Bislang ist in der Diskussion um Industrie 4.0 von Application-Management (AM) selten die Rede. Doch dabei wird es nicht bleiben. Seit gut einem Jahr ist Industrie 4.0 ein Thema. Dabei geht es vornehmlich um die Frage, wie Unternehmen Cyber-Physical Systems (CPS) bei sich etablieren können. Auch wenn sich dazu erst langsam ein klares Bild abzeichnet, steht eines schon jetzt fest: Der Grad der Vernetzung in den Unternehmen wird erheblich zunehmen, wenn sie den Anforderungen einer hochflexiblen, dynamischen und zukunftsorientierten Produktionslandschaft gerecht werden wollen - und zwar über alle Standorte hinweg.
Kommunikationslücken
Absehbar ist damit auch eine Verschiebung der Aufgaben- beziehungsweise Kompetenzbereiche der verschiedenen Anbieter von Produktions- und IT-Komponenten: Maschinen- und Anlagenhersteller sind bereits dabei, Software-Integrationslösungen zur Verfügung zu stellen, die weit über die heute üblichen SPS-Schnittstellen hinausgehen und die Anbindung an die IT-Systeme erleichtern. Softwarehäuser wie SAP wiederum kümmern sich vermehrt darum, die Kommunikationslücken zwischen den einzelnen Komponenten zu schließen und Maschinen direkt anzusprechen - beispielsweise unmittelbar aus einer ERP-Anwendung heraus. Aus dieser Verschmelzung von Maschinen- und IT-Welt ergeben sich zwei Konsequenzen: Das Gesamtsystem wird komplexer und dezentraler.
Keiner fragt nach der Sicherheit
Angesichts dieses Szenarios ist es erstaunlich, dass bislang kaum darüber gesprochen wird, wie sich die Cyber-Physical Systems in Zukunft sicher und verlässlich betreiben lassen sollen. Ein Application-Management, wie es heute in den Unternehmen Standard ist, wird nicht genügen. Derzeit kann bei einer Störung schnell die Quelle ausgemacht werden: Führt eine Maschine den angestoßenen Auftrag nicht aus, liegt das entweder am Manufacturing Execution System (MES) oder an der SPS-Steuerung. In einer Smart Factory könnte es aber beispielsweise auch damit zusammenhängen, dass zusätzlich benötigte und online von der Maschine, der Steuerung oder dem MES direkt angefragte Daten aus dem ERP-System fehlen - etwa zur Qualitätssicherung. Möglich wäre auch, dass das Qualitätssicherungssystem Informationen nicht korrekt übermittelt hat oder eine andere Maschine die Ausführung blockiert. Die Zahl der möglichen Ursachen vervielfacht sich also.
Will das Application-Management mit solchen Situationen fertig werden, muss es sämtliche Industrie-4.0-Komponenten im Griff haben. Dazu braucht es neben dem Wissen zu allen üblichen IT-Lösungen - von der Auftrags- und Materialplanung im ERP-System über die Fertigungssteuerung via MES bis hin zur Auswertung mit einer BI-Anwendung - erweiterte Kenntnisse: etwa zur Maschinenintegration und zur Anbindung der Lagerverwaltungssysteme, zu sämtlichen internen Prozessen und zu möglichen Einflüssen von Auswärtsbearbeitungen. Und: Dem Application-Management muss klar sein, nach welcher Logik die einzelnen Komponenten zusammenspielen, welche Schnittstellen bestehen und wie sie arbeiten.
Anpassungen Schritt für Schritt
Reagieren muss das ApplicationManagement zudem auf die Dezentralisierung von Prozessen: Ist die Maschine in Werk A ausgelastet, übernimmt die Maschine in Werk B und erhält dafür Materialien aus Lager C. Da solche Szenarien noch selten sind, müssen die Application-Management-Teams an den einzelnen Standorten bislang nicht besonders eng zusammenarbeiten. Im Zuge der Vernetzung der Produktion wird sich das ändern. Den dezentralen Prozessen sollte dann eine zentrale Application-Management-Abteilung gegenüberstehen, die den Überblick behält und die an den verschiedenen Standorten angesiedelten Teams koordiniert.
Natürlich können Unternehmen nicht von heute auf morgen ihr gesamtes Application-Management nach den Anforderungen der Industrie 4.0 ausrichten. Und das müssen sie auch nicht.
