ERP II - die nächste Generation klopft an

12.05.2007 von Martin Bayer
Immer mehr Anwender machen sich daran, ihre betriebswirtschaftliche Software abzulösen. Allerdings klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der neuen Systeme oft noch eine Lücke.

Eigentlich war bei der Alexander Bürkle GmbH die Enterprise-Resource-Planning-Welt (ERP) in Ordnung. Die Warenwirtschaft war für die eigenen Abläufe optimiert, die Anwender äußerten sich durch die Bank zufrieden, das System lieferte passable Antwortzeiten, und die IT-Kosten bewegten sich in einem moderaten Rahmen.

Hier lesen Sie ...

  • welche Herausforderungen mit der neuen ERP-Generation auf die Anwender zukommen;

  • was sich Unternehmen von den künftigen ERP-Systemen erwarten;

  • wie die Hersteller die ERP-Ansprüche der Zukunft erfüllen wollen.

Integration, Anpassbarkeit und die Kompetenz des Implementierungs-Teams spielen für die Anwender die wichtigste Rolle bei der Auswahl des neuen ERP-Systems. Ob dieses auf einer Service-orientierten Architektur basiert ist dagegen weniger wichtig.

Doch im Lauf der Zeit begann der Sand im ERP-Getriebe des badischen Elektronikgroßhändlers zu knirschen. Das monolithische System erforderte schließlich zu viel Eigenprogrammierung, berichtete DV-Leiter Reinhard Sayer auf der Konferenz "ERP-Initiative 2007", die von der COMPUTERWOCHE in Frankfurt am Main ausgerichtet wurde. Außerdem gab es zuletzt eine ganze Reihe von Insellösungen beispielsweise für die Finanzbuchhaltung, Projektbearbeitung und Archivierung rund um das Kernsystem. Mit der Expansion des Unternehmens und verschiedenen Zukäufen musste die IT-Abteilung zudem vier verschiedene ERP-Systeme pflegen und warten. An eine Zusammenführung der Applikationen war Sayer zufolge nicht zu denken. Damit habe aber hinter der Zukunftssicherheit der gesamten ERP-Landschaft ein großes Fragezeichen gestanden.

Wie der Alexander Bürkle GmbH geht es derzeit vielen Unternehmen, meint Rüdiger Spies, Independent Vice President für den Bereich Enterprise Applications beim Marktforschungsinstitut IDC. "Viele Anwender denken derzeit über die Einführung eines neuen ERP-Systems nach." Vor allem in Unternehmen, die sich während der Boom-Phase vor zehn bis 15 Jahren ihre aktuelle ERP-Anwendung zugelegt haben, steige die Bereitschaft zum Austausch. "Diese Systeme erreichen allmählich das Ende ihres Lebenszyklus", beobachtet der Analyst.

Darüber hinaus denken laut Spies solche Firmen an einen ERP-Wechsel, deren Business-Software nicht mehr mit der Wachstumsgeschwindigkeit des Geschäfts Schritt halten kann. Grundsätzlich steigen die Erwartungen der Geschäftsverantwortlichen an die IT. Sie müsse hochwertige Business-Lösungen liefern und Geschäftsprojekte beschleunigen, berichtet der Analyst unter Berufung auf eigene Umfragen. Sein Fazit: "Die IT muss das Geschäft besser verstehen." Das betreffe insbesondere die ERP-Systeme, die das Brückenglied zwischen IT- und Business-Seite bildeten.

ERP II: Webkonforme Basisarchitekturen

Die IT-Leiter reichen diese Forderungen direkt an die ERP-Anbieter weiter. "Wir haben eine einheitliche, integrierte Lösung gesucht, die eine hohe Standardfunktionalität mitbringt, flexibel ist und darüber hinaus Möglichkeiten für eigene Entwicklungen bietet und trotzdem die Update-Fähigkeit behält", berichtet IT-Leiter Sayer.

"Die IT muss das Geschäft besser verstehen", fordert IDC-Analyst Rüdiger Spies. Das betreffe insbesondere die ERP-Anwendungen, die als Brückenglied zwischen IT- und Business-Seite dienten.

Die Hersteller bemühen sich indes, die gestiegenen Ansprüche ihrer Klientel mit einer neuen ERP-Generation zu erfüllen. Die Lösungen, die branchenintern oft unter dem Schlagwort "ERP II" zusammengefasst werden, zeichnen sich den Anbietern zufolge durch offene, Web-konforme Basisarchitekturen, Plattformunabhängigkeit sowie ein hohes Maß an Flexibilität, Serviceorientierung, Skalierbarkeit und Interoperabilität aus (siehe auch: ERP II - die Zukunft hat erst begonnen).

Spies zufolge sind die Unterschiede zwischen den beiden ERP-Generationen allerdings eher gradueller als prinzipieller Natur. Während die alten Applikationen in aller Regel unternehmensintern ausgerichtet sowie meist monolithisch und geschlossen aufgebaut waren, müssten die neuen Systeme unternehmensübergreifende Prozesse besser in den Griff bekommen.

"Um dies zu gewährleisten, haben etliche Softwareanbieter in den vergangenen Jahren gewaltige Anstrengungen auf sich genommen", berichtet der IDC-Analyst. Viel Geld sei dabei in die Entwicklung eigener Infrastrukturprodukte geflossen. Dabei habe sich das Web-Interface zur Standardschnittstelle zum Nutzer entwickelt, und der ERP-Kern sei weiter herunter auf die Infrastrukturebene gerutscht. Auf Basis dieser Architekur seien die Anbieter nun in der Lage, die Business-Module in immer kleinere Servicekomponenten aufzulösen. Damit verschwinde jedoch auch der Workflow, der in den größeren monolithischen Systemen vorgegeben war und das eigentliche Know-how der ERP-Anbieter ausgemacht hatte.

