Mit Standardsoftware aus der Krise

28.07.2004 von Karin Quack
Vor vier Jahren dümpelten die Geschäfte der Versicherungsgruppe Deutscher Ring noch vor sich hin. Heute ermöglicht eine standardisierte IT-Landschaft mit durchgängigen Systemen neue Geschäftsmodelle, so dass der Konzern dem Branchendurchschnitt davonsegelt.

Im Zentrum statt in der Peripherie: In der Fassade des Deutschen-Ring-Gebäudes spiegelt sich der Hamburger Michel. Foto: Deutscher Ring

"Wir sind die Vorsorge-Versicherung des normalen Angestellten." So beschreibt Walter Klein das Kerngeschäft der Unternehmensgruppe, in deren Vorständen er für IT und Services verantwortlich zeichnet. Während sich eine Vielzahl anderer Assekuranzunternehmen um die betuchten Privatkunden balgen, hat der Deutsche Ring seine Zielgruppe in der breiten Schicht der Normalverdiener gefunden. "Deshalb müssen wir standardisierte Produkte in hoher Stückzahl möglichst automatisiert durch das Haus schicken", bringt Klein die Business-Strategie auf den Punkt.

Neukunden rekrutiert der Hamburger Konzern neuerdings auch aus den vier Millionen Adressen eines Buchclubs. Vertriebsunterstützung dieser Art ist selbstverständlich nicht umsonst zu haben: Um ein solches Geschäftsmodell abbilden zu können, musste der Versicherungskonzern neue Abläufe entwickeln und die Service-Level-Anforderungen des Medienunternehmens erfüllen.

In der Abwärtsspirale

Vor vier Jahren hätte niemand in dieser Richtung zu träumen gewagt: Der Versicherungskonzern befand sich, so Klein, "in einer Abwärtsspirale": Hinsichtlich des Neugeschäfts war der Marktanteil innerhalb von fünf Jahren um 30 Prozent gesunken - bei steigenden Kosten. Diese Entwicklung korrespondierte mit einer heterogenen und schlecht fokussierten IT-Landschaft. "Damals hatte das Unternehmen 40 unterschiedliche Hardware- und Softwaresysteme im Einsatz", erinnert sich der IT-Vorstand, der bis zur Jahrtausendwende das "Millennium"-Projekt bei der Veba AG in Düsseldorf leitete. Schon in der Endphase dieses Vorhabens hatte er jedoch beschlossen, dem Ruf in die Konzernleitung des Deutschen Rings zu folgen.

Als Klein Anfang 2000 an Bord kam, konnte er, Unternehmensneuling, der er war, seine Entscheidungen unbelastet von falschen Rücksichtnahmen und mit dem sprichwörtlichen Blick über den Tellerrand treffen. Er hatte bereits ein Konzept für den IT-Turnaround im Kopf, das umzusetzen er sich unverzüglich auf den Weg machte.

Alle Prozesse überarbeitet

Klein war nicht das einzige neue Gesicht im Vorstand des Versicherungskonzerns: Neben dem Vorstandsvorsitzenden gab es auch einen neuen Vertriebsvorstand. Die neue Unternehmensführung ging als Erstes daran, die Aufbauorganisation zu verschlanken und stärker zu zentralisieren: Sie schnitt eine ganze Ebene aus der Führungsstruktur heraus, und jeder der 123 Manager konnte sich für eine der verbliebenen 79 Führungsaufgaben bewerben. Gleichzeitig definierte sie das Kerngeschäft es Deutschen Rings neu, trennte sich von unprofitablen Bereichen wie der Kfz-Versicherung und verpflichtete das Unternehmen inklusive Vertrieb auf ein "Customer-Lifecycle"-Konzept. Darüber hinaus wurden alle Prozesse aus der Sicht der Kunden heraus überarbeitet.

Im Konzern herrschte von Anfang an Klarheit darüber, dass diese neuen Abläufe eine grundlegende Renovierung der Informationstechnik erforderten. "Grundvoraussetzungen waren", so Klein, "ein durchgängiges Netz und eine standardisierte Umgebung." Wie eng Unternehmens- und IT-Strategie miteinander verknüpft waren, spiegelt sich unter anderem in der Wahl des Namens für das insgesamt 26 Projekte umfassende Vorhaben des Gesamtvorstands wider: Das - etwas holprige - Akronym "Sprint" bezeichnet die zwei Aspekte des Programms: "Strategische Positionierung (des Deutschen) Ring (und) Neuausrichtung (der Informations)technologie".

