Von OS/2 auf Windows XP

Wenn Windows 7 zu spät kommt

30.09.2010 von Wolfgang Sommergut
Wie bitte? Ein Umstieg auf Windows XP im Jahr 2010? Das Migrationsprojekt der Westfälischen Provinzial zeigt, dass für aufgabenorientierte Tätigkeiten eine ältere Systemsoftware gute Dienste leisten kann.
Außen chick und neu, innen bewährt
Foto: Wolfgang Sommergut

Der letzte Systemwechsel in den Versicherungsagenturen der Westfälische Provinzial erfolgte 1999 - mit dem Umstieg von MS-DOS auf OS/2. In diesem Zuge ersetzte das Versicherungsunternehmen seine Agentursoftware "GKS" durch die umfassendere Point-of-Sales-Lösung "Prima", die in Zusammenarbeit mit Brainforce entwickelt worden war.

Die Systemwahl war allerdings nicht durch die Anwendung erzwungen, denn es gab sie in einer Version für Windows und OS/2. Vielmehr fiel die Entscheidung zugunsten von OS/2 damals trotz der unübersehbaren Desktop-Dominanz von Microsoft aus dem Grund, weil die Westfälische Provinzial intern ebenfalls OS/2 einsetzte und daher für das IBM-System wesentlich mehr Know-how besaß als für Windows. Zudem erschien den Verantwortlichen OS/2 technisch wesentlich ausgereifter als die Microsoft-Alternative NT 4.

Projektsteckbrief

  • Branche: Versicherungen.

  • Projektart: Client-Migration von OS/2 auf Windows.

  • Kernprodukte: IBM OS/2, Windows XP, POS-Software Prima, Open Office.

  • Systemumgebung: OS/2, Windows.

  • Zeitrahmen: Das Projekt begann im Frühjahr 2008; bis zum zweiten Quartal 2010 wurden bei 561 Agenturen insgesamt mehr als 12.000 Geräte (Assets mit Inventarnummern) ausgetauscht.

  • Aufwand: Der eigentliche Rollout dauerte 49 Tagen; dabei wurden mehr als 200 Tonnen Hardware über insgesamt 80.000 km transportiert.

  • Ansprechpartner: Siegfried Achterholt, Projektleiter bei der Gesellschaft für angewandte Versicherungs-Informatik (GaVI).

Schwindende Hardwareunterstützung

Mit dem Rollout betraute der Versicherer einen Dienstleister.
Foto: Wolfgang Sommergut

Aufgrund der klar definierten Desktop-Anforderungen in den Agenturen machte sich in den Folgejahren der Mangel an OS/2-Software nicht großartig bemerkbar. Vielmehr war es die schwindende Verfügbarkeit von Hardwaretreibern, die die Nutzung der PCs beeinträchtigte. Die Druckerhersteller etwa entwickelten schon lange keine OS/2-Treiber mehr. Deshalb beauftragte das Versicherungsunternehmen die Innotek GmbH aus dem baden-württemberigschen Weinstadt mit der Wartung von OS/2 und der Entwicklung von Treibern.

2005 gelang es noch, die Client-Hardware in den Agenturen zu erneuern. Aber als IBM für den 31. Dezember 2006 das Ende des Supports von OS/2 ankündigte, zeichnete sich ab, dass der nächste Systemwechsel unumgänglich war.

Anfang 2008 startete das Migrationsprojekt unter dem Codenamen "PrimaWin". Mit der Umsetzung wurde die Gesellschaft für angewandte Versicherungs-Informatik (GaVI) beauftragt.

Entscheidung für Windows XP

Angesichts der Marktverhältnisse bei Desktop-Betriebssystemen war klar, dass eine Microsoft-Lösung die besten Chancen hätte. Doch wollte sich die Westfälische Provinzial möglichst lange auch die Linux-Option offenhalten. Aus diesem Grund entschied sie sich, einige externe Module, die von der Point-of-Sales-Software Prima aufgerufen wurden, also beispielsweise den Firmenkunden-Tarifrechner, von Pascal nach Java zu portieren. Auch die geplante Ablösung des Textverabeitungsprogramms "Euroscript" durch OpenOffice wäre unter Linux realisierbar gewesen. Doch das Betriebssystem-Rennen machte schließlich doch Microsoft mit Windows.

