Aigner, Assange, Affentheater

Das Jahr 2010 im World Wide Web

16.12.2010 von Simon Hülsbömer
Rekorde und Skandale, Aufsteiger und Absteiger, Aufreger und Randnotizen: Was das zu Ende gehende Jahr im weltweiten Netz so alles bot.

Im Frühjahr macht Ilse Aigner von sich reden. Die Ministerin für Verbraucherschutz hat die Nase voll von den Irrungen und Wirrungen im datenschutzrechtlichen AGB-Dickicht von Facebook. Im Handstreich löscht sie ihr Profil in dem Social Network, erzählt es jedem, der es nicht wissen will und sorgt kurzzeitig für eine neue Datenschutzdebatte. Währenddessen kämpft Google gegen die chinesischen Zensor-Windmühlen und entscheidet, seine Suchmaschine aus dem bevölkerungsreichsten Land der Welt abzuziehen. Was sonst noch geschah: "District 9" gewinnt im März den Filesharing-Oscar, sex.com wird im Sommer für 13 Millionen Dollar rekordversteigert und Wikileaks-Direktor Julian Assange entblößt Politiker weltweit. Medienblogger Stefan Niggemeier bringt einen Stein ins Rollen, der schließlich zum Sturz eines einflussreichen Verlegersohns führt und das einst mächtige Social Network MySpace gibt im Spätsommer endgültig auf.

Diese und viele andere Geschichten rund ums World Wide Web ereignen sich 2010.

Aufreger des Jahres (international)
Google zieht sich aus China zurück und kommt später dann doch wieder.
Abstieg des Jahres (national)
Die Piratenpartei ist nach den Bundestagswahlen 2009 schnell von der ganz großen medialen Spielfläche verschwunden.
Blödsinn des Jahres
Die deutschen Verlage verlangen Geld von Google und nennen es Leistungsschutzrecht. Telekom-Chef Obermann will auch Geld von Google für die Nutzung der TK-Infrastruktur. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten müssen ihre Online-Angebote regelmäßig löschen.
Debatte des Jahres
Forscher entwickeln ein Verfallsdatum für Informationen im Netz. Denn soll etwa alles ewig auffindbar sein?
Umsätze des Jahres
Google und Xing glänzen mit Rekordergebnissen.
Release des Jahres
Der neue HTML5-Standard (vom W3C verabschiedet) schickt sich an, Flash abzulösen.
Auszeichnung des Jahres
Neill Blomkamps "District 9" gewinnt den Filesharing-Oscar als meist illegal heruntergeladener Film.
Scoop des Jahres
Gab es 1928 bereits Handys? Die Debatte um Charlie Chaplins "The Circus" sorgt für reichlich Diskussion.
Was bleibt
Mit der geplanten Neufassung des Jugendmedienstaatsvertrages (JMStV) steht deutschen Webseitenbetreibern die Alterskennzeichnungspflicht ins Haus. In diesem Sinne: Surfen Sie nicht soviel, es kann teuer werden!

Aufreger des Jahres (national)

Als hätten die Deutschen nicht schon genug Probleme vor der eigenen Haustür, kommt jetzt noch ein Internet-Konzern aus Amerika, der meint, alle bedeutenden Großstädte Straßenzug für Straßenzug, Häuserfassade für Häuserfassade abfotografieren und ins Netz stellen zu müssen. Anstatt sich zu freuen, dass die nächste Reiseplanung damit bequemer wird, oder das Ganze gelassen zur Kenntnis zu nehmen (Landesregierungen verkaufen schon seit Jahren hoch aufgelöste Luftaufnahmen privater Anwesen), verfallen Hunderttausende in "Big Brother"-Panik und zwingen Google, ihre Häuser in Street View zu verpixeln.
Das nächste Projekt wartet schon: Jetzt gilt es, die Blogger zu verklagen, die manche der verpixelten Bauten nachträglich gut sichtbar ins Netz stellen und den Google-Gegnern damit mehr Aufmerksamkeit zu teil werden ließen, als es der Konzern selbst je gekonnt hätte.

Aufreger des Jahres (international)

Eben genannter Internetkonzern stellt im Frühjahr seine Suchmaschine google.cn ein, weil die gewünschte Einflussnahme der chinesischen Regierung auf die Suchergebnisse zu groß wird. Stattdessen feiert man munter in Hongkong weiter und kann sich wenige Monate später doch noch ein wenig einigen.

