Diskriminierung & Vorurteile

Frauenbilder in der IT

11.11.2016 von Sharon Florentine und Florian Maier
Was man nicht kennt, kann man auch nicht anstreben. Wenn wir also mehr Frauen in der IT-Branche wollen, brauchen Mädchen und Frauen Vorbilder, Mentoren und Erfolgsbeispiele.

Kate Flathers hat einen wirklich schlechten Tag. Zwischen Meetings, Calls und aus dem Ruder laufenden Projekten ist ein Gespräch mit einem Bewerber das Allerletzte, auf das sie Lust hat. Entsprechend ist der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schießt, als sie den Lebenslauf und das Anschreiben überfliegt: "Gut, dass mir das erspart bleibt."

In ihrer Rolle als Director Product Development bei DrugDev - einem Anbieter von Cloud-Lösungen für klinische Studien - wird Flathers erst dann zum Bewerbungsprozess hinzugezogen, wenn die Kandidaten bereits die ersten Hürden überwunden haben. Und das Profil des Kandidaten, das sie gerade vor sich hat, will so überhaupt nicht zu dem eines Softwareentwicklers passen: Eine Frau um die 40 - und dann auch noch eine Quereinsteigerin.

Kate Flathers ist gerade dabei, die Bewerberin abzulehnen, als ihr klar wird, was sie da eigentlich gerade tut: "Lassen Sie das mal für eine Sekunde sacken: Ich bin eine 40-jährige Frau und arbeite im Software-Business. Als Chef-Entwicklerin. Ich schaue mir die Bewerbung einer anderen 40-Jährigen an und denke sofort: ‚Die hat es nicht drauf‘. Nachdem ich mich für diesen Gedankengang einige Minuten lang innerlich selbst angeschrien hatte, habe ich noch einmal einen Blick auf die Bewerbung geworfen."

Und auch wenn Flathers diese Geschichte als "unglaublich peinlich" empfindet - sie ist es wert, erzählt zu werden. Warum? "Weil genau diese Denke in der IT-Branche so verbreitet ist. Die Vorurteile existieren in unserem Unterbewusstsein und beruhen auf unseren Erfahrungen."

Man kann nicht nacheifern, was man nie zu sehen bekommt. Und was Frauen und junge Mädchen zu selten zu sehen bekommen, sind starke, kompetente, feminine Vorbilder in der Softwareentwicklung und anderen Bereichen der IT-Industrie.

Wo sind die IT-Frauen hin?

Das ist umso erstaunlicher, wenn man einen Blick auf die Anfänge der Tech-Branche wirft: Denn das Programmieren von Computern gilt früher als "Frauenarbeit" und viele der ersten Programmierer sind Frauen. In den Jahren 1983 und 1984 repräsentieren Frauen in den USA zeitweise satte 37 Prozent aller Absolventen eines Studiums der Computerwissenschaften. Mit der steigenden Popularität des Personal Computers schwinden die Zahlen schließlich - wohl auch deshalb, weil der PC in erster Linie als "Jungs-Spielzeug" vermarktet wird. Und diese Marketing-Botschaft bleibt in den Köpfen hängen - und wirkt bis heute nach.

Die CompTIA-Studie, die inzwischen zur Basis für ein E-Book und eine Awareness-Kampagne namens "Make Tech Her Story" wurde, wirft einen Blick auf die Technologie-Gewohnheiten von jungen Menschen und deren Wahrnehmung einer Karriere in der IT-Industrie. Die Ergebnisse zeigen, dass das Interesse von Mädchen und jungen Frauen an einem Job in der IT-Branche um 30 Prozent sinkt, sobald diese eine weiterführende Schule besuchen.

Laut Carolyn April, Analystin bei CompTIA, hat die Studie einige offensichtliche Grundprobleme zu Tage gefördert: "Die Eltern von Jungs gehen beispielsweise wesentlich forscher zu Werke als die Eltern von Mädchen, wenn es darum geht, ihr Kind an Technologien heranzuführen. Das hat einen Domino-Effekt zur Folge: Wenn Mädchen während ihrer Entwicklung keinerlei Vorbilder in diesem Bereich sehen und auch keinerlei Berührungspunkte mit Technologie im Bereich der Bildung bestehen - entwickeln sie daran auch kein Interesse."

