Ratgeber Cloud-Migration

Warum der Blick auf jede einzelne App zählt

07.09.2023 von Volker  Gruhn und Pascal Reddig
Cloud Computing ist für die meisten Unternehmen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Doch erfolgreich sind vor allem diejenigen, die sich in der Migration jede Anwendung einzeln vornehmen.
Bei der Cloud-Migration muss jede Anwendung einzeln in die Hand genommen und geprüft werden. Pauschale Lösungen gibt es nicht.

Erinnern Sie sich noch? "Work and Life with the Cloud" - dieses Motto gab die Deutsche Messe AG im Jahr 2011 für die CeBIT aus, in IT-Zeiträumen gemessen also vor einer Ewigkeit. Die CeBIT ist längst Geschichte, aber das Interesse an Cloud Computing ist größer denn je. Cloud-Technologien scheinen sogar gerade erst so richtig durchzustarten. Selbst Branchen, die aufgrund hoher regulatorischer Anforderungen bislang eher Berührungsängste hatten, zeigen sich inzwischen offen.

Die Vorteile von Cloud-Anwendungen liegen ja auch auf der Hand: kürzere Software-Entwicklungszyklen, mehr Sicherheit, eine bessere Performance, höhere Verfügbarkeit und geringere Kosten sind hier beispielhaft zu nennen. Andererseits hat das heutige Angebot an Cloud-Services nicht mehr viel mit dem der seligen CeBIT-Zeiten zu tun. Die Hyperscaler Amazon Web Services (AWS), Microsoft und Google Cloud Platform bieten Unternehmen umfassende Leistungspakete an, die die Firmen in vielen Nuancen konfigurieren können.

Cloud kann den Unterschied machen

Auf dem Feld der Cloud-Technologien kann sich heute der Unternehmenserfolg entscheiden - vorausgesetzt die Betriebe finden für sich die passende Organisationsform und ein angemessenes Verständnis von Daten. Mehr über diese Zusammenhänge lesen Sie in dem Artikel Warum eine "neue Schule der IT" her muss.

Was Unternehmen gerade erleben, ist eine fundamentale Veränderung ihrer IT: Cloud entwickelt sich zum Standard. Sie wird zum Dreh- und Angelpunkt für Entwicklung, Auslieferung und Betrieb. Dabei startet jedes Unternehmen seine Cloud-Reise von einem anderen Punkt, es bringt eigenes Gepäck mit und verfolgt eigene Ziele.

Um solche individuellen Besonderheiten zu berücksichtigen, bedarf es eines Vorgehensmodells. Ziel der Verantwortlichen muss es sein, von den Vorteilen zu profitieren, ohne die Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Ein Schlagwort, dass hier immer wieder auftaucht, ist Cloud Native. Es bedeutet, dass Unternehmen in ihrer Software-Entwicklung und ihrer Infrastruktur durchgängig auf Cloud-Verfahren setzen. Auf technischer Ebene verbergen sich hinter dem Begriff eine ganze Reihe von Architekturen, Prozessen und Werkzeugen.

Microservices auf Docker-Containern

Fachleute nutzen typischerweise Microservices, die auf Docker-Containern laufen. Zudem richten sie DevOps-Prozesse für das Entwickeln und Ausliefern auf Cloud-Plattformen ein. So konfigurierte Applikationen nutzen Vorteile wie Skalierung, Stabilität oder kürzere Entwicklungszeiten konsequent aus. Der Anteil der betrieblichen Aufgaben (Operations) wird kleiner, die Betonung liegt auf Development.

In Unternehmen geht es dabei nicht um einige wenige Anwendungen oder einfache Webservices. Die Verantwortlichen müssen ihre komplexe IT-Struktur mit hunderten oder tausenden Applikationen im Blick haben. Jede dieser Anwendungen erfordert ein angepasstes Vorgehen. Eine komplette Cloud-native-Modernisierung der ganzen Landschaft auf Biegen und Brechen lohnt sich meist nicht. Manchmal fehlt es dazu schlicht auch an den benötigten Kompetenzen in der IT-Abteilung.

Auch das reine Lift & Shift bringt nicht die erhofften Vorteile. Mit Lift & Shift verschieben Unternehmen den Workload nur vom eigenen in ein anderes Rechenzentrum. Betrieb, Aktualisierung der Systeme und Verwaltungsaufgaben sorgen für einen ähnlichen Aufwand wie vorher. Da Unternehmen nicht alles von jetzt auf gleich umstellen können, kann dieses Vorgehen in Einzelfällen sogar zu zusätzlicher Arbeit führen, müssen die Verantwortlichen doch zeitweise zwei Rechenzentren managen. Trotzdem kann eine Lift & Shift-Entscheidung für einzelne Anwendungen sinnvoll sein.

