Goodbye Telefon

Wie Tablets und Handy das Telefon ablösen

14.03.2011 von Jürgen Hill
Das klassische Telefon auf dem Schreibtisch ist angezählt. Multimediale Kommunikationsterminals oder Smartphones sollen die Geräte ersetzen und auch PC-Funktionen erfüllen. Sprachübertragung wird zu einer App unter vielen.
Apps auf dem Telefon? Daran war beim ersten "Telephon", das der hessische Physiker Johann Philipp Reis 1861 vorführte, nicht zu denken. Das Exponat des Deutschen Museums zeigt den "Geber" - also das Mikrofon - des Telefons.
Foto: Deutsches Museum

Rund 150 Jahre, nachdem Johann Philipp Reis im Rahmen eines Vortrags "Über die Fortpflanzung von Tönen auf beliebige Entfernungen durch Vermittlung des galvanischen Stroms" das erste funktionierende "Telephon" vorführte, scheinen dessen Tage gezählt zu sein. Vorbei die Zeiten, in denen die Bedeutung eines Mitarbeiters an der Zahl und Breite der Zusatzmodule seines Tischtelefons abgelesen werden konnte. Denn wenn die Telefonie in nicht allzu ferner Zukunft als eine App unter vielen aus der Cloud kommt, reicht theoretisch ein Headset auf dem Schreibtisch. Oder eines der immer beliebteren Smartphones ersetzt den Telefonapparat.

Während die Veränderungen auf dem Schreibtisch in Form neuer Geräte sofort ersichtlich sind, zeigen sich fast noch gravierendere Umwälzungen im Backend erst im Arbeitsalltag: Egal ob Telefonat, Videokonferenz, CRM-Abfrage, Powerpoint-Präsentation oder E-Mail - der moderne Benutzer benötigt für alle diese Anwendungen nur noch ein Endgerät. Damit scheint die mit VoIP propagierte Verschmelzung von IT- und TK-Welt endlich Realität zu werden.

Revolution der Kommunikation

Die Zukunft: Leistungsfähige Tablets (im Bild Cisco Cius) lösen Telefon und PC ab.
Foto: Cisco

Stand anfangs nur das Zusammenwachsen von Daten- und Sprachnetz auf der Agenda, verschmelzen nun die Anwendungen miteinander. Dabei führen die Kommunika-tionsterminals nun echte Anwendungen - neudeutsch Apps - aus und listen nicht nur Web-Inhalte auf wie die seit längerem gebräuchlichen XML-fähigen Telefone. Für Alcatel-Lucent-Manager René Princz-Schelter stehen Anwender und TK-Anbieter vor großen Umwälzungen, wenn intelligente Kommunikationsterminals Einzug halten und etwa mit Hilfe von Apps die Stimmlage während eines Telefonats darauf analysieren, ob der Sprecher freundlich, interessiert, verärgert oder gelangweilt klingt - und dies per Icon auf dem Multitouch-Display mitteilen.

Ist das nur Phantasie oder eine unumkehrbare Entwicklung, wie manche Hersteller behaupten? "Die Tage des klassischen Telefons sind bereits seit langem gezählt - auch wenn es auf den Büroschreibtischen und dem heimischen Nachtschrank sicher noch einige Jahre überdauern wird", sagt etwa Christian Dietl, Head of Products bei BT Germany. "Aber technisch gesehen sind wir längst so weit, dass das klassische Tischtelefon gar nicht mehr notwendig ist." Und Franco Messori, Chief Strategist beim IP-Service-Monitoring-Spezialisten Empirix, ist überzeugt, "dass es keine Frage ist, ob Softphones und Smartphones die klassischen Telefone ablösen, sondern nur wann". Ein Wandel, der im Hintergrund noch durch eine andere Entwicklung begünstigt wird. Die traditionellen Telekommunikationsprotokolle wie PSTN oder ISDN, mit denen, vereinfacht ausgedrückt, unsere klassischen Telefone arbeiten, werden immer mehr von IP-Protokollen wie SIP verdrängt. "Der Markt bewegt sich hin zu IP-basierten Diensten wie VoIP oder Videoservices", weiß Jörg Pauli, Head of Network Solutions bei Interoute Germany, aus seinem Berufsalltag. Dem pflichtet Empirix-Stratege Messori bei, zumal "Video für jede Form der Interaktion eine Bereicherung" sei.

Smartphones als Universalgerät?

Im Vordergrund der Betrachtungen stehen dabei oft die Smartphones als Universal Devices. Warum sollen die Anwender zwei oder mehr Geräte nutzen, wenn alle Funktionen in ein einziges integriert werden können und sich so nicht nur Kosten sparen lassen, sondern auch die Effizienz wächst? Wie die Rolle des Smartphones auf dem Desktop in der Praxis aussehen kann, zeigte erst jüngst Vodafone mit dem "Virtual Desktop" auf der CeBIT. Das hierbei verwendete Motorola-System "Atrix" ist eine Kombination aus Smartphone und Dockingstation. Angesichts solcher Konzepte glaubt Nick Galea, CEO bei 3CX, einem Anbieter von Windows-basierenden IP-TK-Anlagen: "Die modernen Smartphones könnten den klassischen Tischtelefonen in den Büros durchaus den Rang ablaufen. Es ist gut vorstellbar, dass man statt des Tischtelefons nur eine Dockingstation für sein Smartphone auf dem Schreibtisch hat."

