ERP-Backbone für Mysap.com

14.08.2002 von Frank Niemann
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Mit „R/3 Enterprise“, dem Nachfolger des aktuellen Release 4.6C, vollzieht sich ein Architekturwechsel bei der SAP . Das Produkt bricht das bisher monolithische ERP-System in die Kernkomponente „Enterprise Core“, die Funktionserweiterungen „Extensions“ sowie die Ablaufumgebung „Web Application Server 6.20“ auf.

Nach ziemlich genau zehn Jahren verabschiedet sich die SAP von der bisherigen Release-Politik für ihre R/3-Software. Die ERP-Version 4.6C wird die letzte ihrer Art sein. Der Konzern trennt sich von der gewohnten Nomenklatur und nennt seine betriebswirtschaftliche Standardapplikation künftig R/3 Enterprise. Der Entwicklungsstand des Release 4.6C bildet innerhalb von R/3 Enterprise den Enterprise Core und wird deshalb auch R/3 4.7 genannt. Es soll künftig nicht mehr in der bisherigen Form weiterentwickelt werden, Anpassungen an Gesetzesänderungen und Performance-Modifikationen erfolgen jedoch weiterhin.

SAP-Kunden, die in den letzten Monaten ihr R/3 modernisiert haben: Unter den befragten R/3-Bestandskunden setzten zwischen elf und zwölf Prozent mindestens zwei Mysap-Lösungen ein. Das Produkt R/3 Enterprise wird erst in sechs Monaten verfügbar sein und fehlt daher in der Übersicht.

Neu gegenüber R/3 4.6C ist die Unicode-Fähigkeit des Enterprise Core. Dadurch erleichtert sich die Softwarewartung für Unternehmen, die SAPs ERP-Produkt in unterschiedlichen Länderversionen betreiben. Unicode-Systeme vermögen alle sprachspezifischen Zeichensätze, einschließlich fernöstlicher Sprachsymbole, abzubilden.

Extensions ohne Extrakosten

Entgegen allen Gerüchten, zu denen SAP teilweise selbst durch unglückliche Formulierungen beigetragen hat, handelt es sich bei R/3 Enterprise um kein neues Produkt. Vielmehr führt der Hersteller seine ERP-Entwicklung mit diesem Release in anderer Weise fort. Es ermöglicht den Anwendern, zusätzliche Funktionen statt über komplette Release-Wechsel künftig mit Hilfe von „Extensions“ einzuspielen. Diese Erweiterungen müssen die Kunden nicht zusätzlich erwerben, sondern sie erhalten sie im Rahmen ihrer Wartungsvereinbarungen (siehe Kasten „Extension Sets“). Kunden mit Wartungsvertrag migrieren ohne Zusatzkosten von ihren bestehenden Releases auf das neue R/3.

Upgrade von R/3: Nach Angaben von Ralf Strassner, Rollout Manager SAP R/3 Enterprise bei SAP in Hallbergmoos bei München, lassen sich alle R/3-Systeme ab der Version 3.1 direkt auf R/3 Enterprise migrieren. Eine Ausnahme stellen Versionen älter als 4.6C auf I-Series-Rechnern (vormals AS/400) der IBM dar. Hier sind Kunden angewiesen, zunächst auf 4.6C umzustellen und dann R/3 Enterprise einzuspielen. Der Grund: Die Applikation muss vom Großrechnerzeichensatz EBCDIC auf den Ascii-Zeichensatz umkonfiguriert werden.

SAP bietet R/3 Enterprise separat oder als Bestandteil der neuen Anwendungssuite Mysap.com an, in der der Hersteller zusätzlich alle neuen Entwicklungen zusammengefügt hat, die nicht Teil des ERP-Systems sind. So enthält Mysap.com beispielsweise die Softwarekomponenten Advanced Planning and Optimization (APO) oder Customer-Relationship-Management (CRM). Der Kunde kann entweder Mysap.com komplett erwerben oder eine einzelne Mysap-Lösung. „Mysap CRM“ umfasst R/3 sowie Mysap.com-Komponenten für das Kundenbeziehungs-Management.