Cloud Native - die Vorteile im Überblick

Um von allen Vorteilen eines modernen Cloud-Rechenzentrums zu profitieren, ist eine Cloud-native Umsetzung nötig. Ein wichtiges Element dafür ist das Virtualisieren der Infrastruktur als "Infrastructure as Code". Das ermöglicht einen dynamischen, ortsunabhängigen und elastischen Betrieb und rückt die Infrastruktur direkt in die Nähe der Entwicklerinnen und Entwickler einer Anwendung. Die Infrastruktur existiert nur, wenn sie auch wirklich genutzt wird. Unternehmen müssen nicht alle Systeme im 24/7-Betrieb lassen. So reicht beispielsweise bei Entwicklungssystemen häufig eine Variante wie 9/5. Dies spart Ressourcen und Kosten ein.

Ein weiterer wichtiger Baustein sind Managed Services. So lösen sich Unternehmen vom Betrieb dieser Anwendungen und übergeben die Verantwortung in die Hände des Hyperscalers. Durch die Verwendung von Serverless-Komponenten wie Cloud Run spielt auch das Betriebssystem keine Rolle mehr – und damit auch die die Verwaltung, das Aktualisieren und das Patchen von Sicherheitslücken. Auch das übernimmt der Hyperscaler.

Durch Event-driven Development "steuert" sich eine Anwendung selbst. Ein Event bedingt ein zweites, das dann erst einen benötigten Workload startet. Entsprechend müssen die Anwendungen und auch Ihre Infrastruktur nicht ständig laufen, um verfügbar zu sein. Beispielsweise kann das Erstellen einer Bild-Datei in einem Cloud Storage die Cloud-Funktion für das Erzeugen verschiedener Auflösungen dieses Bildes triggern.

Ein zentraler Vorteil: IT-Ressourcen sind so keine Investitionskosten mehr, sondern können in Nutzungskosten umgewandelt werden (Pay as you go). Eine Nutzertransaktion generiert nicht nur einen direkten Umsatz, sondern die Verantwortlichen können dank der eingesetzten Cloud-Technologien auch die direkten Kosten ermitteln. Dies hilft beispielsweise beim Bewerten von Geschäftsmodellen – und es erleichtert das Ausprobieren neuer Ideen.

Im Mittelpunkt steht also nicht die Frage: Cloud - ganz oder gar nicht? Tatsächlich führen viele Wege zum Erfolg, und eine Vielzahl von Anbietern, Technologien und Konzepten prägt den Markt. Unternehmensverantwortliche stehen vor der Aufgabe, aus der breiten Angebotsplatte das für sie passende Gesamtpaket zusammenzustellen. Ein Paket, das zu den eigenen Anforderungen, Strukturen und Rahmenbedingungen - insbesondere zu den Governance- und Compliance-Regelungen - passt.

Ein systematisches Vorgehen beim Aufgleisen und Umsetzen von Cloud-Projekten hilft den Beteiligten, der Komplexität Herr zu werden.

Vier Schritte - ein Ziel

In der Praxis hat sich ein vierstufiger Prozess bewährt, der den strategischen Rahmen des Gesamtprojektes setzt. Er trägt dazu bei, den Beteiligten die operative Umsetzung zu erleichtern.

Die Cloud-Migration von Anwendungen erfolgt in einem vierstufigen Prozess
Foto: adesso

1. Advise - von der IT- zur Cloud-Strategie

Cloud-Konzepte sind eingebunden in bestehende Organisationen und vorhandene Prozesse. Die IT-Strategie des Unternehmens gibt vor, welche Rolle die Cloud spielen soll und wie diese Rolle auszugestalten ist. Wichtig dabei ist, dass die Zielsetzung und Vision des Business nicht mehr isoliert von den Möglichkeiten der Cloud betrachtet wird. Aus beidem zusammen gilt es, die "Cloud Business Vision" abzuleiten.

Dieses Vorgehen gibt die Leitplanken für den Umgang mit der Cloud vor: Welche generellen Zielvorgaben sind zu berücksichtigen? Welchen Handlungsspielraum ermöglicht das Management? Wie sieht die Roadmap aus, die sich daraus ableiten lässt? Welche Punkte ergeben sich aus Governance- und Compliance-Vorgaben? Wie muss eine Organisationsform aussehen, die bereit für die Cloud ist (Sichtwort Cultural Change Management)?

Auch organisatorische Aspekte sollten die Entscheider im Blick haben: Welches Fachwissen ist nötig und welches bringt das vorhandene Team mit? Wo sind die Skill-Lücken? Welche Aufgaben sind für das Gelingen von Cloud-Projekten ist der Gleichklang aus Organisation, Prozessen und Technologien entscheidend? Allen Aspekten müssen die Teams gleichermaßen Aufmerksamkeit schenken.

2. Envision - von der Cloud- zur Migrationsstrategie

Auf dieser Basis erarbeitet das Projektteam einen Fahrplan für das Umsetzen der Cloud-Aktivitäten. Zunächst muss es die Details der IT-Landschaft verstehen und bewerten. Die Beteiligten verschaffen sich dazu einen Überblick über die genutzten Anwendungen. Sie analysieren die dazugehörigen Entwicklungs- und Betriebsprozesse. Gleichzeitig bewerten sie die Bedeutung der Systeme für die IT und den unternehmerischen Erfolg. Details dazu finden Sie weiter unten "Die Optionen".