Lernende Mitarbeiter
Sinnvoll ist es, parallel zur schrittweisen Vernetzung - die vierte industrielle Revolution sollte eher als Evolution angegangen werden - auch die Betreuung schrittweise auszubauen. Im Idealfall prüfen Unternehmen schon während der Analysephase jedes Einführungsprojekts, wie sich die angestrebten Veränderungen auf das Application-Management auswirken. Mögliche Schwachstellen lassen sich so frühzeitig erkennen und im besten Fall mit wenigen Anpassungen ausräumen. Diese Anpassungen werden sich in der Regel auf zwei Dimensionen beziehen: auf die Mitarbeiter und die von ihnen eingesetzten Werkzeuge.
In der Regel setzen sich AM-Teams heute aus Spezialisten für einzelne Applikationen und Technologien zusammen. Jeder dieser Mitarbeiter wird künftig seine Spezialkenntnisse kontinuierlich um angrenzende Themenkomplexe erweitern müssen. Diejenigen, denen das besonders gut gelingt und die mit Weitblick agieren, werden zentrale Rollen im Industrie-4.0-tauglichen Application-Management übernehmen. Außerdem müssen AM-Teams in der Lage sein, sich bei Bedarf auch kurzfristig Know-how aus den Fachabteilungen zu beschaffen. Dafür sind belastbare Netzwerke und eingeübte Kommunikationswege erforderlich. Für die Unternehmen ergeben sich daraus einige Aufgaben.
Ticketlösungen
Die Mitarbeiter im Application Management werden kein komplett neues Werkzeug-Set benötigen, sondern mit den etablierten Tools weiterarbeiten - etwa mit der vorhandenen Ticketlösung. Im Zuge der voranschreitenden Vernetzung kann es aber erforderlich werden, neue Schnittstellen zu programmieren, die die Application-Management-Werkzeuge mit den operativen Systemen verbinden. Denkbar wäre auch, sämtliche Shopfloor-Komponenten - also die Anlagen sowie deren Steuerungseinheiten und das Produktionsleitsystem - direkt anzubinden. Die Ticketlösung würde dann beispielsweise neben Fehlermeldungen aus SAP ERP auch automatisch erstellte Nachrichten zu Incidents aus der Maschinensteuerung oder von den Maschinen selbst erhalten und diese als integrierte Instandhaltungsmeldungen oder Kundendienst-Anfragen an die damit befassten Mitarbeiter weiterleiten.
Transparenz hilft bei Störungen
Bei steigender Komplexität kann es zudem sinnvoll sein, eine zentrale und adaptive Monitoring-Lösung einzuführen, die den gesamten IT- und Maschinenverbund sowie sämtliche Zusammenhänge abbildet. Mit Hilfe einer solchen Anwendung wäre beispielsweise schnell erkennbar, welche Systeme und Maschinen an der Fertigung eines Teils beteiligt sind und welche Arbeitsschritte wann ausgeführt wurden. Diese Transparenz würde es dem Application-Management erheblich erleichtern, bei Störungen die Ursache zu finden.
Voraussetzung für eine solche Lösung ist, dass jedes zu fertigende Teil einen eindeutigen Identifikator erhält, der über den gesamten Produktionsprozess hinweg - von der Planung bis hin zur Auslieferung - gültig und nachvollziehbar bleibt. Werkstück-IDs müssten dafür die heute üblichen Auftragsnummern ersetzen. Die zentrale Monitoring-Lösung erfasst diese IDs und reichert sie bereits zu Beginn um Informationen zu den Soll-Werten an. So könnte beispielsweise definiert sein, welche Materialien benötigt werden und wie Arbeitsschritte auszuführen sind. Im Laufe der Fertigung übermitteln die angebundenen IT-Systeme und Maschinen via Web-Service, Datenbank-Direktabruf oder HTTP-Call, FTP, E-Mail oder Datei-transfer die jeweiligen Ist-Werte.
Abweichungen erkennen
Auf diese Weise wird es möglich, Abweichungen zu erkennen: Statt den vorgesehenen 20 Schrauben wurden nur 19 Stück verbaut; der Druck während eines Stanzvorgangs war fünf Prozent geringer etc. Ein solches Monitoring würde helfen, Fehler im Gesamtsystem zu finden und zu beheben. Zudem würde es wertvolle Erkenntnisse für die Produktdokumentation liefern.