Ist die Sicherheit gefährdet?

XML-Dienste waren gestern. Auf modernen Telefonen wie dem MyIC Phone laufen echte Apps.
Foto: Alcatel-Lucent

Allerdings teilen nicht alle Experten diese Meinung. Viele raten dazu, Kommunikation ganzheitlich zu betrachten, weshalb der Fokus nicht auf bestimmten Geräten liegen sollte. "In Bezug auf Smartphones ist dies noch oft der Fall, obwohl sie nur einen Teil des Kommunikationsbedarfs abdecken", kritisiert beispielsweise Jens Hirsch, Director Business Unit Networking beim Systemhaus Computacenter, die einseitige Orientierung in Richtung Smartphones. Und Margarete Schramböck, Vice President beim Systemintegrator NextiraOne, gibt noch einen anderen Punkt zu bedenken: "Beim Einsatz von Smartphones muss abgewogen werden, wie trotz der einfachen, benutzergetriebenen und schwer zu limitierenden Erreichbarkeit einerseits attraktive Leistungsmerkmale bereitgestellt und andererseits IT-Governance und Unternehmens-Policies etwa zur Sicherheit angemessen umgesetzt werden können."

Eine Herausforderung, der sich auch Bernd Achatz, Director Technical Operation bei Avaya Deutschland, bewusst ist. Sein Unternehmen propagiert mit dem "Avaya Desktop Video Device" (ADVD), volkstümlich auch als Avaya Flare bekannt, ein Tablet als Universalgerät für Telefonie, Videconferencing oder E-Mail. Bei dem Android-basierenden Device sind derzeit zusätzliche Apps gesperrt, um durch die tiefe Integration in die Unternehmens-IT nicht die Sicherheit zu gefährden. Allerdings plant der Hersteller einen Avaya Android Marketplace, der Avaya Apps wie auch Standard-Android-Apps bereitstellt. App Mai soll der Flare zudem für ausgewählte Apps frei sein. Konkurrent Cisco ist hier mit seinem multifunktionalen Kommunikationsgerät "Cius" schon einen Schritt weiter. Hier sind Apps erlaubt, da man auf die hauseigene Virtualisierungsinfrastruktur setzt und so eine Trennung von unternehmenskritischen Informationen und Dritt-Anwendungen sowie -Inhalten erreichen will. Vom iPhone-Erfolg inspiriert, setzt auch Alcatel-Lucent auf das App-Konzept. Mit dem "MyIC Phone" hat der Konzern ein Tischgerät entwickelt, das die Lücke zwischen hochverfügbarem Telefon und universell nutzbarem PC am Arbeitsplatz schließen soll.

Multifunktional und teuer?

Allerdings haben die multifunktionalen Kommunikationsterminals(im Bild das Avaya Flare) derzeit noch ihren Preis.
Foto: Avaya

Allerdings haben die modernen Kommunikationsgeräte noch ihren Preis. So steht das Avaya Flare mit 3360 Dollar in der Preisliste, und eine Starterbox mit zehn Geräten sowie zehn Video-Clients und Backend-Service schlägt mit 60.000 Dollar zu Buche, wobei die Preise je nach Ausstattung stark variieren. Bei Preisvergleichen ist jedoch zu beachten, inwieweit entsprechende Backend-Systeme bereits in die Kalkulation eingeflossen sind. Zudem muss ein Vergleich mit dem Videoconferencing erlaubt sein: Die ersten Highend-Telepresence-Systeme, welche die Entscheider auf dem C-Level von der neuen Anwendung Videokonferenz überzeugten, waren im Vergleich zu den dann folgenden Schreibtischanlagen ebenfalls preislich sehr hoch angesiedelt, zumal die Tablets als Grundlage für die Kommunikationsterminals dank leistungsfähigerer Hardware (Dualcore etc.) noch günstiger werden dürften.

Doch es müssen nicht immer gleich komplexe Lösungen sein, die das Telefon ablösen. Die Integration von Kommunikations- und Datenanwendungen lässt sich am Desktop auch auf dem PC mit Softphones und Headphones bewältigen. Wobei Letztere immer komfortabler sind und sich per Sensor automatisch ein- und ausschalten. Trotzdem bleibe "miteinander sprechen auch in Zeiten neuer Kommunikationsformen wie Social Networks die natürlichste und direkteste Art der Verständigung", gibt Michael Schreier, Vorstandsmitglied bei der C4B Com for Business AG, zu bedenken.