Vor zwei Jahren hat Canonical im Rahmen des Unity-Projekts mit einem Totalumbau des Ubuntu-Desktops begonnen. Diese Arbeit trägt nun Früchte: Die Benutzeroberfläche von Ubuntu Linux ist nicht wiederzuerkennen. Unity sieht ansprechend aus und ist gleichermaßen intuitiv und effizient zu bedienen. Die eine oder andere Ähnlichkeit zu Apples OS X ist unübersehbar, etwa beim Zentralmenü, bei den auf die linke Seite gerückten Fenster-Buttons oder bei den schmalen Scroll-Balken.
Ubuntu punktet aber auch mit vielen eigenständigen Ideen: Besonders gut gelungen ist das Head-up-Display-Menü (HUD-Menü): Hinter dieser sperrigen Bezeichnung verbirgt sich die Möglichkeit, mit der Alt-Taste und der Tastatur einen Menüeintrag auszuwählen. Beispielsweise zeigt die Eingabe <Alt> lese alle Menükommandos an, die den Suchbegriff lese enthalten. In Firefox sind dies unter anderem Lesezeichen|Lesezeichen hinzufügen, Ansicht|Sidebar|Lesezeichen und Ansicht|Symbolleisten|Lesezeichen.
Mit den Cursortasten kann nun das gewünschte Kommando ausgewählt werden. Ubuntu merkt sich die Auswahl und zeigt oft benutzte Kommandos in Zukunft an oberster Stelle an. Es dauert einen Tag, vielleicht auch zwei, um sich an dieses neue und vollkommen optionale Konzept zu gewöhnen - aber dann möchte man es nicht mehr missen.
Generell lässt sich Ubuntu sehr gut mit der Tastatur bedienen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Windows-Taste (beziehungsweise die cmd-Taste, falls Sie mit einer Apple-Tastatur arbeiten): Wird diese Taste kurz gedrückt, erscheint das Startmenü, in der Ubuntu-Nomenklatur auch Launcher genannt. Dort stehen die zuletzt ausgeführten Programme zur Wahl; außerdem können Sie per Tastatur oder mit Filtern ein bestimmtes Programm aus der riesigen Palette der Ubuntu-Anwendungen suchen. Weiteren Ansichten (so genannte lenses) erleichtern den Zugriff auf zuletzt genutzte Dokumente, Verzeichnisse, Audio- und Video-Dateien.
Daneben gibt es eine Menge Tastenkombinationen, die die Windows-Taste nutzen: Windows+1 bis Windows+9 startet die ersten neun Programme im Dock (die Menüleiste am linken Bildschirmrand). Windows+W zeigt alle Fenster, Windows+S alle Arbeitsflächen in einer Exposé-Ansicht etc. Zum Glück müssen Sie sich die neuen Tastenkürzel nicht merken. Wenn Sie die Windows-Taste für längere Zeit gedrückt halten, blendet Ubuntu eine Tabelle mit allen wichtigen Tastenkürzeln ein.
Unübersehbar ist, dass Canonical ein eigenes Design-Team abgestellt hat, um den Desktop so attraktiv wie möglich zu gestalten. Dabei hat man sich nicht mit Kleinigkeiten wie dem Startmenü oder den Bildlaufleisten begnügt: Unter Ubuntu kommt sogar eine eigens entwickelte Schrift zum Einsatz. Der Font trägt wenig überraschend ebenfalls den Namen Ubuntu.
Video: Der Ubuntu-Desktop (Unity) (Teil 1/3)
Der Ubuntu-Desktop ist durch zwei Programme geprägt: Zum einen das Desktop-System Gnome und zum anderen die Compiz-Erweiterung Unity. Jene beiden Komponenten verleihen Ubuntu sein unverwechselbares Erscheinungsbild und ermöglichen eine besonders einfache und intuitive Bedienung.
Ubuntu Software-Center und Ubuntu One
Apple gebührt das Verdienst, die Begriffe App Store und Cloud auch außerhalb der IT-Szene bekannt gemacht zu haben. Weniger bekannt ist, dass es unter Ubuntu sowohl einen App Store als auch ein Cloud-System schon lange gab - nur unter anderen Namen.
Im Ubuntu Software-Center präsentiert Ubuntu die riesige Palette der Open-Source-Programme, die nachträglich installiert werden können. An der Gestaltung des Programms wurde für Ubuntu 12.04 nochmals gefeilt. Das Programm macht nun einen kommerziellen Eindruck und führt damit in die Irre: Die ganz überwiegende Mehrheit aller im Software-Center verfügbaren Programme ist weiterhin kostenlos. Lediglich einige wenige Spiele sowie diverse eBooks können käuflich erworben werden. Wesentlich wichtiger ist aber, dass Ubuntu damit die Infrastruktur für kommerzielle Linux-Software-Anbieter geschaffen hat.