Entwicklung des Jahres

Spätestens seit Medienjournalist Stefan Niggemeier seinen Unmut darüber öffentlich machte, dass wahrscheinlich Verlegersohn Konstantin Neven DuMont viele Kommentare unter verschiedensten Pseudonymen und zu unterschiedlichen Tageszeiten in sein Blog gesetzt habe, kocht es im Kölner Medienhaus. Der Internet-affine Jungspund wird von seinen Ämtern und Aufgaben entbunden und wird sich wohl eine Sicherheitssoftware kaufen müssen, damit ungeliebte Kollegen an seinen Rechner kommen, um von seiner IP-Adresse aus das Netz unsicher zu machen. Diese kleine Geschichte (es gibt außergewöhnlich viele weitere Beispiele) zeigt schön die gewachsene Bedeutung der Blogosphäre in der deutschen Öffentlichkeit.

Werbehype des Jahres

Na, kennen Sie ihn schon auswendig? "Verlässlich, vertraulich, ver…" ?? Die Werbeoffensive für ihr Großprojekt E-Postbrief ist der Post mehr wert als alles bisher Dagewesene - angeblich Millionen Kunden geben dem Konzern Recht. Auch wenn hier und da noch technisch unausgereift und in der Praxis bisher wenig genutzt - die Bekanntheit des neuen Produkts nimmt rasant zu. Um De-Mail streiten derweil die Politiker. Die COMPUTERWOCHE-Jury findet's gut und verleiht dem Post-IT-Chef Johannes Helbig unter anderem wegen dieses Projekts den Titel "CIO des Jahres."

Skandal des Jahres

Als Wikipedia-Gründer Jimmy Wales im April 2009 auf der re:publica in Berlin zu Gast war und ihm der hier schreibende Redakteur die Frage stellte, was er denn von Wikileaks halte, gab sich Wales zurückhaltend: "Ich finde es sehr interessant, auch wenn die Initiatoren noch viele Fehler machen und sich nicht immer an gesetzliche Bestimmungen halten, was die Veröffentlichung von Inhalten angeht. Sie brauchen Standards, die die Seriösität von anonymen Quellen regeln und die sie gegen juristische Fallstricke schützen" (siehe "Schulen ans Wiki").
Wales sollte Recht behalten - 2010 ist das Jahr, in dem Wikileaks Kontakt aufnimmt - Kontakt mit den knallharten Gesetzen im Politgeschäft. Bleibt es nach der Veröffentlichung von blutigen Dokumenten aus dem Irak-Krieg im Oktober noch vergleichsweise ruhig, sorgt der Scoop mit den US-Botschaftsdepeschen Ende November für den GAU. Amerikaner und Deutsche geben sich gleichermaßen angefressen und verurteilen einmal aufs Neue die Informationsfreiheit. Wikileaks-Frontmann Julian Assange 007 wird seitens Interpol nunmehr dringend gesucht - allerdings wegen Vergewaltigung in zwei Fällen. Diese Vorwürfe gab es zwar schon länger, konnten jetzt aber bequem wieder aus der Schublade gezogen werden. Politisches Kalkül? Assange jedenfalls wird erst einmal verhaftet. Wie dieser Schlammschlacht-Agententhriller weitergeht, ist offen.

Deal des Jahres

Ob Ilse Aigner es wohl jemals bereut hat, keine "Gefällt mir"-Buttons mehr klicken zu können? Wohl eher nicht. Nachdem unsere Verbraucherschutzministerin mit den mangelhaften Datenschutzbestimmungen des mehr als 500 Millionen Nutzer schweren Giganten Facebook nicht mehr zufrieden ist, löscht sie kurzerhand ihr Profil und hängt diesen Vorgang sogleich an die große Glocke, wie sie es kraft ihres Amtes wohl auch tun muss, weil es um mehr geht als nur ihr persönliches Recht. Facebook nimmt die geplanten AGB-Änderungen, wonach Nutzerdaten an Drittanbieter veräußert werden dürfen, zwar nach zahllosen weiteren Protesten zurück. Mit der Datenschutz-Herrlichkeit ist es auf der Plattform auch künftig wohl nicht weit her…

Person des Jahres

… und nun gibt es sogar auch noch einen Facebook-Film. "The Social Network" schildert (ziemlich realitätsfern) den Aufstieg des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg und die Intrigen, in die auch junge, dynamische Internet-Gründer in Silicon Valley schnell gelangen, sobald es ums richtig große Geld geht. Zuckerberg jedenfalls liebt oder hasst man seitdem - dazwischen gibt es nichts mehr. Und nur das ist wahre Prominenz.

Rekordpreis des Jahres

13 Millionen Dollar sind seit der Finanzkrise fast ein Kleckerli. Trotzdem sorgen 13 Millionen Dollar 2010 für einen neuen Rekord: sex.com ist 13 Millionen Dollar wert - zumindest hat jemand soviel für die Adresse gezahlt und damit die teuerste Domain der Welt erworben.