3. Build & Deploy - das Umsetzen der Strategie

Die Beteiligten setzen je nach Bewertung einer Applikation das passende Szenario ein. Wie bereits erläutert, sind unterschiedliche Optionen und Ausführungen denkbar: von der Neuentwicklung als Cloud-native-Anwendung bis zum Abschalten. Zwischen diesen beiden Polen existieren weitere Abstufungen, die einzelne Elemente der Varianten kombinieren. So entsteht, Schritt für Schritt und Applikation für Applikation, eine optimale IT-Landschaft in der Cloud.

4. Run & Enhance - der alltägliche Betrieb

Der Betrieb und das kontinuierliche Verbessern dieser Landschaft stehen am Ende des Prozesses. Dazu gehört das kontinuierliche Bewerten von Applikationen sowie das Überwachen der Lauf- und Leistungsfähigkeit. Hinzu kommt das Prüfen neuer Technologien oder alternativer Angebote.

Von besonderer Bedeutung für den Erfolg dieses Vorgehens ist das Bewerten der einzelnen Applikation. Diesem Thema widmet sich der folgende Abschnitt.

Die Optionen

Am Anfang steht die Inventur, und die fördert häufig so manche Überraschung zutage. Das gilt etwa für Anwendungen, die - unbemerkt vom IT-Betrieb - in den Fachabteilungen ihren Dienst verrichten. Oder für Erweiterungen, die irgendwer vor Jahren gefordert hat, die aber de facto kaum oder gar nicht genutzt werden.

Auf die Bestandaufnahme folg das Assessment. Die folgende Abbildung beschreibt ein mögliches Vorgehen anhand eines vereinfachten Modells, wobei die angenommene IT-Landschaft eines Unternehmens aus nur drei Anwendungen besteht. Die Verantwortlichen prüfen und bewerten jede Applikation, in diesem Beispiel auf der Basis von drei Kriterien:

Mögliches Vorgehen für das Assessment von Apps bei der Cloud-Migration.
Foto: adesso

Diesen Kriterienkatalog können die Projektbeteiligten beliebig erweitern oder verändern. Je nach Ausgangssituation spielen sicher auch rechtliche Rahmenbedingungen eine Rolle. In der Praxis sind es meist mehr als ein Dutzend Merkmale, die in die Bewertung einfließen.

Exkurs: Green IT

Für die Überlegungen vieler Verantwortlicher spielen Aspekte wie Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle, Stichwort "Green IT". Auch dieses Kriterium kann in das Assessment einfließen. Den Überblick über den CO2-Verbrauch der eigenen Infrastruktur können Unternehmen nur mühsam ermitteln. Viele Cloud-Anbieter liefern diese Daten mittlerweile "out of the box". Sie bieten Dashboards, mit denen man den CO2-Verbrauch bis auf Applikation und Applikationsbaustein herunter monitoren, analysieren und somit optimieren kann.

In dem simplen Beispiel steht am Ende eine Reihenfolge der drei betrachteten Anwendungen. Ist die Applikation wichtig, nutzen sie viele Personen und ist der Grad der Komplexität gering? Trifft das alles für eine Applikation zu, ist sie ein guter Kandidat für eine Cloud-native-Aufbereitung. Hier können Unternehmen schnell die Früchte ihres Investments ernten. Ein anderes Vorgehen empfiehlt sich sicher, wenn die Auswirkungen auf das Geschäft gering sind, wenige Anwender mit der App arbeiten und zudem eine hohe Komplexität beim Umbau zu erwarten ist.

Mit einer solchen Vorgehensweise können die Entscheiderinnen und Entscheider auch komplizierte IT-Landschaften Applikation für Applikation durchforsten. Am Ende steht eine nach Priorität geordnete Liste.

Für jedes Element auf dieser Liste ergibt sich eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten. Man spricht von den "fünf R". Die folgende Übersicht vermittelt einen Eindruck.

Inventarisierung und Kategorisierung von Anwendungen vor der Cloud-Migration.
Foto: adesso

Mit den Ergebnissen des Assessments im Gepäck und dieser Liste möglicher Alternativen vor Augen haben die Beteiligten alles beieinander, um ihren individuellen Weg in die Cloud zu gehen.

Fazit: Ein genauer Blick auf die Anwendungen muss sein

Die Ausführungen zeigen: Die Möglichkeiten sind vielfältig, die Zusammenhänge oft so komplex, dass es ein einfaches "in die Cloud gehen" schlicht nicht gibt. Sollen Cloud-Technologien und -Angebote ihre volle Durchschlagskraft entfalten, führt an einem genauen Blick auf die einzelne Anwendung kein Weg vorbei. (hv)