Finnisches Frickel-Phone

Jolla Phone mit Sailfish OS im Test

23.04.2014 von Manfred Bremmer
Gestensteuerung, viel Flexibilität und vor allem Offenheit: Mit Sailfish-OS hat der Nokia-Ableger Jolla eine interessante Alternative zu Google Android, Blackberry, iOS oder Windows Phone herausgebracht. Die COMPUTERWOCHE hat das erste Smartphone der Finnen in die Finger bekommen und getestet.
Foto: Jolla

Als Nokia im Jahr 2011 die Entscheidung traf, das in Kooperation mit Intel entstandene Mobile-OS Meego aufzugeben und sich im Highend-Bereich voll auf die Lumia-Reihe mit Windows Phone zu konzentrieren, war das Schicksal des Linux-basierenden Betriebssystems nicht besiegelt. Eine Reihe von Nokia-Mitarbeitern und Entwicklern machten sich auf, um die Arbeit in Form des Startup Jolla Ltd. weiterzuführen.

Dank Crowdfunding und der Unterstützung des finnischen Mobilfunkproviders DNA gelang es der Company Ende vergangenen Jahres, das erste Jolla-Smartphone an den Start zu bringen. Nach erster Kontaktaufnahme auf dem Mobile World Congress im Frühjahr hatte die COMPUTERWOCHE nun die Gelegenheit, die Qualitäten des Finnen-Smartphones genauer unter die Lupe zu nehmen.

Jolla Phone Bilder
Jolla Phone
Das finnische Startup Jolla versucht beim Jolla Phone, den Schwerpunkt nicht nur auf das Betriebssystem Sailfish OS zu legen.
Jolla Phone
Dazu dient vor allem „The Other Half“, eine Wechselschale...
Jolla Phone
...mit der der Nutzer sein Smartphone individualisieren kann.
Jolla Phone
Dank integriertem NFC-Chip verändern sich mit dem Backcover auch Wallpaper etc.
Jolla Phone
Dank der unter der Rückschale verborgenen Kontakte ist es theoretisch möglich, eine Tastatur anzudocken oder das Device über eine spezielle Schale kabellos zu laden.
Jolla Phone
Die übrige Hardware des Jolla Phone ist technisch gesehen unteres Mittelmaß.
Jolla Phone
So ist die Darstellung auf dem qHD-Display etwas pixelig...
Jolla Phone
Auch die Dual-Core-CPU wirkt unterdimensioniert, kommt aber mit dem schlanken Betriebssystem gut zurecht.

Der erste Eindruck

Spröde Eleganz: Jolla Phone
Foto: Geeksphone

Zugegeben: Das Jolla Phone kann beim Design seine Nokia-Wurzeln nur schwer verstecken, Eckig wie ein Lumia-Gerät, nur ohne das typische Polycarbonat-Gehäuse, strahlt es eine spröde Eleganz aus. Der Oh-Effekt bleibt beim Auspacken des Geräts allerdings aus. Das Jolla Phone ist relativ schlicht, lediglich das Wechsel-Cover aus dünnem Plastik sticht hervor - das Gerät wirkt damit wie aus zwei Teilen zusammengesetzt.

Mit "The Other Half" findet sich hier auch die erste Besonderheit: Über die Wechselschale, beziehungsweise des darin integrierten NFC-Tags, kann der Nutzer sein Smartphone individualisieren, also ein besonderes Thema mit Wallpaper etc., bei Jolla "Ambience" genannt, einrichten. Dies ist allerdings nur der Anfang, weitere Deckel sind geplant. Dank der unter der Rückschale verborgenen Kontakte ist es theoretisch möglich, eine Tastatur anzudocken oder das Device über eine spezielle Schale kabellos zu laden.

Wegen der Ausbuchtungen des Backcovers kann man das Jolla Phone nicht unbedingt als Handschmeichler bezeichnen. Man spürt in der Hand die Ecken und Kanten, wenngleich man an Abmessungen mit 131 mal 68 mal 9,9 Millimeter nur wenig bemängeln kann. Auch das Gewicht ist mit 141 Gramm akzeptabel.

Wie ein Blick auf die Spezifikationen zeigt, ist die Hardware nicht unbedingt die starke Seite des Finnen-Handys und stellt für Pixel- und Taktratenzähler sicher kaum ein Kaufargument dar. So besitzt etwa das von einem Gorilla Glass 2 geschützte 4,5-Zoll-IPS-Display nur qHD-Auflösung (960 x 540 Pixel, 245 ppi). Die Darstellung ist mit 245 ppi (iPhone 5s: 326ppi, Samsung Galaxy 5: 432 ppi) etwas pixelig, ein Umstand, der durch Jollas Auswahl der Schrifttypen sogar noch verstärkt wird. Der von einem Gigabyte RAM unterstützte Dual-Core-Prozessor von Qualcomm (Snapdragon 400, MSM8930) wirkt mit einer Taktrate von 1,4 Gigahertz zumindest auf dem Papier als unterdimensioniert, in der Praxis hat er mit dem schlanken Betriebssystem aber keine Probleme und zeigte im Test keine merkliche Schwäche.