Im Rollout-Center in Witten arbeiteten 15 feste Techniker und ein knappes Dutzend Hilfskräfte mehr als dreieinhalb Monate.
Foto: Wolfgang Sommergut

Es war eigentlich naheliegend, von OS/2 gleich auf die neueste Windows-Version umzusteigen. Zum Projektstart im Jahr 2008 war die aktuelle Ausführung des Microsoft-Betriebssystems, Vista, bereits mehr als ein Jahr auf dem Markt. Das SP1, das viele Anwender grundsätzlich abwarten, war gerade erschienen. Allerdings hatte sich der XP-Nachfolger zu diesem Zeitpunkt bereits einen schlechten Ruf eingehandelt. "Vista war besonders ressourcenhungrig", so GaVI-Projektleiter Siegfried Achterholt, "und es versprach im Vergleich zu XP keine wesentlichen Vorteile." Der hohe Speicherbedarf von Vista erleichterte die Entscheidung zugunsten des Vorgängermodells - obwohl der vom Hersteller gebotene Support für das ältere Betriebssystem naturgemäß früher auslaufen würde als der für die aktuelle Ausführung.

Im Verlauf des Projekts wurde der Release Candidate von Windows 7 lanciert. Das löste in der Westfälischen Provinzial eine Diskussion darüber aus, ob man nicht gleich auf die neueste Version des Betriebssystems wechseln solle. Allerdings sollte die erst gegen Ende 2009 auf den Markt kommen, und diese Verzögerung ließ sich mit dem Zieltermin des Projekts nicht vereinbaren.

Der Support für XP wird laut Microsoft am 8. April 2014 auslaufen. Achterholt sieht hier noch genügend Spielraum für die erneute Umstellung auf eine aktuellere Windows-Version. Diese Überzeugung lässt sich auch nicht durch die von Gartner aufgezeigte Problematik erschüttern, dass neuere Versionen von Anwendungssoftware unter XP schon bald nicht mehr unterstützt werden könnten. Aufgrund der klar umrissenen Anforderungen in den Versicherungsagenturen spielen solche Überlegungen keine Rolle.

Zentrale Lösung als Zukunftsperspektive

Die Anwender waren laut Befragung sehr zufrieden mit dem Migrationsprojekt.
Foto: Westfälische Provinzial

Für die weitere Entwicklung der Agenturarbeitsplätze gibt es ganz andere Pläne. Hier will die Versicherung künftig auf ein stärker zentralisiertes Modell setzen. In Frage kommt ein Ansatz auf Basis von Terminal-Server und Citrix - unter anderem deshalb, weil das Unternehmen für die Vertragsauskünfte bereits eine solche Infrastruktur nutzt. Eine zweite Option besteht in der Einführung virtueller Desktops - oder gleich in der Umstellung auf ein Web-basierendes Modell. Durch die Portierung von Teilen der Agentursoftware nach Java steht diese Möglichkeit offen. Dazu müssen nur die Geschäftslogik auf einen Applikations-Server verlagert werden und der Browser als neues Frontend dienen.

Allerdings lassen sich mit den zentralisierten Alternativen wohl keine wesentlichen Kosteneinsparungen erzielen. Die Desktop-Nutzung durch die Versicherungsberater ist überwiegend als "aufgabenorientiert" klassifizierbar. Damit sind die Anforderungen andere als bei einer Nutzung durch "Wissenarbeiter". Dieser Unterschied manifestiert sich in der Bereitstellung "gemanagter Desktops", wie die gegen Veränderungen weitgehend abgeschotteten PCs im Microsoft-Jargon heißen. Der Verwaltungsaufwand für solche Maschinen ist vergleichsweise gering: Achterholt beschäftigt für Betrieb und Wartung der fast 600 Agenturen nur zwei Mitarbeiter.

Eine Umstellung auf virtuelle Desktops oder eine Citrix-Umgebung wäre zudem mit erheblichen Anfangsinvestitionen verbunden. Vor allem aber würden die Außendienstler immer noch eine Lösung für Beratungsgespräche benötigen, die beim Kunden vor Ort auch offline nutzbar ist, falls die WAN-/UMTS einmal nicht oder schlecht verfügbar sind. Damit spricht Vieles dafür, dass Windows XP bei der Westfälischen Provinzial noch eine ganze Weile seinen Dienst verrichtet.

Der Aufwand im Detail

  • Beim Systemwechsel schlugen nicht nur die Lizenzen für das Betriebssystem und die neue Hardware zu Buche, sondern erwartungsgemäß auch die Anschaffung und Anpassung von Software für Windows.

  • Hinzu kamen die Kosten für diverse Utilities wie Virenscanner und PDF-Tools, die neu angeschafft werden mussten; sie allein machten einen hohen sechsstelligen Euro-Betrag ausmachten.

  • Weitere Ausgaben fielen für die Client- und Server-Lizenzen der IBM-Datenbank DB2.

  • Die Dimensionen des Projekts werden auch aus dem zeitlichen Aufwand der Dienstleister ersichtlich: Gemeinsam wandten GaVI, Fachbereiche und die ebenfalls involvierte Provinzial NordWest VersicherungsInformatik GmbH mehr als 2000 Personentage auf.

  • Für den Rollout beauftragte der Versicherer zudem einen externen Dienstleister.