Industrie 4.0 ist keine Theorie mehr

Die vierte industrielle Revolution kommt in der Wirklichkeit an

21.12.2015 von Sandra Lucia Merz
Zahlreiche Praxisbeispiele führen heute schon zu bemerkenswerten Ergebnissen. Wie kommen die Erfolge zustande? Und warum ist es wichtig, sich mit dem Thema zu beschäftigen?

Was haben Harley Davidson und der Hamburger Hafen gemeinsam? Auf den ersten Blick nichts! Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass die beiden vielen anderen Unternehmen in einer Beziehung weit voraus sind: Sie haben es geschafft, ihre Produktionsprozesse zu digitalisieren und dadurch Ziele zu erreichen, von denen andere Unternehmen bislang nur träumen.

Warum Sie sich jetzt um Industrie 4.0 kümmern sollten
Warum Sie sich jetzt um Industrie 4.0 kümmern sollten
Industrie 4.0 bietet zahlreiche Chancen, um die Herstellungsprozesse nicht nur nachhaltig zu verbessern, sondern einen Quantensprung innerhalb der Produktion zu erreichen.
Individualisierung von Kundenwünschen ...
... durch Rentabilität bei der Produktion von Kleinstmengen (Losgröße 1), Berücksichtigung individueller und kurzfristiger Kundenwünsche beim Design sowie in der Planung und Produktion.
Flexibilisierung und Verkürzung ...
... der Lead Time und Time to Market.
Dynamische Geschäftsprozess-Gestaltung ...
... durch Verkürzung von Entwicklungszeiten und Ad-hoc-Vernetzung von cyber-physischen Produktionssystemen.
Schnelle, flexible Reaktion auf Veränderungen ...
... wie Ausfälle von Zulieferern oder kurzfristige Erhöhung von Liefermengen. - Durchgehende (digitale) Transparenz in Echtzeit, dadurch schnelle und flexible Entscheidungen sowie globale Optimierungen in Entwicklung und Produktion.
Optimierung der Produktion ...
... hinsichtlich Ressourcen- und Energieverbrauch sowie Emissionen.
Predictive Maintenance ...
... im Produktionsbereich (Vorhersage und Optimierung von erforderlichen Wartungsprozessen).
Innovative Geschäftsmodelle, ...
... Dienstleistungen und B2B-Services durch Themen wie Big Data und RFID-Chips, Angebote für komplette Lösungen und Rundum-Dienstleistungen.
Demografieorientierte Arbeitsgestaltung ...
... durch das Zusammenspiel zwischen Mensch und technischen Systemen.
Verbesserte Work-Life-Balance ...
... aufgrund höherer Flexibilität in der Arbeitsorganisation.

Beispiel für eine intelligente Produktion

Harley Davidson ist es gelungen, die Durchlaufzeit der Produktionsprozesse von 26 Tagen auf sechs Stunden zu verkürzen - eine Reduktion um mehr als 90 Prozent. Gleichzeitig konnte die Herstellung so individualisiert werden, dass der Kunde ein auf seine persönlichen Wünsche zugeschnittenes Motorrad erhält. Aus Tausenden von Kombinationsmöglichkeiten lassen sich so viele Modelle konfigurieren, dass ein vollständiges Duplikat einer existierenden Maschine eher unwahrscheinlich ist.

Im Hamburger Hafen hat sich der Waren- und Container-Durchsatz im Vergleich zum Jahr 2000 mehr als verdoppelt. Auf Basis einer verbesserten Verkehrsfluss-Steuerung lassen sich die Waren schneller abwickeln: Das System erfasst GPS-Daten von Speditionen und LKWs, koordiniert und überwacht Routen und Parkplatzbelegungen, schickt schließlich die relevanten Informationen über die Cloud auf die Tablets der LKW-Fahrer, um Staus zu verringern und Standzeiten einzuschränken. Mittelfristig sollen immer mehr Teilnehmer zu Lande und zu Wasser integriert werden.