Der Studie zufolge streben 69 Prozent aller weiblichen Befragten keine IT-Karriere an, weil sie gar nicht wissen, welche Möglichkeiten überhaupt in diesem Bereich bestehen. Genau hier manifestierten sich schließlich die Stereotypen der 1980er-Marketing-Bemühungen, wie April sagt: Viele Frauen und Mädchen glaubten scheinbar, ein Job in der IT-Branche würde bedeuten, 40 Stunden in der Woche in Isolation vor einem Bildschirm zu verbringen. Dazu kommt, dass auch unter den technologisch interessierten Frauen nur die Hälfte glaubt, ihre Fähigkeiten seien ausreichend, um in der Branche zu arbeiten.

Für Carolyn April ist das Fazit klar: "Wir brauchen wirklich mehr Frauen in der Industrie, die diese Arbeit gut machen, für sich selbst einstehen und als leuchtende Vorbilder für die nachwachsenden Generationen sichtbar sind."

Frauen und Technologie in Bildung und Gesellschaft

"Eine Erkenntnis aus der Studie ist, dass die frühen Jahre entscheidend sind", so April. "Eltern sollten ihre Töchter ganz bewusst an die verschiedenen Optionen in der Tech-Industrie heranführen und mit ihnen über die Karrieremöglichkeiten sprechen."

Doch auch die Bildungsinstitutionen sieht die Analystin in der Pflicht. Denn der Lehrplan an den Schulen habe sich im Wesentlichen nicht weiterentwickelt - noch immer würde lediglich Basiswissen vermittelt. Den Vertretern der für die Branche so wichtigen Generation Y seien die Karrierechancen in der Technologie-Branche und wie ihre individuellen Fähigkeiten hier zum Zuge kommen können, überhaupt nicht bewusst.

In den Augen von Kate Flathers wird der Technologie-Sektor im Allgemeinen als ein "hyperfokussierter Wissens- und Skills-Kult" wahrgenommen: "Vor zehn Jahren musste man in dieser Industrie einfach über alles Bescheid wissen - sowohl über das technische Hardcore-Zeug auf der Backend-Seite, als auch die eher designorientierten Aspekte der Frontend-Seite. Inzwischen sehen wir allerdings, dass ganz gezielt nach Fähigkeiten, beziehungsweise Erfahrungen, gesucht wird. Würde es also nicht viel mehr Sinn ergeben, Technologie und Softwareentwicklung - ähnlich wie Rechtschreibung und Mathematik - als Grundlagen-Fähigkeit zu lehren? So würde jeder über das Basiswissen verfügen und könnte anschließend selbst entscheiden, ob er dieses vertiefen möchte."

Frauen in der IT: Klischees und Vorurteile sind immer noch weit verbreitet.
Foto: Masson - shutterstock.com

In der gesellschaftlichen Wahrnehmung ist ein Job im Technologie-Sektor mehr als nur eine Arbeitsstelle: Es ist ein "Way of Life". Dieses Denken, so Flathers, sei auch in der Unternehmenswelt weit verbreitet - selbst auf C-Level. Dabei hätte diese stereotype Sichtweise mit der Wirklichkeit wenig zu tun: "Ich besitze ein breites und diverses Hintergrundwissen in den MINT-Fächern, aber weder programmiere ich in meiner Freizeit, noch beschäftige ich mich mit Gaming oder anderen Aspekten der ‚Programmierkultur‘".

Dass die Vorurteile und Rollenbilder trotzdem weiterbestehen, könnte insbesondere den Frauen, die eine Karriere im IT-Bereich verfolgen wollen, Schaden zufügen, wie Flathers erklärt: "Es gibt einen harten Wettbewerb, und wer nicht alle Kriterien eines Stereotyps erfüllt, hat in der allgemeinen Wahrnehmung keine Chance, es zu schaffen. Ich habe mein ganzes Leben lang in der Software-Branche gearbeitet und viele unterschiedliche Erfahrungen gesammelt, aber ich lasse mich nicht auf Diskussionen über unwichtige Design-Nebensächlichkeiten ein. Doch genau das ist es, was jeden Tag im Business-Umfeld passiert - und Frauen müssen doppelt so hart arbeiten, um sich zu beweisen."