Ubuntus Cloud-System trägt den Namen Ubuntu One. Im Funktionsumfang kann es aber nicht mit der iCloud mithalten, sondern ist eher mit Dropbox vergleichbar: Ubuntu One ermöglicht die Synchronisation eines oder mehrerer Verzeichnisse über mehrere Ubuntu- und Windows-Rechner. Bis zu einem Datenumfang von 5 GByte ist dieser Service kostenlos. Der Zugriff auf die Dateien ist auch über die Ubuntu-One-Webseite sowie mittels iPhone- oder Android-Apps möglich. Außerdem ist Ubuntu One die Basis des Ubuntu One Music Stores, der den Einkauf von MP3-Dateien im Audio-Player Rhythmbox ermöglicht.
Video: Ubuntu - Programme installieren (Teil 2/3)
Gleich nach der Installation des Ubuntu-Betriebssystems haben Sie die Auswahl zwischen dutzenden von Anwendungsprogrammen. In den Ubuntu-Paketquellen im Internet finden Sie noch tausende weitere.
Ubuntu 12.04 - die Schwachstellen
Eigentlich ist das in der Ubuntu-Distribution enthaltene Software-Paket überkomplett: Es reicht vom Office-Paket über Audio- und Video-Player bis hin zur Bildverarbeitung und Fotoverwaltung. Die einzige offensichtliche Lücke ist aber schwerwiegend: Wer Kontakte und Termine organisieren und diese mit seinem Smartphone oder Tablet abgleichen möchte, bleibt erstmals im Regen stehen.
Zur Verwaltung von Kontakten sieht Ubuntu den E-Mail-Client Thunderbird vor. Das Adressbuch von Thunderbird kann aber bestenfalls als Notlösung durchgehen: Die dort gespeicherten Kontakte können in anderen Ubuntu-Programmen nicht genutzt werden, die Bedienung des Adressbuchs ist alles andere als elegant, und zur Synchronisation der Kontakte mit denen eines Google-Mail-Kontos ist die Installation eines Add-ons erforderlich (zum Beispiel Google Contacts).
Noch schlimmer sieht es bei der Terminverwaltung aus: Die Standardinstallation sieht überhaupt kein Programm für diesen Zweck vor. Abermals können zwei Thunderbird-Add-ons als Ausweg dienen (Lightning in Kombination mit dem GData Provider), aber empfehlenswert ist das eigentlich nur für Linux-Freaks.
Natürlich ist es nicht die Schuld von Canonical, dass Apple seine Geräte samt der iCloud abschottet (Stichwort »goldener Käfig«), aber dass das meist verbreitete Linux-Desktop-System (Ubuntu) nicht besser mit auf Linux basierenden Smartphones (Android) kooperiert, ist ein Trauerspiel.
Ein zweiter Kritikpunkt an Ubuntu sind die, vor allem für Linux-Freaks, unzureichenden Konfigurationsmöglichkeiten. Die Neugestaltung des Desktops hat Canonical in den vergangenen zwei Jahren keineswegs nur Lob eingebracht: Gerade langjährige Linux-Anwender fühlten sich von den aufgezwungenen Änderungen überrumpelt.
Canonical hat darauf teilweise reagiert und bietet mit dem Konfigurationswerkzeug MyUnity nun mehr Einstellmöglichkeiten. Dennoch ist mit Unity ein Teil der Gestaltungsfreiheit, die nun einmal Bestandteil der Linux-Philosophie ist, verloren gegangen. Zu einer echten Abwanderung von Ubuntu-Projekt ist es bislang nicht gekommen, vermutlich auch mangels geeigneter Alternativen. Dennoch muss Canonical aufpassen, dass es im Rahmen der Ubuntu-Modernisierung nicht den Kontakt zur Open-Source-Community verliert.
Video: Ubuntu - Bilder verwalten mit Shotwell (Teil 3/3)
Die digitale Bilderflut bewältigen Sie am komfortabelsten mit dem Programm Shotwell. Mit dem Programm können Sie neue Bilder importieren sowie das bestehende Bildarchiv organisieren.
Interna und Ubuntu Server
Der Ubuntu-Desktop wird üblicherweise einfach Unity genannt. Genau genommen bezeichnet Unity aber nur ein Plugin, das für die Fensterverwaltung sowie für die Darstellung des Panels, des Docks und des Startmenüs verantwortlich ist. Ansonsten basiert der Ubuntu-Desktop weiterhin auf den Projekten Gnome und Compiz, die auch in anderen Distributionen zum Einsatz kommen.
