Erkrankte früher die Ehefrau eines IBM-Mitarbeiters, schickte die Firma kurzerhand eine Krankenschwester ins traute Heim, um die malade Familienangehörige zu pflegen. Das waren noch Zeiten, möchte man meinen...
Doch falsch gedacht. Auch heute noch kommt in diesem Fall eine Krankenschwester ins Haus - nur dass IBM die nicht mehr selbst beauftragt, sondern seine Mitarbeiter über die entsprechenden Leistungen der Krankenkasse aufklärt. Und dass das Ganze heute im Rahmen des IBM Well-being Programms stattfindet und dieses bei noch krasseren Fällen als Krankenschwesterdiensten Hilfe anbietet: bei Suchtproblemen etwa, Ehekrisen oder sogar bei Amokläufen.
Heikle Themen aller Art machen nicht vor der Bürotür Halt. Und immer mehr Firmen fühlen sich mitverantwortlich. Nicht ohne Grund: Denn die Folgen aus steigendem Arbeitsdruck und privaten Sorgen beeinträchtigen die Arbeitsfähigkeit vieler Mitarbeiter - und landen so auf der Agenda der Arbeitgeber.
Die Maxime lautet: Heiße Eisen erkennen und anpacken. "In Zeiten knappen Fachpersonals bemühen sich die Betriebe nach Kräften, möglichst viele Stressfaktoren ihrer Mitarbeiter abzustellen. Daher fühlen sie sich neuerdings nicht nur für die Arbeitsbedingungen verantwortlich, sondern rundum für den ganzen Mitarbeiter", sagt Alexa Ahmad, Geschäftsführerin des pme Familienservice in Berlin. Als Dienstleister bietet ihre Firma den Unternehmen Rundumsorglos-Pakete für ihre Mitarbeiter an. Für die ist die anonyme Beratung kostenlos, Arbeitgeber zahlen einen Festpreis. Ein 30-Mann-Betrieb ist mit rund 5000 Euro im Jahr dabei. Für 500 Angestellte zahlt ein Unternehmen bei pme um die 38.000 Euro.
Scheidung und Schulden, Traumata und Todesfälle, Alkohol, Angststörungen, Arbeitsüberlastung und vieles mehr: In so gut wie allen Lebenslagen erhalten Angestellte Hilfe. Employee Assistance Programs (EAP) heißen die Maßnahmen, zu deutsch auch mitarbeiterorientierte Services. Mit ihnen wollen Arbeitgeber Gesundheit, Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit ihrer Belegschaften erhalten und stärken.
Vorbeugen ist besser als Krank schreiben
In Zeiten von Demografiewandel und Fachkräftemangel entdecken ITK-Unternehmen eine neue Ebene der Fürsorgepflicht. "Auch bei IT-Startups kommen die Mitarbeiter langsam in die Jahre", erklärt Ahmad. "Im Zuge dessen entdecken die Geschäftsleitungen, dass Tischfußball und Dartscheiben nicht ausreichen, um bei der Belegschaft Leistungsfähigkeit und Freude an der Arbeit zu erhalten."
Das sehen auch die großen Firmen der Branche so. "Mitarbeiter, die den Kopf voller Sorgen haben, schöpfen ihr Leistungspotenzial nicht aus", sagt Lars Gielg, HR Manager Integrated Health Services bei IBM in München. Daher liege es sowohl im humanistischen als auch im unternehmerischen Interesse, ihnen zur Seite zu stehen. Diese Einstellung ist mittlerweile Common Sense in der Branche. Bei der Deutschen Telekom heißt es: "Als Arbeitgeber sind wir auch ein Spiegel der Gesellschaft. Wenn die Menschen in eine Arztpraxis gehen, ist es oft schon zu spät", sagt Anne-Katrin Krempien, ärztliche Direktorin beim Bonner TK-Riesen. "Wir versuchen gesundheitliche Belastungen frühzeitig zu erkennen und unsere Mitarbeiter dabei zu unterstützen, rechtzeitig gegenzusteuern."