Um mehr Frauen in der IT-Branche zum Erfolg zu verhelfen, müssten tradierte "Überzeugungen" und klischeehafte Vorstellungen davon, wie ein IT-Experte auszusehen hat, über das Bildungssystem bekämpft werden - und zwar im Idealfall bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt. Hilfreich können darüber hinaus auch selbstverpflichtende Richtlinien in Unternehmen sein - etwa nach Vorbild der sogenannten "Rooney Rule" in der amerikanischen Football-Liga NFL, wie Bonnie Crater, CEO bei Full Circle Insights, vorschlägt. Die Direktive wurde eingeführt, um die Anzahl der schwarzen Football-Coaches zu erhöhen und verpflichtet die Teams, potenzielle Kandidaten die einer Minderheit angehören, zum Job-Interview einzuladen: "Das hat gut funktioniert," so Crater, "Der Anteil der farbigen Coaches in der NFL ist in wenigen Jahren von sechs auf 22 Prozent gestiegen. Die verpflichteten Trainer haben sich größtenteils als talentiert und erfolgreich erwiesen. Das Problem war nicht, dass es keine talentierten, schwarzen Trainer gab, sondern schlicht keinen Zugang für diese. Wenn sich das Top-Level durch Vielfalt auszeichnet, geht der Rest von ganz alleine. Wenn es also mehr Frauen in Führungspositionen schaffen, werden sie dafür sorgen, dass noch mehr weibliche Talente nachfolgen."

IT-Security bietet neue Karrierechancen für Frauen

Als Arbeitgeber der gezielt nach weiblichen IT-Talenten sucht, könnte es eine gute Strategie sein, nicht auf einen Bachelor-Abschluss in Computerwissenschaften zu bestehen, sondern sich stattdessen in sogenannten "Coding Bootcamps" umzusehen oder Ausschau nach "Do-It-Yourself"-Programmierern zu halten. Auch Programme, die sich ganz gezielt an junge Mädchen und Frauen richten und ihnen zeigen, wie die Arbeit in der Branche aussieht, sind nach Ansicht von Stephanie Weagle, Senior Marketing-Direktorin bei Corero Network Security, ein gutes Mittel für die Gewinnung weiblicher Tech-Talente.

"Gerade jetzt bieten sich für Frauen - speziell im Bereich der IT-Sicherheit - riesige Chancen. Die Security-Probleme müssen mit Boot Camps, Hackathons und der Hilfe professioneller Netzwerke angegangen werden. Unternehmen sollten mit Schulen und Universitäten zusammenarbeiten, um Frauen und Mädchen die Karrierechancen im Bereich IT-Security aufzuzeigen."

Ein Beispiel für eine Initiative, die sich dem Problem der "Skills Gap" widmet, ist die Zusammenarbeit von Women in Technology und der Cybersecurity-Plattform Cybrary, die im Rahmen der Kooperation speziell auf Frauen zugeschnittene Sicherheitstrainings anbietet. Bemühungen wie diese können dafür sorgen, dass Frauen künftig einen besseren Zugang zur Branche bekommen. Bleibt nur noch die Frage, wie man die Frauen langfristig an den IT-Sektor bindet, wenn sie einmal dabei sind.

Dazu lohnt sich ein Blick auf die Gründe, warum Frauen den Tech-Bereich verlassen. Die Studie "The Elephant in the Valley" aus dem Jahr 2015 liefert hierzu ernüchternde Erkenntnisse: Demnach ist einer der Hauptgründe sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Von 200 befragten Frauen, die bereits seit mehr als zehn Jahren - vorwiegend im Silicon Valley - in der Branche tätig sind, gaben 60 Prozent an, gegen ihren Willen mit sexuellen Anzüglichkeiten belegt worden zu sein. Ein Drittel der Teilnehmerinnen war dabei um ihre persönliche Sicherheit besorgt.

Auch an diesem Punkt können Awareness-Programme und Schulungen weiterhelfen. Denn die sorgen nicht nur für eine generelle Wahrnehmung des Problems: Wenn die Menschen erst einmal verstanden haben, wie und warum sich Diskriminierung und Belästigung vollzieht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass bei entsprechenden Vorkommnissen auch eingegriffen wird.

Frauenmangel in der IT - Ende in Sicht?

Der Frauenmangel in der IT-Branche ist ein ernstzunehmendes Problem, das angegangen werden muss. Das kann über die vielfältigen, hier dargelegten Optionen geschehen und schürt die Hoffnung, dass Frauen schon bald keine Minderheit in der Tech-Branche mehr darstellen.

Und was wurde nun eigentlich aus der Bewerberin bei DrugDev, deren Lebenslauf beinahe im Kröpfchen gelandet wäre? "Es hat sich herausgestellt, dass diese Frau phänomenal ist", sagt Kate Flathers enthusiastisch. "Wir haben sie noch am selben Tag eingestellt und haben ihr mehr bezahlt als sie verlangt hat, denn ihr Wunschgehalt lag weit unter dem in der Branche Üblichem. Es war eine unserer bisher besten Entscheidungen."

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag unserer US-Schwesterpublikation cio.com.