Die Mysap-Lösungen sind eng mit den Funktionen von SAPs ERP-System gekoppelt. Beispielsweise nutzt Mysap CRM R/3-Kernprozesse zur Auftragsbearbeitung und Rechnungsstellung. „Mysap Financials“ stellt Funktionen zur Finanzanalyse zur Verfügung und greift auf die Kernprozesse der R/3-Finanzbuchhaltung zurück. Mit den Extensions erweitert SAP die R/3-Enterprise-Umgebung offiziell, um ERP-Neuentwicklungen einbinden zu können. Tatsächlich kommen die Walldorfer jedoch nicht darum herum, auf diesem Wege Mysap-Bestandteile an die R/3-Klientel zu liefern. Das Extension Set 1.10 beispielsweise bereichert unter anderen das R/3-Modul Materialwirtschaft (MM) des Enterprise Core um zusätzliche Mechanismen im Bereich Supply-Chain-Execution. Diese Erweiterungen sind jedoch kein Ersatz für die gesamten Supply-Chain-Planning-Features innerhalb der Lösung Mysap SCM.

Weniger Pflegeaufwand

Die mit R/3 Enterprise einhergehende Abkehr vom bisherigen Upgrade-Konzept in Sachen ERP begründet die SAP unter anderem mit dem Wunsch vieler Kunden, ihre Anwendung flexibler modernisieren zu können. Auf den Benutzer soll weit weniger Anpassungsarbeit zukommen, als es mit dem Wechsel auf ein neues R/3-Release bis dato der Fall war. Was bleibt, sind wie bisher regelmäßige Support-Packages zur Fehlerbereinigung und zur gesetzlichen Anpassung der Softwareumgebung. Mehrmals pro Jahr liefert der Hersteller solche Updates für den Enterprise Core aus. Die neuen „Extension Sets“ bringt SAP in regelmäßigen Abständen heraus, Anwender spielen sie nach Bedarf ein. Bisher musste das gesamte ERP-System auf den nächsten Release-Level gebracht werden, etwa von 4.5B auf 4.6C. Eine Parallele gibt es allerdings auch noch in der neuen Architektur: SAP schreibt den Kunden vor, immer die kompletten Extension Sets einzuspielen.

Abap weiterhin favorisiert

Benötigt der R/3-Enterprise-Anwender künftig beispielsweise die PLM-Features (PLM = Product Lifecycle Management) des Extension Sets 2.00, muss er auch die in diesem Satz enthaltenen Erweiterungen für Supply-Chain-Management (SCM) und Financials installieren, egal, ob er sie benötigt oder nicht. Der Hersteller will so eine Vermischung unterschiedlicher Extensions-Versionen vermeiden. Die Zusatzmodule implementiert SAP weiterhin in der hauseigenen Programmiersprache Abap. Java soll nur zur Präsentation auf Web-basierenden Benutzeroberflächen zum Tragen kommen. Technisch gesehen sind Extensions gekapselte Funktionen, die den Enterprise Core nicht modifizieren, sie bedienen sich aber der Mechanismen des darunter liegenden ERP-Kerns.

Extensions Sets statt Release-Wechsel: In regelmäßigen Abständen will SAP Zusatzfunktionen für das ERP-System R/3 Enterprise liefern. Den Enterprise Core will der Hersteller dagegen nicht antasten.

Für SAP selbst hat diese neue Form des Upgrades massive Vorteile, kann sich der Anbieter doch so der kostspieligen Pflege vieler verschiedener Releases entledigen. Im April dieses Jahres hatte der Softwarekonzern den Anwendern mitgeteilt, dass es an der Zeit sei, ältere R/3-Installationen zu aktualisieren. Die Standardwartung für R/3-Versionen kleiner als 4.6C soll nur noch bis Ende 2003 laufen. Firmen, die nach dieser Frist weiterhin ältere R/3-Pakete nutzen wollen, müssen eine erhöhte Wartungsgebühr von 19,5 statt bislang 17,5 Prozent der Lizenzkosten entrichten. Für R/3 4.6C dauert der Wartungszeitraum bis März 2006. Ein Datum für R/3 Enterprise wurde noch nicht genannt, üblich war bisher ein Zyklus von fünf Jahren.