Gut so, loben Experten. "Unternehmen sollten Probleme wie Sucht, Mobbing oder Burn-out in ihren Reihen nicht verleugnen", sagt Monika Heilmann, Management-Trainerin, Coach und Wirtschaftsmediatorin aus Leinfelden. "Heiße Eisen anzupacken, liegt im Eigeninteresse der Firmen." Denn Konflikte, die das Berufsumfeld stören, können Teams und Arbeitgeber mächtig belasten. Sie stören das Betriebsklima, bremsen die Produktivität, strahlen negativ auf das Image von Abteilung und Firma aus und verursachen erhebliche Krankheitskosten.
Gemäß dem aktuellen BKK Gesundheitsreport 2011 verbuchte die IT-Industrie im Jahr 2010 pro pflichtversichert Beschäftigtem 8,3 Arbeitsunfähigkeitstage, in der Telekommunikation lag der Wert sogar bei 15,3 Tagen.
Um auch künftig wettbewerbsfähig zu bleiben, setzen viele Firmen schon heute auf Prävention. So wie die Telekom. Um heikle Situationen rechtzeitig zu erkennen, hat das Unternehmen 2010 ein "Frühwarn-Cockpit" eingerichtet. Herzstück dieser Datensammlung ist - neben Fluktuations- und Arbeitsunfähigkeitsberechnungen - eine Mitarbeiterbefragung mit 50 Fragen zur psychischen Gesundheit. Der Gedanke dahinter: "Jeder Mitarbeiter, den wir frühzeitig stabilisieren können, bleibt motiviert und leistungsfähig und fällt damit womöglich gar nicht erst aus", so Krempien. Das Frühwarnsystem soll zudem verhindern, dass sich kranke Mitarbeiter zur Arbeit schleppen und dort vermeidbare Schäden anrichten. Personaler sprechen dabei von Präsentismus.
Anonyme Telefon-Hotline
Zur Vorbeugung dieses unerwünschten Phänomens arbeitet die Telekom mit rund 50 internen und externen Beratern zusammen, die auf seelische Probleme aller Art spezialisiert sind. Die Mitarbeiter erreichen die Psychologen und Coaches entweder per kostenfreier und anonymer Telefon-Hotline oder in Beratungsgesprächen - innerhalb oder außerhalb ihrer Arbeitszeit.
Zudem offeriert der Konzern neben Seminaren zu Themen wie Sucht oder Stress auch spezielle Resilienz-Workshops, in denen die Teilnehmer lernen, mit belastenden Themen umzugehen. Schon mehr als 1000 Angestellte haben hier Hilfe gesucht.
Führungskräfte sensibilisieren
Burnout, Team-Konflikte und die Betreuung kranker Angehöriger: Laut pme-Chefin Ahmad sind dies derzeit die Top-drei-Themen in der Lebenslagenberatung. Diese Phänomene sind auch Peter Hesse gut bekannt. Er verantwortet das Mitarbeiterberatungsprogramm in der Personalabteilung bei Hewlett-Packard (HP) in Böblingen, das genau in solchen Fällen Hilfe bietet. Das Hilfsprogramm kostet HP rund zehn Euro pro Mitarbeiter und Jahr. "Nicht viel Geld, wenn wir damit Krankenstände vermeiden und die Mitarbeiterloyalität steigern können", findet Hesse. Zudem sendet es positive Signale nicht nur für Betroffene. Das Angebot gebe allen Kollegen das gute Gefühl, "im Fall eines Falles ein Netz zu haben, das sie auffängt", sagt Hesse. So zahle die Mitarbeiterberatung auch auf das Employer Branding der Firma ein.
HP selber sieht sich als Brückenkopf zwischen Mitarbeitern und dem externen Beraterpool aus Psychoanalytikern, Verhaltenstherapeuten und Psychologen. Für alle Angestellten und ihre im selben Haushalt lebenden Familienangehörigen sind sechs Sitzungen kostenlos. Im Intranet steht darüber hinaus ein virtuelles Counselling mit Selbsttest bereit. Und eine extra gegründete "Take-care-Taskforce" aus zehn Mitarbeitern soll die Kollegen auf alle Hilfsangebote aufmerksam machen.
