das Maß aller Dinge; die Aufgabe der IT ist es deshalb, diese Prozesse optimal zu unterstützen und sicherzustellen, dass die Ergebnisse in höchster Qualität und im besten Kosten-Nutzen-Verhältnis produziert werden.

Im Umkehrschluss heißt das: Die IT muss sich den wertschöpfenden Geschäftsprozessen und deren Ergebnissen unterordnen. Diese Forderung wurde bereits in den 80er Jahren des vorherigen Jahrhunderts erhoben. Sie fand ihren Niederschlag unter anderem in den Ideen von Michael Hammer und James Champy. Mit Itil lösen wir also die Probleme, die wir vor 20 Jahren schon kannten. Aber vermutlich ist für viele erst jetzt die Zeit reif dafür.

Unbestritten hat die IT heute in jedem Unternehmen einen sehr hohen Durchdringungsgrad, ähnlich wie die Energieversorgung. Egal, ob ich Maschinen herstelle, Geld verwalte, Güter transportiere, mit Waren handle oder Rohstoffe gewinne - meine wertschöpfenden Geschäftsprozesse sind vom IT-Know-how meiner Mitarbeiter abhängig. Aber für den überwiegenden Teil der Unternehmen ist die IT nur Mittel zum Zweck. Deshalb wird ja bereits ernsthaft diskutiert (beispielsweise von Nicholas Carr), ob sich die Unternehmen überhaupt noch eine umfassende IT-Organisation leisten oder die Services schlicht einkaufen sollten.

Ein Unternehmen, das sich ernsthaft mit dieser Frage beschäftigt, wird sicher zwei werthaltige Segmente der IT identifizieren:

Die Konzentration auf diese beiden Wertfaktoren führt dazu, dass sich das in einem Unternehmen unabdingbare IT-Know-how auf das Prozess-Management und das Informations-Management reduziert. Damit bezeichnet IT-Know-how nicht mehr ein spezifisches technisches Wissen, sondern ein generelles Wissen darüber, wie man optimale IT-Lösungen für die spezifischen Besonderheiten des Unternehmens findet und bereitstellt.

Das klingt zunächst nicht besonders aufregend. Aber die organisatorischen Konsequenzen sind gravierend. Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen löst seine ehemalige IT-Abteilung auf beziehungsweise ersetzt sie durch eine neue Organisationseinheit mit der Bezeichnung Prozess- und Informations-Management, die folgende Arbeitsbereiche abbildet:

Mittelfristig sind es vor allem die innovativen mittelständischen Unternehmen, die solche neuen Organisationsformen für die Unterstützung ihrer Geschäftsprozesse durch IT-Lösungen finden werden. Die klassische Organisation der IT-Abteilung - bestehend aus Infrastruktur-Management, Betrieb, Service-Management und Softwareentwicklung - hat ihren Zenit überschritten; sie existiert in dieser Form schon in vielen Firmen nicht mehr.

In Unternehmen ohne klassische IT-Abteilung wird auch Itil mittelfristig keine große Rolle mehr spielen. Die "Itil-Prozesse" erbringt ja der externe Partner. Sicher sollten die Auftraggeber über ein Basis-Know-how verfügen. Aber vor allem sollten sie ihre Serviceerbringer zwingen, transparente, standardisierte und gegebenenfalls zertifizierte Prozesse nachzuweisen. Ist ein Service als Produkt definiert, beschrieben und bepreist, lassen sich die Angebote unterschiedlicher Anbieter - intern wie extern - relativ leicht vergleichen. Entscheidet sich das Unternehmen, die Leistung einzukaufen, erleichtert die Transparenz die Auftragsvergabe.

Für IT-Service-Provider und andere Organisationen, die im Rahmen eines Produktlebenszyklus klar definierte IT Services anbieten, ist Itil zumindest in der nächsten Dekade noch Pflicht. Dasselbe gilt für Unternehmen, die sich über die IT markant vom Wettbewerb abheben, sowie für große Konzerne mit ausgeprägter IT-Organisation. Aber alle anderen können Itil getrost vergessen und sich den wirklichen Herausforderungen stellen.

Sind Sie auch dierser Ansicht? Oder stimmen Sie eher Joachim Fremmer, dem Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Exagon, zu, der sagt: "Outsourcing macht Itil nicht überflüssig." Diskutieren Sie mit in unserem Forum zur "Itil-Kontroverse". (qua)