Web Dynpro bald integriert

Das jüngste R/3-Release läuft auf dem „Web Application Server“ (WAS), der sowohl eine Ablaufumgebung für Abap-Code als auch eine J2EE-Engine enthält. Den Abap-Part übernimmt dabei SAPs proprietärer Applikations-Server „R/3 Basis“, den die Walldorfer in den WAS integriert haben. Mit der Entwicklungsumgebung „Web Dynpro“ können Unternehmen Fensterdialoge für Web-Browser entwerfen. Gleichwohl lassen sich bestehende Windows-basierende Dialoge, die mit der Dynpro-Technik erzeugt wurden, im WAS weiterverwenden. Web Dynpro müssen Firmen noch separat erwerben, die Software wird Bestandteil des für nächstes Jahr angekündigten WAS 6.30 sein.

Auch andere Bedenken bezüglich der Weiterverwendung bestehender Produkte zerstreut SAP: Einige Unternehmen haben schon vor Jahren damit begonnen, einen Web-Zugriff auf Dynpro-Oberflächen über den „Internet-Transaction-Server“ (ITS) zu realisieren. Diese Firmen stellen sich nun die Frage, ob sie die Investition mit Einführung des WAS abschreiben müssen. Nach dem Bekunden des Softwarehauses lässt sich der ITS auch in der neuen R/3-Umgebung betreiben. In der nächsten WAS-Version 6.30, die im zweiten Quartal 2003 auf den Markt kommen soll, wird der ITS enthalten sein, so dass Anwender keine zusätzliche Hardware mehr benötigen.

Extension Sets: Mit SAP R/3 Enterprise liefert SAP das erste Extension Set mit der Versionsnummer 1.10 aus. Die Extensions enthalten Features, die über den Funktionsumfang des Enterprise Core, sprich R/3 4.6C, hinausgehen. Hatte SAP bisher neue Funktionen mit R/3-Release-Wechseln verbunden, soll sich die Erweiterung des ERP-Produkts nun über Extension Sets vollziehen. Jedes Jahr will der Hersteller ein weiteres Set herausbringen, das Kunden nach Bedarf installieren. Da R/3 Enterprise aus dem Enterprise Core, den Extensions sowie dem Web Application Server (WAS) besteht, liefert SAP verschiedene Support-Packages für die drei Komponenten. Bei Enterprise Core und den Extensions sind dies:

Enterprise Core Non-HR Support Packages

Enterprise Core HR Support Packages

Extension Non-HR Support Packages

Extension HR Support Packages

Support-Packages erweitern nicht den Funktionsumfang der Software, sondern optimieren die SAP-Produkte, beseitigen Fehler und ergänzen sie um gesetzlich vorgeschriebene Änderungen beispielsweise beim Personalwesen oder der Finanzbuchhaltung. Da im Personalbereich (Human Resource, kurz HR) weit häufiger Updates anstehen, hat der Hersteller die Packages in „HR“ und „Non-HR“ gegliedert. Für den Web Application Server soll es wie bei den Extensions etwa im Jahresrhythmus eine neue Version geben sowie in regelmäßigen Abständen Support-Packages.

SAP hat ein Interesse daran, möglichst viele Bestandskunden auf R/3 Enterprise zu bringen, da sich dieses System besser um Mysap-Produkte ergänzen lässt. Grundsätzlich kann Mysap auch mit älteren R/3-Installationen zum Einsatz kommen, so dass Anwender dieser Programme nicht unbedingt eine Migration zum Enterprise-Produkt vollziehen müssen. Allerdings ist in diesem Fall ein reibungsloser Betrieb nicht gewährleistet und mit funktionalen Einschränkungen verbunden.

