re:publica'09

"Der Datenschutz befindet sich in einer tiefen Krise"

02.04.2009 von Simon Hülsbömer
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar wies im Rahmen der "re:publica" auf schwere Missstände im deutschen Datenschutzrecht hin und forderte eine ethische Grundlage zur Weiterentwicklung der Informationsgesellschaft.

Schaar trat mit einer ernüchternden Feststellung vor die Blogger im Berliner Friedrichstadtpalast: "Der Datenschutz befindet sich in einer tiefen Krise." Zahl und Ausmaß von Datenmissbrauchsfällen hätten in den vergangenen Jahren immens zugenommen. Demonstrationen für mehr Datenschutz sowie für mehr Meinungs- und Versammlungsfreiheit, wie es sie noch in den 80er Jahren zuhauf gegeben habe, fänden - anders als vielleicht zu erwarten - immer weniger Unterstützer. "Überwachung ist alltäglich geworden und kaum einer regt sich noch darüber auf", resümierte der oberste deutsche Datenschützer.

Peter Schaar forderte mehr Verantwortung für den Datenschutz in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Er zeigte sich "sehr besorgt über die beiläufige Überwachung", die in seinen Augen ein größeres Problem als die klar als solche erkennbare Überwachung durch Videokameras, Telefon- oder Wohnraumbespitzelung darstelle. Dass Bürger mit zunehmender Freiwilligkeit persönliche Daten herausgäben, stimme ihn bedenklich: Die Zahlung mit EC- oder Kreditkarte im Supermarkt, das Punktesammeln mit Kundenkarten an Tankstellen, die verstärkte Nutzung ortungsfähiger Handys oder der Datenexhibitionismus in Social Networks - Schaar sieht trotz all dieser Risiken den "Endzustand der Überwachung noch lange nicht erreicht". Da auch die Technologie weiter fortschreite, ergäben sich neue ungeahnte Möglichkeiten - besonders im Internet, das seinem Ruf als ertragreichste Informationsquelle auf Erden zunehmend alle Ehre mache. "Das Datensammeln boomt und ich gewinne unverblümt den Eindruck, dass Daten ein frei verfügbarer Rohstoff sind", so der Datenschutzbeauftragte.

Es sei zwar durchaus als positives Signal aufzufassen, wenn politische Datenschutzgipfel stattfänden, Betreiber sozialer Netze von sich aus an verschärften Datenschutzbestimmungen arbeiteten, Abgeordnete das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als Argument gegen geplante Gesetzesverschärfungen öffentlich ins Feld führten oder Internetanwender sich selbstständig Gedanken über ihre persönlichen Daten machten, aber es dürfe nicht dabei bleiben. "Es muss mehr getan werden", appellierte Schaar an die Anwesenden.

Umfassende Grundlage für das IT-Zeitalter

Die geplante Verbesserung des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG), die zudem auf sehr wackeligen Füßen stehe (Zitat "ich kenne viele Abgeordnete persönlich, die das Gesetz verhindern wollen"), sei nur eine punktuelle Änderung der Bestimmungen. "Wir müssen zu einer viel umfassenderen Grundlage zur Datenverarbeitung im Informationszeitalter kommen", forderte Schaar und appellierte zugleich an die Teilnehmer der re:publica "als Fachleute für Bürgerrechte" E-Mails an die Bundestagsabgeordnete zu schreiben und auf die Missstände hinzuweisen.

Was passiere, wenn das "Internet der Dinge und Dienste" zum Alltag werde und die Möglichkeiten zur Datenspeicherung und damit zum Datenmissbrauch weiter zunähmen, könne er noch nicht abschätzen. "Ich will die technische Entwicklung nicht aufhalten, aber ich verlange, dass wir sie so gestalten, dass auch in Zukunft ein wirksamer Datenschutz gewährleistet ist", warnte Schaar vor zu großer Technikbegeisterung ohne Rücksicht auf Verluste.

Patient Strafrecht

Oberstes Gebot sei die im Gesetz verankerte Umsetzung der Datensparsamkeit bei der Erhebung von Informationen. Nur, was unbedingt notwendig sei, dürfe erhoben und verwertet werden: "Wir brauchen verbindliche gesetzliche Vorgaben - eine offizielle Verpflichtung für diejenigen, die Datenverarbeitungssysteme betreiben." Diese sollten EU- oder besser weltweit einheitlich gestaltet und Verstöße konsequent sanktioniert werden. Besonders das Strafrecht kranke bei Datenschutzvergehen an allen Ecken und Enden - ihm sei aktuell beispielsweise unbegreiflich, dass die Staatsanwaltschaft noch kein Ermittlungsverfahren gegen die Deutsche Bahn wegen des Verstoßes gegen das Fernmeldegeheimnis eingeleitet habe.

Die deutschen Datenschutzaufsichtsbehörden agierten oftmals als "zahnlose Tiger", die sich zwar viel wünschen dürften, jedoch selten Gehör finden würden. Eine von Schaars Kernforderungen ist in diesem Kontext die Untersagungsbefugnis für die Bundesdatenschützer. Verstöße gegen das BDSG sollten augenblicklich gestoppt werden dürfen, sobald die Behörde Kenntnis von ihnen erlange - "diese Kompetenz ist bis heute nicht gesetzlich geregelt und auch in der BDSG-Novellierung nicht integriert", stellte der Datenschützer fest.

Politische Sorglosigkeit

Darüber hinaus sei Transparenz für den Bürger bei der Datenerhebung unerlässlich - nur wer wisse, was mit den eigenen Daten geschehe, könne auch selbstständig über ihre Weiterverwendung entscheiden. Je komplexer die technischen Systeme jedoch seien, desto leichter sei diese Transparenz zu umgehen.

Des Weiteren müsse auch die Datensicherheit immer aufs Neue hervorgehoben werden. Schaar zeigte sich wütend über die technische Sorglosigkeit, mit der das Wirtschaftsministerium dieser Tage das Vorhaben der Online-Verarbeitung von Abwrackprämien-Anträgen in Angriff genommen hatte. "Hier wurde nicht das sichere Protokoll HTTPS zur Datenübertragung verwendet, sondern das herkömmliche und unsichere HTTP. Warum?" Ein kompetenterer Umgang politischer Entscheider mit der IT habe schließlich auch einen positiven Nebeneffekt auf die Bürger: "Datensicherheit fördert Vertrauen in die Informationstechnologie und schützt vor dem Missbrauch durch Dritte."

Zuletzt unterstrich Schaar die Bedeutung von IT-Bildung. "Der Computerführerschein allein genügt nicht - wir müssen gerade bei den jungen Menschen das Bewusstsein schaffen, mit ihren Daten so umzugehen, dass sich die Risiken, denen sie sich aussetzen, in Grenzen halten". Bisher sei auf diesem Gebiet jedoch nicht viel geschehen. Dabei würden sich Investitionen im Bildungssektor in einer digitalen Gesellschaft nachhaltig auszahlen.

Schaar beschloss seine Ausführungen mit einem gezielten Appell an die Blogosphäre sowie Politik und Unternehmen: "Wir brauchen eine Ethik der informationellen Selbstbestimmung, eine gemeinsame Grundlage zur Weiterentwicklung der Informationsgesellschaft. Damit muss man nicht warten - damit kann man schon heute beginnen!"