Bisher verdienen andere Firmen an den Plänen des Marktführers

IBMs Officevision entspricht noch nicht der Office-Realität

20.12.1991

"Seit die IBM ihr "Officevision" angekündigt hat, ist der Absatz unseres Konkurrenzproduktes Memo enorm gestiegen", freute sich Rolf Blütener, Vertriebsleiter von Verimation in Hamburg. Und tatsächlich: Noch nie hat eine Software-Ankündigung so viele Visionen erzeugt und sowenig konkrete Realität für einen Hersteller gebracht, wie das bei Officevision der Fall war. Es sieht nicht so aus, als hätte die IBM mit Officevision bis jetzt viel Geld gemacht.

Offensichtlich verdienen in erster Linie andere Firmen an den Office-Plänen der IBM Die Lotus Development Corp. zum Beispiel, die nicht nur Notes und Cc:mail, ihre Office-Produkte für PC-LANs, nun über die IBM verkaufen, sondern auch die Technologie für das wichtige Open Mail Interface (OMI) an IBM geliefert haben. Auch IBMs Investition in Wang hatte das langfristige Ziel, ihr Zugang zu Wangs Imaging Technology zu ermöglichen einer Technologie, die viele Fachleute für besonders wichtig im Hinblick auf die wirtschaftliche Nutzung einer Office-Plattform halten. Gespräche führt die IBM weiterhin mit dem US-Hersteller Action Technologies über das Einbinden von deren "Workflow Engine" in das Officevision-Konzept.

Anerkennen muß man, daß sie mit der Officevision-Ankündigung im Mai 1989 auf einen Schlag eine ganze Generation von etablierten Bürosystemen aufs Altenteil gesetzt hat. Erst seit diesem Tag ist es nämlich erlaubt, bei dem Wort "Bürosysteme" auch offiziell an PC-LANs zu denken.

Vorher herrschte bei vielen Anwendern die teilweise absurde Situation, daß anstelle der vom Hersteller favorisierten Terminals PCs installiert worden waren und diese per Koax-Kabel angeschlossenen Geräte mit abenteuerlichen Emulationen, Tastaturschablonen und erstaunlichen Softwarelösungen für den Dokumententransfer bedient werden mußten.

Officevision versprach Abhilfe im großen Stil auf dem LAN und gleichzeitig eine Verbesserung der Bürosystem-Software auf den Ebenen OS/400, VM und MVS mit dem Ziel, schrittweise die Errungenschaften der PC-Benutzer für Anwender auch auf allen anderen Systemebenen zur Verfügung zu stellen. Möchte man, überzeugt von diesem innovativen Ansatz, die IBM-Lösung kaufen, kommt das traurige Erwachen und der Grund dafür, daß Konkurrenzfirmen wie Verimation oder Fischer International hier ein gutes Geschäft machen. Die IBM hat Probleme mit der Größe der Innovation im PC-LAN bekommen. Die neuen Releases der Host-Softwaresysteme sind auf den ersten Blick alter Wein in alten Schläuchen mit einigen zusätzlichen Features. Die wichtigste Novität bei Officevision/2 LAN ist die Definition einer neuartigen Office-Plattform.

Diese Plattform liegt zwischen der grafischen Benutzeroberfläche und den einzelnen Anwendungen und dient folgendem Zweck: Anwendungssoftware wird nicht mehr lange in Form von großen, monolithischen Blöcken verkauft. Die Anwendungssoftware der nächsten Jahre ist vom Volumen her kleiner und vor allem modular durch den vermehrten Einsatz objektorientierter Technologien bei den Bürooberflächen. Ein Fehlerkorrektur-Programm liegt dann nicht mehr in der Textverarbeitung, sondern in der Anwendungsplattform. Das hat den großen Vorteil, daß die Fehlerkorrektur bald auch für Präsentationsgrafik und Spreadsheets zur Verfügung steht. Ähnlich wird es mit DTP-Funktionen, Hilfesystemen, Fax-Modulen, elektronischer Post und vielen anderen Funktionen sein. Die Plattform nimmt diese Dienste auf und, stellt sie allen Anwendungen zur Verfügung.

Das hat viele Vorteile: Man spart Speicherplatz, Anpassungs- und Lernaufwand. Man kann sich kleine Module selbst kaufen und die Standardmodule austauschen. Viel mehr Individualisierung ist nicht möglich. Dies alles macht die Office-Plattform, die von Firmen auch als Anwendungsplattform bezeichnet wird, so notwendig.