Andernorts fällt diese Aufgabe oft den Führungskräften zu. Zu ihren Pflichten gehört es, die Probleme ihrer Teammitglieder zu erkennen, anzusprechen und Unterstützung zu vermitteln. Keine leichte Angelegenheit, zumal psychische Probleme noch immer ein Tabuthema sind. "Sie gelten oft als Zeichen von Schwäche - vor allem bei den Betroffenen selber", weiß Trainerin Heilmann. Für Chefs macht dies den offenen Umgang mit heißen Eisen noch schwieriger. "Ziel von Unternehmen sollte es daher unbedingt sein, Berührungsängste abzubauen und möglichst niedrigschwellige Angebote zu entwickeln", fordert Heilmann.
Vorbildfunktion der Führungskräfte
Neben anonymen Beratungsstellen gehören auch spezielle Trainings für Führungskräfte. In denen werden sie für das Thema sensibilisiert und lernen angemessene Verhaltensweisen im Umgang mit den betreffenden Kollegen. Inhalte solcher Lehrgänge sind zum Beispiel: das Bewusstmachen der eigenen Vorbildfunktion, die Kontrolle der Sicherheitsvorschriften, das diskrete Handling des Problems im Team sowie die Unterstützung der Mitarbeiter durch Verweis auf die Hilfsangebote.
Ganz wichtig aber ist auch die richtige Einordnung der Schwierigkeiten. So ist ein schlechtes Gewissen auf jeden Fall fehl am Platz. "Führungskräfte haben nicht versagt, wenn in ihrem Team solche Probleme auftreten", erklärt Heilmann. "Sie haben nur dann versagt, wenn sie genau das ignorieren."
Leichter gesagt als getan? Keine Frage: "Die Ansprüche an Vorgesetzte steigen", sagt Professor Bernhard Allmann, Dozent an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheits-Management in Saarbrücken. "Einerseits sollen sie in ihrem Team ein Bewusstsein für die Gesundheit schaffen und Defizite schnell erkennen. Andererseits dürfen sie sich nicht selbst überfordern und versuchen, die Rolle von Hobby-Psychologen zu übernehmen."
Diese Zwickmühle kennt auch Brigitte Kaluscha-Voigt, Consultant Human Resources bei Computacenter in München. "Führungskräfte müssen ihren Mitarbeitern ein Vorbild sein, zugleich sind sie aber auch selbst besonders belastet", so die Personalerin. "Wer aber selber belastet ist, kann anderen nicht genug den Rücken freihalten." Computacenter bietet seinen rund 4700 Mitarbeitern in Deutschland seit 2008 ein Lebenslagen-Coaching mit Telefon-Hotline, Beratungsgesprächen und Webinaren an. Doch das allein reicht dem IT-Dienstleister nicht mehr. Um speziell die Vorgesetzten für ihre Aufgaben zu rüsten, nimmt die Firma ab 2013 maßgeschneiderte Führungskräftetrainings in ihr Programm auf. Titel: "Gesund führen - sich selbst und andere". Kaluscha-Voigt ist überzeugt, dass sich auch dieses Angebot rechnen wird: "Jedes Problem, das gelöst wird, ist ein Erfolg."
Ein Erfolg übrigens nicht nur für den betreffenden Mitarbeiter, sondern auch für dessen Chef. Je weniger Sorgen seine Mitarbeiter mit sich herumtragen, desto leistungsfähiger arbeiten sie, und das wiederum kurbelt die Produktivität der ganzen Abteilung an. Gesundheitsprofessor Allmann verweist auf einen wichtigen Zusammenhang: "Schlechte Führungskräfte nehmen beim Abteilungswechsel ihre Krankenstände mit", sagt er. "Gute aber auch." Heiße Eisen anzupacken, zahlt sich also aus. Wer die Probleme rechtzeitig anspricht, sorgt nicht nur für gesündere Mitarbeiter, sondern gleichzeitig auch für gesündere Bilanzen.