Zusammen mit Ubuntu wird nahezu die gesamte aktuelle Palette von Open-Source-Anwendungen in der gerade aktuellen Version mitgeliefert: Dazu zählen der Webbrowser Firefox, das E-Mail-Programm Thunderbird, das Fotoverwaltungsprogramm Shotwell, das Bildverarbeitungsprogramm Gimp, der Audio-Player Rhythmbox und das Office-Paket LibreOffice, um nur die wichtigsten Programme zu nennen. Hinter den Kulissen läuft der Kernel in der Version 3.2 und das Xorg-Grafiksystem in der Version 1.11.
Für all diese Programme wird Ubuntu fünf Jahre lang kostenlos Bugfixes und Sicherheits-Updates zur Verfügung stellen. Der lange Update-Zeitraum ist ein besonderes Merkmal der LTS-Versionen (Long Term Support) von Ubuntu, die es nur alle zwei Jahre gibt. Aber selbst innerhalb der LTS-Versionen nimmt Ubuntu 12.04 eine Sonderrolle ein: Erstmals hat sich Ubuntu dazu verpflichtet, auch alle wesentlichen Desktop-Programme über fünf Jahre zu pflegen. Bisher galt der Update-Zeitraum von fünf Jahren nur für Server-Komponenten, während für den Desktop ein verkürzter Zeitraum von drei Jahren galt.
Ubuntu 12.04 ist auch für Server-Administratoren eine interessante Version: Wegen des langen Wartungszeitraums werden LTS-Versionen bevorzugt für Server-Anwendungen eingesetzt. Die Änderungen im Server-Bereich sind allerdings weniger umfassend als auf dem Desktop und konzentrieren sich auf die Themen Virtualisierung und Cloud. Bemerkenswert ist hier insbesondere die Integration der OpenStack-Pakete.
Enttäuschend ist der Umstand, dass sowohl Apache als auch PHP in den alten Versionen 2.2 bzw. 5.3 ausgeliefert werden. Aktuell sind seit einigen Monaten die Versionen 2.4 bzw. 5.4. Aus Stabilitätsgründen mag das momentan eine weise Entscheidung sein; andererseits wird Ubuntu 12.04 auf vielen Servern vier, fünf Jahre lang im Einsatz sein - und spätestens dann wird niemand mehr mit Apache 2.2 oder PHP 5.3 glücklich sein.
Ubuntu 12.04: Chancen und Risiken
Canonical verfolgt mit Ubuntu 12.04 ambitionierte Ziele: CEO Mark Shuttleworth hofft, dass innerhalb eines Jahres 20 Millionen neue PCs mit vorinstalliertem Ubuntu-Linux verkauft werden. Kooperationen mit HP, Dell, Lenovo und anderen PC-Herstellen sollen das möglich machen. Details dazu hat Shuttleworth nicht verraten.
Der PC-Markt ist aber nur ein Puzzleteil in den Plänen von Canonical: Ubuntu soll in Zukunft auch in TV-Geräten (Ubuntu TV) und auf Android-Handys laufen (Ubuntu for Android). Insbesondere letzteres klingt interessant: Ein leistungsfähiges Android-Smartphone könnte zusammen mit einer Docking-Station herkömmliche PCs ersetzen, alle Daten blieben auf einem Gerät. Freilich hatte diese Idee auch schon Motorola (in Form des Lapdock für das ATRIX-Smartphone), der Erfolg ist aber ausgeblieben.
Es bleibt also abzuwarten, ob sich Ubuntu als dritte Kraft auf dem Desktop-Markt etablieren und aus der Nische der Linux-Freaks und -Nerds ausbrechen kann. Noch fraglicher ist, ob Ubuntu die Grenzen des PC-Markts durchbrechen kann und auf Smartphones und anderen Geräten eine realistische Chance hat. Zu übermächtig erscheinen da die anderen Mitspieler, insbesondere Android.
Unklar ist auch, wie es Canonical gelingen kann, mit Ubuntu Geld zu verdienen: Ubuntu bleibt mit all seinen Updates kostenlos verfügbar. Die kommerziellen Zusatzangebote (etwa ein kostenpflichtiger Support, das Administrationswerkzeug Landscape oder Ubuntu One) haben bislang wenig Einnahmen gebracht. So ungern manche Open-Source-Fans das hören mögen: ein plausibles Geschäftsmodell wäre dem anhaltenden Erfolg von Ubuntu durchaus förderlich.
Sicher ist, dass der Linux-Desktop trotz Smartphones und Tablets noch lange nicht tot ist. Nach einem Jahrzehnt ohne nennenswerte Neuerungen sorgt Microsoft mit Windows 8 endlich für neue Impulse. Apple passt OS X mit Mountain Lion noch stärker an iOS an. Und Canonical ist mit Ubuntu 12.04 das Kunststück gelungen, mit eigenen Innovationen an vorderster Front dabei zu sein. Zumindest aus dieser Perspektive ist Ubuntu 12.04 ein Meilenstein. (wh)
Der Autor Michael Kofler hat unter anderem ein eBook zu Ubuntu 12.04 veröffentlicht.