Aus Gründen der Fairneß muß man der IBM daher zugute halten: Erstens ist dieses Softwareprojekt ein sehr großes SAA-Projekt mit vielen Programmierern. Zweitens hat noch niemand gewagt, eine Softwareplattform gleicher Funktionalität auf vier Betriebssystem-Plattformen anzukündigen. Drittens handelt es sich um echte Client-Server-Produkte. Viertens haben sich die Probleme mit OS/2 katastrophal auf Officevision/2 LAN ausgewirkt.

Was man als Planer tun sollte

Aber das alles hilft dem Manager einer großen deutschen Krankenkasse auch nicht, der mich fragte: "Was soll ich jetzt mit meiner OV/2-LAN-Testinstallation machen? Sie funktioniert mehr schlecht als recht, und wir breiten ein Mäntelchen des Schweigens darüber..." Was soll der Stahlkonzern tun, der eine ähnliche OV/2-LAN-Installation hat und Empfehlungen für Bürosysteme auf LAN-Basis (mit Connectivity natürlich) an alle Tochtergesellschaften abgeben soll? Was soll die internationale Behörde tun, die einen zentralen Profs-Rechner im Ausland stehen hat und Auswirkungen der teuren Investitionen in PCs endlich spüren will, nämlich Ergonomie, grafische Oberfläche für die Benutzer, Client-Server-Computing im globalen Büro.

Für solche Anwender ist es kein Trost, daß es die anderen Anbieter einer modernen unternehmensweiten office-Plattform auch noch nicht geschafft haben. HP arbeitet gerade an einer New-Wave-Version für die 3000er Systeme. Die OS/2-Client-Version wird vielleicht nie kommen. HP-Lizenznehmer NCR ist erst im Dezember 1992 in der Lage, "Cooperation" erstmals auszuliefern. DEC wollte ursprünglich schon zur Systems '90 All-in-1, Phase 11, vorstellen, und seither ist es ganz still geworden.

So sieht die Office-Realität 1991 aus

Hier einige Beobachtungen aus Office-Computing-Projekten, die ich in diesem Jahr durchgeführt habe:

- Es hat heute überhaupt keinen Zweck mehr die Produkte nach einzelnen Features zu vergleichen. Die Feature-Listen sind selbst bei den Herstellern ständig in Bewegung, und das Traumprodukt gibt es sowieso nicht.

- Wer sein Produkt nach der jeweiligen Herstellerpolitik auswählte, der erlebte im Sommer 1991 ein böses Erwachen: Wollte er zum Beispiel mit einer Entscheidung für "Notes" weg von der IBM, war er im Herbst schon wieder bei den drei Buchstaben. Dasselbe Schicksal ereilte die Befürworter von Wangs "Office 2000", und die Welle der Allianzen ist längst nicht zu Ende.

- Die Zielsetzung, den Endbenutzern größtmögliche Freiheit bei der Wahl ihrer PC-Produkte zu geben, muß von DV und Benutzerservice teuer bezahlt werden. Der Austausch unterschiedlicher Formate ist auch beim Einsatz einer LAN-Office-Plattform noch nicht problemlos.

- Die Vorstellung, daß auf den PC-LANs alles benutzerfreundlicher und komfortabler abläuft als in der zeichenorientierten Welt der größeren Systeme, ist leider noch Phantasie. Ein kleines Beispiel: die Suche nach einer Kalendersoftware unter Windows oder OS/2, welche die Kalender von 3000 Anwendern in mehreren miteinander verbundenen LANs unterstützt. Das einzige Produkt, das so etwas kann, ist das gute alte Profs

- via Host natürlich.

- Ein identisches LAN-Office-Produkt für mehrere tausend Benutzer zu installieren kann sehr teuer werden. Und es lohnt sich nicht immer. Jeder PC-Benutzer muß an der elektronischen Post teilnehmen können, das ist Bedingung. Aber andere Funktionen können durchaus weniger ausgeprägt beziehungsweise weniger komfortabel sein. So hat in einem Projekt der Verzicht auf einen komfortabel sein. So hat in einem Projekt der Verzicht auf einen komfortabel Zusatz-Texteditor bei einer bestimmten Benutzergruppe eine Ersparnis von einer Million Mark erbracht.

- Es kann passieren, daß die Kosten für eine gemischte PC-Host-Installation wesentlich höher liegen als bei einer reinen LAN-Version ohne Host-Einsatz. Die Hauptkostenfaktoren sind der notwendige Support für die Host-Plattform und die Lizenzgebühren für die Host-Software, die gleich bleiben, auch wenn immer weniger Benutzer mit dem Host arbeiten. - Ein Office-Projekt, das LANs einbezieht, läuft sicherlich länger als geplant, und es kostet auch mehr, aber es ist trotzdem das wichtigste Basisprojekt für die Administration.