Die Voraussetzung für beide Fälle lässt sich in einem Schlagwort zusammenfassen - Industrie 4.0. Dieser Begriff beschreibt ein Konzept zur Ablösung der traditionellen Produktionsstrukturen, die eher auf zentralen Entscheidungsmechanismen und starren Grenzen basieren. Stattdessen kommen autonome, selbststeuernde, wissensbasierte und sensorgestützte Produktionssysteme zum Einsatz. Sie zeichnen sich durch eine starke Individualisierung der Produkte und eine hoch flexibilisierte Serienproduktion aus. Kunden und Partner werden in die Wertschöpfungsprozesse integriert und Datenbestände automatisch untereinander synchronisiert.

In der smarten Fabrik der Zukunft werden Aufträge via Internet direkt vom Kunden ausgelöst, und die bestellten Produkte steuern ihre Fertigung selbständig durch die gesamte Wertschöpfungskette. Sie reservieren Bearbeitungsschritte innerhalb der Fertigungsprozesse, buchen Anlagen sowie Materialien und kontrollieren automatisch die Ausführung. Kommt es zu einer erkennbaren Verzögerung, wird eine Alternative zum Prozess gesucht oder dem Kunden die Verspätung mitgeteilt. Gleichzeitig tauschen die verschiedenen Produktionsanlagen untereinander Daten aus, organisieren Auftragsreihenfolge sowie ihre Wartungs- und Instandhaltungsbedarfe.

Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, ist es noch ein weiter Weg bis zu einer Produktion, die vollständig solchen Prinzipien folgt. Aber heute schon lassen sich Kernelemente von Industrie 4.0 in bestehende Produktionsanlagen einbauen, wo sie auch bereits Wirkung zeigen.

Die fünf Industrieparadigmen

Bedeutende Paradigmenwechsel innerhalb der Produktion lassen sich am besten in der Rückschau erkennen. So wurden bislang drei industrielle Revolutionen erkannt und mit Namen versehen (siehe oben). Der Blick zurück zeigt, dass viele Unternehmen erst spät reagiert oder den Weckruf ganz verschlafen haben. Bei der vierten industriellen Revolution wird nun ein neues Kapitel der Industriegeschichte aufgeschlagen - mit Chancen und Risiken.

Industrie 4.0 ist eigentlich der Name eines Zukunftsprojekts in der Hightech-Strategie der Bundesregierung. Damit soll der Produktionsstandort Deutschland gesichert und das Erzeugen und Nutzen von Informationen in der Produktion vorangetrieben werden. Es handelt sich also um den Versuch, in Form eines Konzepts etwas zu beschreiben, aus dem künftige Produktions- und Arbeitsweisen entstehen. Aus der Vorausschau entsteht ein detailliertes Leitbild, das als Vision und als Instrument dienen soll.

Dezentrale Produktionssteuerung: Am Praxisbeispiel des Speziallackherstellers und des Gehäusefertigers lassen sich die Abläufe in einem intelligenten Produktionssystem nachvollziehen

Die Chance von Industrie 4.0 liegt in der Konsequenz, mit der Produktionsanlagen und -prozesse mit Lösungen aus der Informations- und Kommunikationsbranche verbunden werden. So entsteht etwas völlig Neues. Im Kern weist Industrie 4.0 fünf zentrale Paradigmen auf. Veranschaulichen lassen sie sich anhand eines anonymisierten, aber konkreten Beispiels - der Kooperation zwischen einem Hersteller für Speziallacke und einem Gehäuseproduzenten für die Automobilherstellung.

Paradigma 1: Horizontale und vertikale Integration aufeinander abgestimmter Prozesse und IT-Systeme statt unabhängig agierender Einzellösungen

IT-Systeme, die für unterschiedliche Prozessschritte der Unternehmenssteuerung (Material-, Energie- und Informationsfluss) zuständig sind, werden sowohl innerhalb eines Unternehmens als auch unternehmensübergreifend miteinander verbunden. Gleichzeitig kommunizieren IT-Systeme auf unterschiedlichen Hierarchieebenen (ERP, MES, Zellsysteme) lösungsorientiert miteinander.