Was tun im Fall der Fälle?
Wie Vorgesetzte heikle Themen ansprechen sollten - dargestellt an einem Interventionsgespräch mit einem alkoholkranken Teammitglied.
Erstellen Sie Erinnerungsstützen
Dokumentieren Sie alle Auffälligkeiten im Arbeits- und Sozialverhalten des betreffenden Teammitglieds sowie sämtliche Fehler und Abweichungen in seiner Arbeitsleistung. Alles mit Ortsangabe, Datum und Uhrzeit. Das hilft Ihnen später bei der Beweisführung.
Holen Sie Hilfsangebote ein
Bereiten Sie eine Liste mit internen und externen Beratungsangeboten vor - möglichst ausführlich mit Ansprechpartnern und Kontaktdaten. Damit erhöhen sich die Chancen, dass der Betroffene wirklich Hilfe sucht.
Achten Sie auf Ihre Sandwichposition
Als Führungskraft haben Sie eine soziale Verantwortung für Ihre Mitarbeiter und zugleich eine unternehmerische Verantwortung für die Firma. Haben Sie eine freundschaftliche Beziehung zu dem betreffenden Teammitglied, machen Sie sich - und ihm (oder ihr) - klar, dass Sie das Gespräch aus Ihrer Vorgesetztenverantwortung heraus führen.
Stellen Sie eine Wohlfühlatmosphäre her
Keine Frage: Solch ein Gespräch ist für beide Seiten schwer. Ihre Aufgabe ist es daher, die Rahmenbedingungen so angenehm wie möglich zu gestalten. Sorgen Sie für einen störungsfreien und vertraulichen Gesprächsverlauf. Also: Tür zu, Smartphone aus, Telefon umleiten.
Reden Sie Klartext
Erzählen Sie ruhig und klar, welche konkreten Auffälligkeiten Sie beobachtet haben und welche Fehler Sie Ihrem Gegenüber (anhand der erstellten Liste) nachweisen können. Und machen Sie deutlich, dass diese Ihnen Sorgen bereiten.
Rüsten Sie sich für die Widerrede
Machen Sie sich bewusst, dass ein auffälliger Mitarbeiter in der Regel versuchen wird, seinen Alkoholkonsum als mögliches Problem zu verbergen und schnell Ausreden für eventuelle Ausrutscher vorbringen wird. Lassen Sie sich davon aber nicht einwickeln.
Bieten Sie Hilfe an
Überreichen Sie dem Mitarbeiter die vorbereitete Liste mit Hilfsangeboten und bieten Sie ihm Ihre Unterstützung bei der Kontaktvermittlung an.
Weisen Sie auf Konsequenzen hin
Nehmen Sie die Versprechungen des Mitarbeiters ernst und verabreden Sie mit ihm konkrete Veränderungen, die Sie erwarten (zum Beispiel das Aufsuchen der internen Sozialberatung). Kündigen Sie im Fall eines erneuten Fehlverhaltens konkrete Auflagen an. Diese müssen verbindlich, konsequent und angemessen sein (etwa eine Krankmeldung bereits nach dem ersten Arbeitstag). Wenn arbeits- oder disziplinarrechtliche Konsequenzen unumgänglich sind, sollten Sie vorab die Personalabteilung darüber informieren.
Planen Sie einen Kontroll-Termin ein
Fassen Sie am Ende des Gesprächs alle Vereinbarungen sowie die Konsequenzen noch einmal zusammen und verweisen Sie erneut auf die Hilfsangebote. Machen Sie einen schriftlichen Vermerk, und legen Sie einen Termin für ein Feedbackgespräch innerhalb von sechs bis acht Wochen fest.
(Quelle: In Anlehnung an "Alkohol am Arbeitsplatz - Eine Praxishilfe für Führungskräfte", herausgegeben von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. und der Barmer GEK.)