Auch der Rest der Hardware bietet kaum Außergewöhnliches: Der interne Speicher beträgt 16 GB, von denen 14 GB dem Nutzer frei zur Verfügung stehen. Für zusätzlichen Bedarf ist der Speicher aber auch über eine microSD erweiterbar. Für Bilder und Videos ist im Jolla Phone hinten eine durchschnittliche 8-Megapixel-Kamera mit Autofokus und LED-Blitz eingebaut, während auf der Vorderseite ein 2-Megapixel-Objektiv zum Einsatz kommt.

Das Gerät unterstützt zur Kommunikation mit der Außenwelt Bluetooth 4.0 und USB 2.0. Verbindung zum Internet nimmt das Jolla Phone via WLAN 802.11a/b/g/ n (nur 2,4 Ghz) und Mobilfunk auf. Hier unterstützt das Device - wenn man die Einstellungen für die mobile Datenübertragung einmal gefunden hat - neben HSPA auch LTE (800/1800/2600 MHz). Die Laufzeit des austauschbaren 2100 mAh-Akku ist passabel, am Ende eines Testtages, an dem das Gerät neben der üblichen Nutzung auch einer Stunde Video-Streaming (YouTube) via WLAN und einem 30-Minuten-Telefonat ausgesetzt wurde, betrug der Akkustand immer noch 41 Prozent.

Spannende Software

Während die Hardware bestenfalls unteres Mittelmaß ist, stellt das installierte Sailfish OS sicher das Highlight des Geräts dar. Um den Schatz zu heben, ist allerdings etwas Lernaufwand notwendig, da die Gestensteuerung leider nur bedingt intuitiv ist. So sucht man beispielsweise den Home-Button vergebens, aktiviert wird das Gerät über den An/Aus-Knopf an der rechten Seite oder ein zweifaches Klopfen auf den Touchscreen.

Ist diese Hürde gemeistert, landet man auf dem Homescreen, darunter befindet sich der Multitasking-Screen mit den bereits geöffneten Anwendungen (beim ersten Mal leer). Noch etwas weiter unten befinden sich die Icons der bereits installierten Apps.

Gestensteuerung
Gestensteuerung
App minimieren
Gestensteuerung
Menüoptionen 1
Gestensteuerung
Menüoptionen 2
Gestensteuerung
Menüoptionen 3
Gestensteuerung
Ereignisansicht
Gestensteuerung
Apps beenden

Alternativ kann man aber auch nach unten wischen, um an ein Schnellstartmenü (Pulley-Menü) mit den Funktionen Einstellungen, Kamera und Telefonie zu gelangen. Diese Auswahlfunktion in Form einer Art Jalousie gibt es auch in einigen Apps, bei anderen Anwendungen gibt es weiße Punkte als Hinweis darauf, dass man nach einem Wischen zur Seite zu weiteren Informationen gelangt.

Innerhalb einer App wird dieselbe geschlossen, indem man vom oberen Rand nach unten wischt. Ein Wisch vom linken oder rechten Rand in den Bildschirm hinein beendet das Programm nicht komplett, sondern legt es nur als verkleinertes, aber geöffnetes Fenster in der Übersicht ab. Hier können bis zu neun Apps Platz finden.

Klingt alles ganz schwierig, und ist es für den an Android oder iOS gewöhnten Nutzer auch. Hat man die Funktionsweise aber einmal begriffen und fleißig geübt, bewegt man sich relativ flüssig durch das Menü, schließt eine App mit einem Schnippler und öffnet die nächste. Wie sich während des Testzeitraums zeigte, findet das Erfolgserlebnis wegen Ungereimtheiten in der Umsetzung aber hin und wieder auch ein schnelles Ende und Frustration macht sich breit.

Apps sind keine Mangelware

Auch wenn das Jolla Phone im Auslieferungszustand nur zehn Apps installiert hat, steht Sailfish OS bei der Auswahl für einen Newcomer gar nicht so schlecht da: Gut 200 kostenlose Anwendungen befinden sich im Jolla Store, weitere knapp 1600 Apps für Sailfish-OS existieren auf OpenRepos.net - die Client-Anwendung dazu heißt Warehouse.

Daneben kann man auch Android-Apps direkt als .apk installieren, was aber nicht gerade trivial ist. Alternative AppStores wie der russische Yandex Store, den man über eine App durchsuchen kann, schaffen hier Abhilfe. Hinzu kommt, dass die breite Fan-Basis bereits eine Reihe von bekannten Apps wie Facebook für Sailfish-OS adaptiert hat, der Social-Media-Dienst ist aber wie auch Twitter im Betriebssystem integriert.

