Cloud Computing

Nicholas Carr über den "Big Switch"

17.11.2008 von Thomas Cloer
Der provokante Autor ("IT doesn't matter") Nicholas Carr hat nach seiner Grundsatzrede beim SIMposium 08 der Society for Information Management unseren Kollegen von der "Computerworld" Fragen zum seiner Ansicht nach bevorstehenden epochalen Wechsel auf das sogenannte Cloud Computing beantwortet.

Wir geben das Interview an dieser Stelle auszugsweise wieder.

Kann man der Cloud trauen?

CW: Die Cloud-Dienste "EC2" und "S3" von Amazon.com sind schon mehrfach ausgefallen, genauso wie Teile von "Google Apps". Warum sollten Fortune-1000-CIOs der Zuverlässigkeit der Cloud trauen?

CARR: Gute Frage. Wenn man sich den Leumund von Amazon.com oder Salesforce.com ansieht, dann sehen die Erfahrungen tatsächlich recht gut aus. Aber perfekt sind sie nicht - und ich denke, sie werden auch nie perfekt sein, genauso wenig wie die internen Systeme eines Unternehmens absolut zuverlässig sind. Wir werden aber ganz sicher erleben, dass die Zuverlässigkeit der Cloud-Systeme mit der Zeit steigt. Irgendwann werden sie, wenn sie das nicht heute schon sind, stabiler laufen als die durchschnittlichen firmeninternen Systeme.

Es werden sich in mehreren Schritten unterschiedliche Dinge in die Cloud verlagern. Eines der Kriterien dafür ist die Frage: "Wie zuverlässig muss dieses System denn eigentlich sein?". Vor ein paar Wochen habe ich zum Beispiel mit einigen Regierungs-CIOs gesprochen, darunter ein paar aus der Geheimdienste-Community, und es ist ganz klar, dass bestimmte Systeme einfach "kugelsicher" sein müssen. Und es wird lange dauern, bevor Unternehmen und Behörden solche Applikationen der Cloud anvertrauen.

Aber schon jetzt kann man sagen, dass ob es nun die Amazon-Infrastruktur oder andere Software-as-a-Service-Angebote sind, die Zuverlässigkeit schon heute für viele Unternehmensanwendungen gut genug ist.

CW: Neben Sicherheit und Zuverlässigkeit ist eines der Hauptbedenken von IT-Verantwortlichen auch die Frage, wie man die Abhängigkeit vom Cloud-Dienst eines bestimmten Anbieters vermeiden kann. Können Sie dazu etwas raten?

CARR: Ich denke, um einen Lock-in sollten sich die Kunden sorgen. Wenn wir die Interoperabilität und standardisierten Datenformate wollen, die eine einfache Migration ermöglichen, dann sind es die Käufer, die die Anbieter in diese Richtung bewegen müssen. Solange die Abnehmer das nicht als Grundvoraussetzung für die Geschäftsbeziehung mit einem Anbieter einfordern, fürchte ich, dass wie viele Hersteller sehen werden, die - auch wenn sie gern über Standardisierung reden - in Wahrheit Strategien verfolgen, die es schwer machen, von ihrer Wolke herunterzusteigen, um mal Mick Jagger zu zitieren (Anspielung auf den Stones-Song "Get off of my Cloud", Anm. d. Red.)

Anbieter, Infrastruktur, Anwendungen und die IT-Abteilung

CW: Wieviel Sorgen sollten sich CIOs darüber machen, dass Microsoft, Google und andere Schwergewichte die Cloud zu dominieren versuchen?

CARR: Wenn wir nach vorn schauen und versuchen, die letztliche Struktur der Cloud beziehungsweise der Computing-Utility-Industrie vorherzusagen, sind viele Fragen offen. Was die Infrastruktur-Seite betrifft, wird das auf jeden Fall ein sehr kapitalintensiver Betrieb. Firmen wie Google oder Microsoft investieren jedes Jahr Milliarden von Dollars. Ich glaube daher, dass aufgrund der nötigen hohen Investitionen in diese Netze es nur eine relativ kleine Anzahl von Lieferanten geben wird, die es sich leisten können, diese auszubauen.