Diese Neuausrichtung verdiente unter anderem im Teilprojekt Informationstechnologie das Adjektiv radikal, wie sich am Beispiel der Netzarchitektur belegen lässt: Erst im Jahr zuvor eingeführt, wurde die "Token-Ring"-Technik im Jahr 2000 ad acta gelegt und durch ein integriertes Ethernet mit Hochgeschwindigkeits-Backbone ersetzt. Wie Klein erläutert, benötigten die neuen Prozesse ein wartungsfreundliches Virtual Private Network (VPN) auf Basis des Internet Protocol (IP). Mit der proprietären IBM-Technik wäre das allenfalls unter Verrenkungen und mit deutlich höheren Kosten möglich gewesen. Deshalb sprach alles für die neue Netzarchitektur. Als Betreiber des VPN fungiert Arcor.

Standardisiert wurden auch die Rechnersysteme. Klein ersetzte die immer noch genutzten 3270-Systeme durch moderne PCs und Laptops. Um Anschaffungskosten und Administrationsaufwand zu sparen, ließ er nur noch jeweils einen Gerätetyp zu. Als Betriebssystem sollte Windows 2000 zum Einsatz kommen. Wie Klein erläutert, bedeutete das damals wenig erprobte Microsoft-System anfangs eine weitere Klippe, die es zu umschiffen galt. In der Zwischenzeit habe es sich jedoch als "zukunftssicher" und "aufwandsenkend" herausgestellt.

Ein zentraler Pfeiler von Kleins IT-Strategie war die Web-Fähigkeit aller Applikationen. Zwar arbeiten die Außendienstler des Deutschen Rings beim Kunden offline, sie klinken sich jedoch täglich in das Firmennetz ein. Auf diesem Weg können sie die tagsüber verfassten Kundenanträge in Form von Notes-Attachments übermitteln. Gleichzeitig erhalten sie so auch neue Software-Releases. Die zentrale Softwareverteilung mit Hilfe des Novadigm-Produkts "Radia" gehört laut Klein ebenfalls zu den vielen Vorteilen, die eine zentrale IT-Organisation und durchgängige Vernetzung der Systeme bieten.

Fundament für Eigenentwicklungen

Mit der standardisierten IT-Umgebung legte der Deutsche Ring nicht nur das Fundament für das Intranet und das Dokumenten-Management-System, das die platzverschwendende und aufwändige Archivierung des Schriftverkehrs ersetzt hat. Vielmehr bildet diese Infrastruktur auch die Basis, auf der das 80 Köpfe starke Entwicklerteam die geschäftskritischen Applikationen entwickelt. So lässt sich zum einen Wildwuchs verhindern, und zum anderen reduzieren sich die anrechenbaren Projektkosten.

Die Eigenentwicklungen sind der ganze Stolz der IT-Mannschaft. Zu ihnen zählen beispielsweise:

das Außendienst-Management-System "Daisy",

das Produktportal, das den Agenten einen Überblick über alle Angebote der Versicherungsgruppe vermittelt,

der virtuelle Versicherungsagent "Viva" als Entscheidungsfindungs-System für den Kunden,

der "elektronische Antrag" für die Unterstützung des Policierungsprozesses,

die elektronische Kundenakte und

die "I-Kontakt" genannte Lösung für den Kundenservice.

Was diese Applikationen für das Unternehmen leisten, sollen nur zwei Beispiele verdeutlichen: Mittlerweile läuft jeder zweite LV-Antrag ohne manuellen Eingriff bis zur Policenerstellung durch, versichert Klein. Und das Service-Call-Center erledige 85 Prozent aller Geschäftsvorfälle beim Erstanruf des Kunden.

Releasefähige Software

Applikationen, mit denen sich kein unmittelbarer Geschäftsvorteil erzielen lässt - also Funktionen wie In- und Exkasso sowie die Verwaltung der Kundendaten - sollten, so die Entscheidung des IT-Vorstands, "von der Stange" kommen. Da der Markt auf Anhieb keine taugliche Standardsoftware hergab, ging der Deutsche Ring eine Entwicklungspartnerschaft mit der SAP AG ein. "Die SAP ist der einzige Anbieter, der wirklich Release-fähige Software liefert", begründet Klein diese Wahl. Anders ausgedrückt: Die Anpassung der SAP-Applikationen an die eigenen Ansprüche - im Fachjargon "Customizing" genannt - bleibt auch bei einem Versionswechsel erhalten, sofern die Anbieterstandards eingehalten werden.