Apps Sailfish
Vorinstallierte Apps für Sailfish OS
Die Fülle täuscht: Nur ein Drittel der Apps ist vorinstalliert...
Vorinstallierte Apps für Sailfish OS
...und daher nicht löschbar.
Jolla Store
Der Jolla Store ist relativ leer und nur wenig organisiert.
Jolla Store
Besonders bei Business-Anwendungen sieht es aktuell noch ziemlich mau aus.
Android-Apps per Yandex Store
Alternative ist der Yandex Store, für den es eine eigene App gibt.
Android-Apps per Yandex Store
Über Yandex mit seinen Android-Apps kommt man auch zu einer Office-Suite...
Android-Apps per Yandex Store
...mit Text- und Tabelllenprogramm. Hier gut zu sehen: Die zusätzliche Menüleiste für Android-Apps
Sailfish OS: Einstellungen
Im Bereich Einstellungen bietet Sailfish OS kaum Überraschungen...
Sailfish OS: Einstellungen
Zusätzlich zu den bereits vielfältigen normalen Möglichkeiten gibt es noch einen Entwicklermodus
Sailfish OS: Einstellungen
Die weißen Punkte weisen auf ein verstecktes Auswahlmenü hin
Sailfish OS: Einstellungen
Nicht ganz trivial: Das Einrichten der APs für den LTE-Empfang
Sailfish OS Browser
Der Browser bietet nur wenige Optionen, etwa keinen Wechsel auf die normale Website...
Sailfish OS Browser
unterstützt aber immerhin Tabbed Browsing
Jolla Maps
Die Karten-App kommt von Appelo..
Jolla Maps
..., das Kartenmaterial von Nokia (Here)
Jolla Maps
Navigation ist natürlich auch möglich, allerdings nicht offline.
Dateimanager
Wie jedes vernünftige Betriebssystem (Sorry Apple) gibt es natürlich auch einen Dateimanager
Twitter-Integration
Twitter und Facebook sind direkt in Sailfish OS integriert.
Homescreen
Alle Informationen auf einen Blick: Uhrzeit, Akkuzustand, WLAN, Bluetooth und Verfügbarkeit
Homescreen mit aktive Karten
Immer im Bild: Neun aktive Anwendungen und die Grundfunktionen Telefonie, SMS, Browser und Kamera
Benachrichtigungen
Mit einem Wisch nach oben kommt man zu den Benachrichtigungen
Telefonie
Telefonieren kann man mit Sailfish natürlich auch. Dies geht über die entsprechende App...
Telefonie
oder per Schnellzugriff durch Herunterziehen des Auswahlmenüs.
Screenshot-App
Ungewohnt: Für Screenshots braucht man eine spezielle App
Exchange-Integration
Sailfish-OS bietet natürlich auch Exchange-Unterstützung

Fazit: Smartphone für Frickler und Individualisten

Mehr als nur ein Werbe-Slogan: Gerade im Vergleich zum Android-Allerlei bietet das Jolla Phone erfrischend Neues.
Foto: Jolla

Jolla verfolgt mit seinem Jollaphone und Sailfish OS einen interessanten Ansatz, der leider (noch) ganz massentauglich ist. So sind Gestensteuerung und die gesamte Bedienung noch nicht ganz ausgeklügelt und nicht immer intuitiv. Einige Punkte bei der Bedienung sind bei WebOS (mehr) oder Blackberry 10 (weniger) besser gelöst. Bei der Hardware zieht das knapp 400 Euro teure Gerät in Sachen Preis-Leistungsverhältnis klar gegenüber der starken Android-Konkurrenz aus Massenproduktion den Kürzeren.

Dennoch schafft es das Jolla Phone,im Gegensatz zur Menge der zunehmend austauschbaren Smartphone-Boliden einen bleibenden - positiven - Eindruck zu hinterlassen. Wenn das Gerät sicher (noch) nicht für den Massenmarkt geeignet ist, bietet es insbesondere Fricklern, die sich gerne mit ihrem Smartphone auseinandersetzen, eine interessante Alternative zu Android. So gesehen kann man nur hoffen, dass das Projekt weiter Fahrt aufnimmt. Und wer weiß: Möglicherweise gibt es ja bei Smartphones bald eine ähnliche Entwicklung wie bei PCs und die Geräte werden optional auch ohne vorinstalliertes Betriebssystem angeboten. Interesse daran hätten neben Jolla sicher auch andere Firmen, die nicht so hohe Stückzahlen erreichen, etwa Canonical (Ubuntu) oder eventuell Blackberry.