Das lässt schon per se einige Warnlichter angehen. Eine andere Frage ist allerdings die nach den Diensten, den Anwendungen, die auf der Infrastruktur aufsetzen. Wird das ein separates Business mit vielen konkurrierenden Anbietern bleiben? Oder werden die Googles dieser Welt sich diese Applikationen ebenfalls einverleiben?

CW: Heißt das, es wird nur wenige Anbieter geben, die die Macht über sowohl die Infrastruktur als auch die Anwendungen haben?

CARR: Das weiß ich wirklich nicht. Hierbei wird Regulierung eine Rolle spielen - und auch die Fähigkeit einer Firma wie Google, Innovationen zu liefern, die für Unternehmen attraktiv sind, was bislang kaum der Fall war.

CW: Wie können denn CIOs den "Big Switch" schaffen, ohne ihre IT-Abteilungen zu dezimieren und ihren eigenen Job zu gefährden?

CARR: Einer der Vorteile der Cloud ist, dass sie damit nicht nur ihre Investitionen in IT, sondern auch die Mannstärke ihrer IT-Abteilung reduzieren können. Wäre das nicht der Fall, wäre sie nicht so attraktiv, einfach weil die Personalkosten ein so großer Block der IT-Gesamtkosten sind. CIOs sollten sich vorausschauend mit der Tatsache abfinden, dass dies möglicherweise ein Schrumpfen ihres Königreiches bedeutet.

Der positive Aspekt davon ist auf der anderen Seite, dass mit sinkendem Headcount ihre Sichtbarkeit und Bedeutung für das Business vielleicht steigt, wenn sie sich weniger um die Verwaltung von Maschinen, Applikationen und Lizenzen kümmern müssen und stattdessen stärker auf die Geschäftslogik fokussieren können. Wenn Sie allerdings denken "Ich kann nur etwas machen, bei dem ich meine bestehende Truppe behalte oder vergrößere", dann werden sie mit der Cloud vermutlich sehr schnell auf Hürden stoßen.

CW: Einige, vor allem große Unternehmen behalten, obwohl sie ihren IT-Betrieb ausgelagert haben, Outsourcing-Relationship-Manager und Business Analysts im Hause, die weiterhin mit den Endanwendern bei deren Bedürfnissen arbeiten. Glauben sie, dass sich dieses Modell auch auf die Cloud übertragen lässt?

CARR: Ich denke ja. Bei sehr einfacher Betrachtung ist Cloud Computing eine Form von Outsourcing, bei der man externe Dienstleister nutzt. Und es wird aus meiner Sicht auch vergleichbare Auswirkungen auf IT-Shops haben. Es wird eine Art Broker für Informationssysteme geben, der - ähnlich denen, die Outsourcing-Beziehungen verwalten - herausfindet, wie wir unsere Systeme, Anforderungen und Applikationen auf die Cloud-Anbieter verteilen.

Man braucht auch zukünftig jemanden, der die Verbindung zwischen dem Business und der Applikation herstellt. In einem radikalen Szenario könnte so jemand allerdings auch außerhalb der IT-Abteilung ins Business selbst wandern.

CW: Das ist doch in einigen Unternehmen schon geschehen?

CARR: Richtig.

Was das Internet unserem Gehirn antut

CW: Neulich in der Sendung "The Colbert Report" und auch in einem Essay für "The Atlantic" haben Sie gesagt, Google habe uns alle "verblödet". Es gibt aber auch Forschung, die zu dem Ergebnis kommt, dass das Internet tatsächlich bestimmte neurale Aktivität stimuliert. Wie bringt man diese beiden Sichtweisen unter einen Hut?

CARR: Das Internet kann wohl beides. Die Studie, von der Sie sprechen, kommt von einer kalifornischen Uni und zeigt auf, dass wenn wir das Internet verwenden, viele Bereiches unseres Gehirns aktiv sind, darunter Teile für das Treffen von Entscheidungen, die nicht aktiv sind, wenn man liest. Es könnte also durchaus gut dafür sein, das Gehirn in Schwung zu halten, wenn man älter wird. Die Wissenschaftler haben das mit dem Lösen eines Kreuzworträtsels verglichen.