Praxisbeispiel: Optimierung der Logistik

Die für die Produktionssteuerung zuständigen Teams eines Speziallack- sowie eines Gehäuseherstellers analysieren ihre jeweiligen Produktionsprozesse und optimieren die Schnittstellen. Immer, wenn in der Lackieranlage des Gehäuseherstellers der Füllstand einen bestimmten Wert unterschreitet, lässt sich eine neue Lieferung auslösen.

Die Unternehmen tauschen kontinuierlich Daten aus: Den Füllstand erfassen Sensoren, die ihn umgehend an eine unternehmensübergreifende Produktionssteuerungseinheit melden. Diese generiert automatisch die Nachbestellung beim Speziallackhersteller und überwacht die Zulieferung. So kommt es zu weniger Unterbrechungen in der Produktion, und die Unternehmen sparen gleichzeitig Lagerkosten.

Paradigma 2: Vernetzung der Produktionsanlagen durch das Internet der Daten, Dienste und Dinge statt aufwendiger manueller Datenintegration und -steuerung

Die Nutzung und Integration des Internets, vor allem des Cloud Computings, ermöglicht eine Maschine-zu-Maschine-Kommunikation. Zusätzlich kommen RFID-Chips (Radio Frequency Identification) zum Einsatz. Damit wissen die Produktionsteile der Smart Factory jederzeit, wo sie sind. Sie kennen ihre Historie, ihren aktuellen Zustand und die Produktionsschritte, die ihnen noch zum fertigen Produkt fehlen.

Praxisbeispiel: Dezentrale Produktionssteuerung

Der Speziallackhersteller hat beschlossen, seine Lacke auch über das Internet anzubieten. So können Endkunden, beispielsweise Heimwerker, auf der Firmen-Website einen Farbton und eine Lackqualität auswählen. Die Bestellungen werden nach Menge, Farbmischung und Verwendungszweck gesammelt, von einer Produktionsplanungs-Software ausgewertet und so gruppiert, dass sich eine optimale Bearbeitungs-Reihenfolge ergibt.

Für jede Lackbestellung wird ein Funkchip mit allen relevanten Informationen versehen und auf dem Lackbehälter befestigt. Er übernimmt die Produktionssteuerung, indem er den Lackbehälter selbständig durch die Fertigungsstrecke schleust. Mit den Produktionsanlagen tauscht er kontinuierlich seinen Verarbeitungsstatus aus, so dass der Behälter an der jeweiligen Abfüllstation mit der richtigen Lackmischung befüllt wird. So lassen sich mit derselben Anlage weit mehr Produktvarianten herstellen. Die Gesamtproduktion steigt, Stückkosten sinken.

Paradigma 3: Nutzung dezentraler Intelligenz: Intelligente Produkte statt zentral geplanter Gesamtablaufsteuerung

Neue Produktionssysteme ermöglichen eine vernetzte, dezentral organisierte und teilweise sich selbst organisierende Automation. Jede Komponente eines Automatisierungssystems (Sensor, Aktor oder Steuerung) kann ohne zentrale Steuerung mit einer anderen im Netz kommunizieren. Sie trifft selbständig Entscheidungen über eine Produktionsoptimierung. Netze aus kommunizierenden Einheiten unterstützen die Smart Factory und beseitigen oder vermeiden Störungen.

Praxisbeispiel: Verbesserung der Produktionsdurchlaufzeit und der Produktqualität

Die Vernetzung der Produktion ermöglicht den beiden Unternehmen, ihre Fertigungsabläufe individuell aufeinander abzustimmen. So erhält die Lackieranlage des Gehäuseherstellers vom Funkchip des Farbbehälters Anweisungen zu den optimalen Verarbeitungsbedingungen des Lacks. Die Maschine gleicht diese Daten mit der aktuellen Temperatur des Gehäuserohlings ab.

Stellt sie eine Diskrepanz fest, weil sich der Rohling aufgeheizt hat, hält sie den Lackierprozess an oder zieht andere Aufträge vor. Auf diese Weise kann das Unternehmen seine Produktion optimieren, Standzeiten vermeiden sowie Durchlaufzeit und Qualität seiner Produkte erhöhen.