ERP III wirft Schatten voraus

Nach Einschätzung von IDC-Analyst Rüdiger Spies wird sich der künftige ERP-Wettbewerb hauptsächlich im Bereich der Informationsplattformen abspielen. Während sich die Anbieter in der Vergangenheit in erster Linie um die Dynamisierung der Infrastrukturplattformen und aktuell um die Dynamisierung der Applikationsplattformen kümmerten, gehe es in Zukunft um dynamische Informationsplattformen. "Die Information als Asset für das Unternehmen rückt mehr und mehr in den Blickpunkt."

"Diesen zu erhalten ist für die Hersteller die große Herausforderung", meint Spies. Dazu fänden sich meist Workflow-Engines in der Infrastruktur der einzelnen Anbieter. Damit gelinge es, das Know-how auch auf Basis einer neuen Architektur zu erhalten und die ERP-Komponenten als Services aus der Middleware-Schicht heraus zu steuern.

Zwar lasse sich diese neue Service-orientierte Softwarewelt bislang kaum in der Realität bewundern, bemerkte der Analyst. Allerdings dürfte der Paradigmenwechsel weitreichende Folgen für das gesamte ERP-Ökosystem haben, so seine Prognose. Schließlich müssten die Hersteller ihre Architekturen so offen gestalten, dass sich andere Anbieter mit ihren Komponenten leicht in die Plattformen einklinken könnten. Spies geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass sich der Druck auf die etablierten ERP-Anbieter erhöhen wird. Es werde beispielsweise für Anbieter von Open-Source-Komponenten einfacher, mit entsprechenden Angeboten in die geöffneten Plattformen einzudringen. Diese Hintertür könnte zudem eine Reihe neuer beziehungsweise altbekannter Anbieter auf den Plan rufen, beispielsweise IBM, die sich eigentlich schon vor Jahren vom Applikationsgeschäft verabschiedet hatte. Wenn die Serviceabteilung des Konzerns zum Beispiel eine bestimmte SOA-Applikationskomponente für eine Reihe von Kunden entwickle, sei es ein Leichtes, daraus ein Produkt zu machen und dieses breit im Markt anzubieten.

Anforderungen an ERP-Anbieter

Außerdem werde es in Zukunft möglich sein, auf Basis von grafischen Interfaces die Funktionen eines ERP-Systems zu steuern, beschreibt Spies die künftigen technischen Möglichkeiten. Benötigten die Anwenderunternehmen früher eine große Zahl von Beratern, um das grafische Design der Geschäftsprozesse in die ERP-Realität umzusetzen, soll dieser Schritt mit der neuen Softwaregeneration automatisch funktionieren. Das habe jedoch weitreichende Folgen für die Systemintegratoren. An der Schnittstelle zwischen dem Prozess-Design-Tool und der Workflow-Engine in der ERP-Plattform würden künftig weniger Leute gebraucht.

Für die Anwender, gerade im Mittelstand, wo nach Einschätzung von Spies die nächste große Schlacht der ERP-Anbieter geschlagen wird, stehen derzeit allerdings viel konkretere Fragen im Blickpunkt. Neben einem akzeptablen Preis für die Software verlangen die Kunden von den ERP-Anbietern ein besseres Verständnis für die Anforderungen und geschäftlichen Notwendigkeiten ihrer Märkte. Produkte wie Services sollten auf die Branchenbelange zugeschnitten sein.

Darüber hinaus wollen sich die Kunden bei ihrem Softwarelieferanten gut und sicher aufgehoben fühlen. "Die Chemie zum Partner muss stimmen", beschreibt Gerhard Jahn, Leiter Informationscenter der Unternehmensgruppe Hoffmann, einen wichtigen Faktor bei der Auswahl des künftigen ERP-Systems. Der Bauch spiele dabei eine bedeutende Rolle.

Auch Alexander-Bürkle-Manager Sayer fordert klare Ansprechpartner und einen ehrlichen Umgang miteinander im Rahmen eines ERP-Projekts. "Die Einführung einer neuen Software ist auch eine emotionale Entscheidung", sagt er unter dem Beifall der knapp 200 Zuhörer. Der IT-Leiter spricht aus leidvoller Erfahrung. Die Einführung des neuen ERP-Systems klappte erst im dritten Anlauf. Der erste Versuch scheiterte daran, dass sich ein Anbieter, der zugesichert hatte, eine neue Oberfläche zu entwickeln, einfach sang- und klanglos aus dem Projekt verabschiedete. Der zweite Anlauf wurde wenige Jahre später abgeblasen, nachdem sich der Preis für das System nach der Feinkonzeptphase plötzlich verdoppelt hatte. "Der Weg war steinig", lautete das Fazit Sayers.

Daher wird sich die mittelständische Klientel nicht blindlings auf die ERP-Fantasien der Hersteller einlassen. Vielmehr werden Funktionen, Branchentauglichkeit sowie Zukunftssicherheit der einzelnen Lösungen genau unter die Lupe genommen. Zu viel steht für die Unternehmen bei einem Systemwechsel auf dem Spiel. Ein fehlgeschlagenes ERP-Projekt führt kleine und mittelgroße Betriebe schnell an den Rand des Ruins. Augenzwinkernd vergleicht Sayer eine ERP-Einführung mit einer Ehe: "Eine Trennung kann richtig teuer werden."