Solche Übungen haben aber nichts zu tun mit der Qualität des Denkens, die in Ihrem Gehirn stattfindet. Ich frage mich, ob die Tatsache, dass so viele Teile des Hirns aktiviert sind, wenn man online ist, womöglich genau die Konzentration und Reflexion verhindert, die eintritt, wenn man sich in Ruhe zum Lesen hinsetzt.

CW: Stört denn die Internet-Nutzung zum Beispiel Ihre eigene Fähigkeit, über längere Zeiträume hinweg zu schreiben?

CARR: Ja, egal ob ich lese oder schreibe. Man gewöhnt sich im Netz sehr stark diese Dinge an, man nimmt ständige Ablenkung in Kauf und checkt alle drei Sekunden seine E-Mails. Es wird dann sehr, sehr schwer, sich hinzusetzen und das nicht mehr zu tun.

Ich habe für mich festgestellt, dass man sich dazu zwingen muss, sein E-Mail-System und seine Internet-Verbindung abzuschalten und sein Gehirn, Nervensystem oder was auch immer wieder umzugewöhnen. Es dauert eine Zeit, bis man die Fähigkeit zurückgewinnt, wieder einige Stunden am Stück zu schreiben. Ich schreibe auch ein Blog und stelle fest, dass diese Schreibtätigkeit eine ganze andere ist als ein Buch oder einen längeren, ausführlichen Artikel zu Papier zu bringen. Dafür muss man verschiedene Gänge des Gehirns einschalten, und man hört regelrecht das Krachen aus dem Getriebe.

CW: Bei dieser Konferenz ging es sehr stark darum, dass CIOs ihre Einstellung gegenüber der IT ändern müssen, insbesondere im Licht der aktuellen Finanzkrise. Was sind Ihre Vorschläge dazu?

CARR: Auf jeden Fall bleiben die Kosten ein wichtiger Faktor - daran haben sich CIOs in diesem Jahrzehnt so oder so längst gewöhnt. Eine vernünftige Nutzung der Cloud kann in dieser Hinsicht helfen, weil sie Ihnen erlaubt, Kapitalinvestitionen zu vermeiden.

Andererseits tendieren Unternehmen gerade in wirtschaftlich unruhigen Zeiten dazu, besonders konservativ zu agieren, so dass selbst das Experimentieren mit neuen Modellen wie Cloud Computing sich möglicherweise schwierig gestaltet. Aber im Vergleich zu vor ein paar Jahren gibt es auf jeden Fall mehr Möglichkeiten, mehr IT-Kapazität für das gleiche oder sogar für weniger Geld zu bekommen. Firmen sollten sich nicht scheuen, diese Möglichkeiten auszuprobieren und damit zu experimentieren.

Virtualisierung als sinnvolle Vorstufe

CW: Eine der Techniken, mit denen CIOs in den vergangenen Jahren aus Kostengründen gearbeitet haben, ist die Virtualisierung von Servern und Storage. Könnte diese nicht große Unternehmen, die hier bereits viel investiert haben, zumindest kurzfristiger von einem vollumfänglichen Umstieg auf Cloud Computing abhalten?

CARR: Ich glaube ohnehin nicht, dass große Unternehmen in großem Maßstab auf die Cloud umsteigen werden, einfach weil die Cloud noch nicht bereit ist für all die Dinge, die Konzerne mit ihrer internen IT erledigen.

Wenn Sie aber Ihre interne IT virtualisieren, wird es dadurch auf lange Sicht einfacher, mehr und mehr Dienste aus der Cloud heraus zu beziehen, oder die Cloud mehr oder weniger als Erweiterung ihres eigenen Rechenzentrums zu nutzen - so dass, wenn eine bestimmte Applikation plötzlich höhere Anforderungen stellt, Sie nicht mehr jedes Mal einen Haufen neue Server kaufen müssen. Sie können die Cloud als eine Art Add-on verwenden und dahinein expandieren.