Die Aufräumarbeiten am ERP-System sind aus Kleins Sicht einer der Schlüssel zu einer effektiven IT: "Für die meisten Unternehmen nimmt sich ERP wie ein Hochregal-Lager aus, von dem niemand weiß, was eigentlich in den Kisten ist." Da wundert es wenig, dass die teuer eingekauften Funktionen nur zu einem kleinen Teil nutzbar sind.

Anders beim Deutschen Ring: Dort sollen die Standardfunktionen mit sauber definierten Schnittstellen an die Eigenentwicklungen angedockt werden. Die verbliebenen Altanwendungen will Klein als Web-Services anbinden. Zu diesem Zweck wird er zusätzlich zu den Integrationsprodukten der IBM-Familie "Websphere" auch die "Netweaver"-Technik der SAP ins Haus holen.

Nach insgesamt drei Jahren sind die wesentlichen Teile des Umgestaltungsprogramms verwirklicht. Wie hoch der finanzielle Aufwand für die neue IT-Umgebung war, behält Klein für sich. Er verrät lediglich, dass derzeit ein Fünftel des jährlichen IT-Budgets auf Abschreibungen entfalle - wobei die IT-Ausgaben des Versicherungskonzerns im "marktgängigen Bereich" lägen. Die mit Hilfe der Standardisierung und Prozessvereinfachung erzielten Ersparnisse würden die notwendigen Investitionen zum großen Teil auffangen.

Was aber mindestens ebenso schwer wiegt: Die Außendienstler des Unternehmens sind mit der Unterstützung durch die IT offenbar hoch zufrieden. Im Auftrag der IBM haben die Comema AG, Leipzig, und die Kölner Psychonomics AG Agenten von 29 Assekuranzunternehmen nach den "Erfolgsfaktoren im Ausschließlichkeitsvertrieb" befragt (Bezugsquelle unter www-5.ibm.com/services/de/pdf/studieninfo_bestellung.pdf); in den IT-bezogenen Kategorien schnitt der Deutsche Ring mit Abstand am besten ab.

COMPUTERWOCHE executive forum Weitere Informationen darüber, wie der Deutsche Ring seine neue Geschäftsstrategie mit IT unterstützt, enthält das im Heidelberger Springer Verlag erschienene Buch "IT im Unternehmen - Leistungssteigerung bei sinkenden Budgets". Als Autoren konnten die Herausgeber - Lothar Dietrich, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Manß & Partner, sowie Wolfgang Schirra, Senior Partner bei Booz Allen Hamilton - eine Reihe von hochkarätigen deutschsprachigen IT-Chefs, darunter auch Deutscher-Ring-Vorstand Walter Klein, gewinnen. Praxisnähe ist damit garantiert. Das Werk trägt die ISB-Nummer 3-540-20253-6, umfasst etwa 450 Seiten und kostet im Einzelhandel 49,95 Euro. Einige der CIOs, die in dem Buch zu Wort kommen, werden ihre Beiträge auch auf dem nächsten "Executive Forum" vorstellen. Das Arbeitstreffen mit Rahmenprogramm, zu dem die COMPUTERWOCHE zweimal jährlich handverlesene CIOs lädt, steigt diesmal am 19. und 20. September im

Dresdener Kempinski-Hotel "Taschenberg Palais".

Die durchgängige IT-Unterstützung der Versicherungsprozesse war unter anderem auch das schlagende Argument, mit dem der Deutsche Ring die vier Millionen Mitglieder eines Buchclubs als Vertriebskanal gewinnen konnte: Für die Anfragen mit den jedem Katalog beigelegten Formularen entwickelte die Versicherungsgruppe eigene Eingabemasken und Workflows. Darüber hinaus muss die 250-köpfige IT- und Service-Mannschaft sicherstellen, dass die vom Buchclub erhobenen Anforderungen an Reaktions- und Bearbeitungszeiten ("Service-Levels") eingehalten werden. Doch die Mühe lohnt sich: Über diesen Kanal hat der Deutsche Ring bereits mehrere tausend Policen generiert.