Optionale Erweiterungen

Künftige Anwender von R/3 Enterprise, die auf Zusatzfunktionen verzichten möchten und ihre R/3-Umgebungen auf dem gegenwertigen Stand einfrieren wollen, können auf die Extension Sets verzichten. Gleichwohl sind diese Erweiterungen nach Darstellung des Softwarekonzerns auch für Firmen sinnvoll, die R/3 Enterprise im Stand-alone-Betrieb einsetzen, und zwar dann, wenn sie beispielsweise bestimmte SCM-Funktionen über die Extensions erhalten, ohne ein komplettes Mysap SCM einführen zu müssen. Ulf Scherenberg, Leiter des SAP Customer Competence Center beim IT-Dienstleister Rheinmetall Informationssysteme aus Hamburg, betreibt etwa 150 R/3-Systeme für verschiedene externe Kunden und hofft darauf, dass er die Betriebskosten mit R/3 Enterprise senken kann. „Wenn ich beispielsweise das E-Procurement-Programm ,Enterprise Buyer Professional’ installieren möchte, muss ich heute prüfen, ob dies mit den unterschiedlichen Release-Ständen der R/3-Systeme

verträglich ist.“ Mit R/3 Enterprise hätten alle R/3-Systeme die gleichen Kernfunktionen. „Wir versprechen uns eine substanzielle Verbesserung bei der Wartung - vorausgesetzt, die SAP-Technik hält, was sie verspricht.“ Bald wird Scherenberg mehr wissen, denn jüngst hat sein Unternehmen das erste R/3-Enter- prise-Projekt für einen Kunden in Angriff genommen.

Mysap.com und R/3 sind unzertrennlich: Mit fast allen Mysap-Lösungen erwirbt der Kunde auch R/3. Theoretisch könnten auch andere Hersteller das ERP-System beisteuern.

In sechs Monaten verfügbar

Nach Angaben der SAP laufen bei 58 Firmen R/3-Enterprise-Systeme in Testumgebungen. Diese „Ramp-up“-Phase soll sechs Monate andauern, danach stellt der Anbieter allen Kunden das neue ERP-System zur Verfügung. Prinzipiell könnten Unternehmen die Mysap-Anwendungen statt mit R/3 mit den ERP-Produkten von Konkurrenzanbietern wie Oracle, Baan oder Peoplesoft betreiben. Allerdings obliegt es in diesem Fall dem Anwender, für die erforderliche SAP-Schnittstelle zu sorgen. Der Softwarekonzern macht keinen Hehl daraus, dass sein ERP-System am besten mit der Mysap.com-Suite funktioniert. So dürfte es wenige Firmen geben, die Mysap-Software ohne die betriebswirtschaftliche Standardapplikation der Walldorfer betreiben. Der Kunde erwirbt sowieso mit einer Mysap-Lösung die Komponente R/3 Enterprise. Geschenkt wird ihm das ERP-System natürlich nicht: Sollen CRM-Nutzer auf R/3-Features zugreifen, schlägt sich dies in dem mit SAP zu vereinbarenden Lizenzvertrag für Mysap CRM

nieder.

Mit R/3 Enterprise hält sich die SAP die Option offen, Abstand von der bisherigen ERP-Entwicklungsmethodik zu nehmen. So können sich manche Experten vorstellen, dass immer mehr Funktionen aus dem Enterprise Core in die Extensions wandern, wo sie einfacher zu optimieren beziehungsweise leichter um weitere Features zu erweitern wären, als dies innerhalb des Kernsystems möglich wäre.

R/3 zukünftig entkernt?

„Der R/3-Kern könnte in der weiteren Zukunft relativ leer und dessen Funktionen als Extensions mit den Mysap-Lösungen verschmolzen werden“, mutmaßt Rüdiger Spies, Vice President Application Delivery Strategies beim Beratungsunternehmen Meta Group aus Ismaning. Dem entgegnet die SAP, die Extensions enthielten ausschließlich neue ERP-Features. Eine Auslagerung von Funktionen aus dem Kern ergebe keinen Sinn, da der Hersteller auch solche Kunden berücksichtigen müsse, die keine Extensions aktivieren möchten.