Paradigma 4: Digital durchgängiges Engineering statt voneinander losgelöster Fabrik-, Produkt- und Produktionsplanungsprozesse

Digitale und physische Welt greifen nahtlos ineinander, indem Fabrik-, Produktentwicklungs- und Produktionsplanung als integrierter Gesamtprozess betrachtet werden. Es entsteht ein durchgängiges Produkt- und Produktionsdesign über den Lebenszyklus von Produkten und Herstellungsmaschinen. So lassen sich Medienbrüche und daraus entstehende Kosten vermeiden. Gleichzeitig wird die Produktion deutlich flexibler.

Erreicht wird das durch die effektive und effiziente Neukonfiguration von Produktionsmitteln sowie durch integrierte, digitale Engineering-Prozesse, mit denen sich die Reaktionszeiten massiv verkürzen lassen.

Praxisbeispiel: Optimierung der Produktionsdurchlaufzeit und -rüstzeit sowie der Wartungs- und Serviceprozesse

Der Gehäusehersteller setzt die RFID-Technik auch bei den Rohlingen ein. Auf diese Weise erhält er ein flexibles Werkzeug-Management für die Fertigungsroboter. Anhand der Chipinformationen auf dem Gehäuserohling erkennen sie beispielsweise, welches ihrer Werkzeuge für die jeweilige Gehäuseart zu verwenden und wie hoch dessen aktueller Abnutzungsgrad ist.

Der Produktionsleiter erhält zu bestimmten Zeitpunkten Wartungsanalysen und kann hochrechnen, wann ein bestimmtes Werkzeug ausgetauscht werden muss. Fällt ein Werkzeug aus, "überholen" andere Fertigungsprodukte. Gleichzeitig werden Daten zur Nutzung des Roboters gesammelt, mit denen sich die Produktions- und Produktplanungsprozesse insgesamt verbessern lassen. Wartungsarbeiten werden so gebündelt und zu nichtproduktiven Zeiten vorgenommen.

Paradigma 5: Einbettung von cyber-physischen Produktionssystemen statt getrennter Daten-, Prozess- und IT-Systemwelten

Cyber-physische Systeme (CPS) kombinieren die reale Welt (Produktionsmaschinen) mit der virtuellen (3D-Konstruktionen). Sie helfen, Produktions- und Instandhaltungsabläufe zu optimieren und Fehler zu vermeiden. Alle Informationen liegen in den Systemen digital vor; Produktionsschritte werden einfacher plan- und durch Simulation optimierbar.

Praxisbeispiel: Optimierung der Produktionsprozesse durch Kopplung von Produktionssimulation und Steuerung

Der Gehäusehersteller plant, neue Gehäuse typen in seine Produktion aufzunehmen. Dafür muss die gesamte Produktionsplanung und -ausführung umgestellt werden. Anhand einer Simulationssoftware wird der neue Fertigungsablauf virtuell nachgestellt. Dazu ist ein vollständiges Abbild aller Maschinen und Roboter sowie der Fertigungshalle und der Produktionswege nötig.

Der Produktionsablauf wird anhand verschiedener Eventualitäten getestet und gegebenenfalls so lange angepasst, bis die Produktion auch bei Störungen weitgehend selbstgesteuert abläuft. Ist die Simulation schließlich zufriedenstellend, werden die Einstellungsparameter auf die Produktionsmaschinen überspielt. Fortan läuft die reale Produktion nach den Regeln und Einstellungen der Simulation ab. Der Gehäusehersteller spart auf diese Weise Produktionsentwicklungs- und Einstellungszeit.

Fazit

Generell gesprochen, erlaubt es Industrie 4.0, Produktionsabläufe im Detail und nahezu in Echtzeit zu verfolgen, sie also auf bislang unmögliche Weise zu optimieren. Hinzu kommt eine intensivierte Verbindung zwischen Lieferanten und Kunden mit neuen Möglichkeiten wechselseitigen Nutzens. In der Konsequenz entstehen völlig neue Produktionsmethoden und Wertschöpfungsnetze. Von daher ist allen produzierenden Unternehmen zu raten, sich jetzt mit dem Thema zu beschäftigen und zumindest zuprüfen, welche Vorteile, Chancen, Risiken und Effizienzen sich durch eine Umstellung auf Industrie-4.0-Standards ergeben. (qua)