- Obwohl Bürokommunikation einen schlechten Ruf hat, ist sie zur Königsdisziplin der individuellen Datenverarbeitung geworden, denn der BK-Planer muß auf folgenden Gebieten Bescheid wissen: Connectivity, LANs, Objektorientierung, grafische Oberflächen, Betriebssysteme, LAN-Betriebssysteme, Multimedia etc.

- Es hat keinen Zweck, heute verbindliche Kaufentscheidungen für bloß angekündigte Produkte zu treffen. Es ist zur Zeit unsicher, ob die Hersteller das Produkt zum geplanten Zeitpunkt und mit den versprochenen Features liefern.

Doch zurück zur eigentlichen Frage: Was soll man tun? Was

sollen diejenigen machen, die eine Pilotinstallation getätigt haben und nun wissen möchten, wie es weitergeht?

Ich halte die Anstrengungen der Hersteller, eine Connectivity-Bürolandschaft zu bauen, für eines der mächtigsten Dinge, die zur Zeit in der DV-Landschaft ablaufen. Sie brauchen jedoch ebenso wie die Anwender noch Zeit.

Es ist zeitaufwendig, die eigene Installation auf Vordermann zu bringen und für den Einsatz einer Office-Plattform vorzubereiten. Man kommt leider um eine ganze Reihe von Tätigkeiten nicht herum, die ohnehin anfallen, und ich schlage vor, sie lieber jetzt zu erledigen, als sich später im Projektablauf stören zu lassen.

Dazu ein konkretes Beispiel: Die oben angesprochene internationale Behörde hat eine sehr moderne Systembasis und scheint auf den ersten Blick bestens für den Einsatz einer durchgehenden, Office-Plattform gewappnet zu sein. Von 3000 Arbeitsplätzen sind bereits 2500 mit PCs ausgerüstet, dies sind überwiegend OS/2-Maschinen mit 4 MB Hauptspeicher und großen Platten. Sämtliche Connectivity-Pfade sind gelegt (Token-Ring-LANs mit Gateways zum Host).

Sollte man nicht annehmen, daß eine ideale Office-Plattform bereits morgen laufen könnte? Leider nicht. Die restlichen Terminals machen es zum Beispiel erforderlich, daß die gesuchte Office-Plattform auch auf dem Host installiert wird - zu den entsprechenden Kosten. Diese Terminals müßten also durch PCs ersetzt werden. Auch gilt es, die restlichen DOS-PCs auf OS/2 umzustellen. Dann sollte geprüft werden, ob alle PCs die Mindestausstattung von 4 MB haben.

Nächster Punkt ist die Planung von zusätzlichen Office-Servern, deren Anzahl je nach gewünschter Plattform schwankt. Dann sollte man die Anforderungen der unterschiedlichen Benutzergruppen an die Schlüsselfunktion Textverarbeitung prüfen - erfüllt nur ein dediziertes Textprogramm diese Anforderungen, kann man das Programm bereits installieren, trainieren und anpassen. Entscheidet man sich für die Beibehaltung des Host-Bürosystems, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, um die Installation auf das nächste Release "anzuheben". Jetzt können die Namenskonventionen und Benutzerverzeichnisse definiert werden.

Mit scharfem Blick auf bisher verwendete PC-Produkte wird man dennoch einige Ungereimtheiten entdecken. Man sollte sich auf ein generelles Austauschformat einigen oder sogar eine einheitliche Software einfuhren.

Sind all diese Vorarbeiten erledigt, dürfte bestimmt ein Jahr vergangen sein. Ich bin sicher, daß die Hersteller diese Zeit auch nutzen und daß die Bürosystem-Landschaft im nächsten Jahr nicht nur Vision, sondern Realität sein wird.

Geht es auch ohne Office-Plattform?

Nur sollte man nicht glauben, daß es auch ohne Office-Plattform geht. Einige Firmen haben sich zum Beispiel auf der Basis von einzelnen PC-Produkten unter Windows und mit vielen Makros eine Lösung geschaffen, die auf den ersten Blick bestechend ist. Das Problem Dokumentenfluß scheint gelöst zu sein.

Dies ist ein Fehlschluß. Denn die Office-Plattform wird in den nächsten Jahren eine ganz herausragende Bedeutung für Anwendungssoftware überhaupt erhalten. Wer nun auf die Office-Plattform verzichtet, schneidet sich und seine Benutzer von dieser neuen Entwicklung völlig ab. Denn es gibt nichts, in das er die modulare Software von morgen einbetten könnte.