Abstieg des Jahres (national)

Mit ganz viel Brimborium trat die Piratenpartei im vergangenen Jahr zur Bundestagswahl an. Pro Netzfreiheit lautete das Credo. Dem verschreibt sich die Partei bis heute, nur die mediale Aufmerksamkeit hat sie etwas aus den Augen verloren. Da hilft auch die zwischenzeitliche Aufnahme von Ex-SPDler Jörg Tauss und die angestoßene Google-Street-View-Diskussion wenig. Bleibt die Frage: Kommen die Piraten noch einmal wieder?

Abstieg des Jahres (international)

Medienmogul Rupert Murdoch wollte MySpace zur Nummer Eins unter den sozialen Netzen machen. Geklappt hat das definitiv nicht. In diesem Jahr gibt der einstige Vorreiter den Kampf gegen Facebook auf und will sich in Zukunft auf Social Entertainment verlegen.

Ein zweiter Totalverlierer ist die 3D-Welt Second Life. Die war zwar schon im vergangenen Jahr im Sinkflug, sorgt aber erst 2010 so richtig für Negativschlagzeilen, als Betreiber Linden Lab ein knappes Drittel aller Mitarbeiter vor die Tür setzt. Die Welt ist wohl einfach noch nicht reif für so viel Stubenhockerei…

Blödsinn des Jahres

Da fallen einem doch zuerst einige deutschen Verlage ein, die Geld von Google wollen, weil der Internetkonzern Teile ihrer teuer produzierten Artikel ohne zu fragen auf diversen News-Sites anfeatured. Das Leistungsschutzrecht stößt in der Politik auf Gegenliebe, bei vielen, besonders freiberuflich tätigen Autoren nicht - schließlich möchten sich die Verlagsmanager die Kohle lieber selbst einstecken und nichts an die weiterreichen, deren Texte betroffen sind.

Kurios auch die Forderung von Telekom-Chef Obermann, Google und andere Internetanbieter mögen bitte zahlen dafür, dass es die TK-Infrastruktur der Netzbetreiber nutzt, ohne Gebühren abzudrücken. Das Thema Netzneutralität köchelt seitdem auf etwas stärkerer Flamme.

Debatte des Jahres

Womit wir wieder bei Facebook wären. Sollen Daten und Informationen, die wir einmal ins Netz gestellt haben, auf ewig auffindbar sein? Wollen wir Jugendsünden auch in 30 Jahren noch immer vorgehalten bekommen, als wäre es gestern gewesen? Einige schlaue Forscher haben sich hingesetzt und den Vorschlag entwickelt, alle online veröffentlichten Informationen mit einem Verfallsdatum zu versehen. Keine schlechte Idee, das menschliche Hirn kann sich schließlich auch nicht alles auf immer merken und das ist auch gut so. Es ist leider zu befürchten, dass es erst eines Super-GAUs in höchsten Kreisen bedarf, bis sich in diesem Punkt wirklich etwas umsetzen lässt.

Umsätze des Jahres

Es gibt endlich eine Alternative zum Goldesel: Manager bei Google zu sein, mit der Lizenz zum Gelddrucken. Das Unternehmen erwirtschaftet neue Rekordergebnisse und bildet innerhalb der gesamten IT-Branche damit beileibe keine Ausnahme. Das schürt Neid - womit wir wieder beim Leistungsschutzrecht und der Netzneutralität wären.

Release des Jahres

Welchen Einfluss der vom W3C verabschiedete neue HTML-Standard 5 genau haben wird, ist bisher nur zu ahnen. Adobe Flash jedenfalls scheint ausgedient zu haben (jetzt schon nominiert für den Titel "Abgesang des Jahres 2011") - womit Steve Jobs doch noch recht bekommt. Die ersten Eindrücke sind sehr positiv: 2011 wird wohl das ultimative HTML5-Jahr werden.

Shopping-Erlebnis des Jahres

Amazon und andere verkaufen auch Lebensmittel. Schon gemerkt? So richtig durchsetzen kann sich das Angebot erneut nicht - auch ein erster Anlauf vor gut einem Jahrzehnt ist gescheitert. Ob es diesmal klappt? Wir müssen alle nur ganz fest dran glauben und noch mehr WoW spielen, um den Weg vom heimischen Rechner in den Supermarkt schneller zu vergessen.

Buzzword des Jahres

Auf welchen Web-Kongress man sich in diesem Jahr auch begibt, spätestens in der zweiten Hälfte einer jeden Keynote fällt der Ausdruck Web 3.0. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, garnieren einige der selbsternannten Experten die schon etwas ältere Wortschöpfung mit dem Web 4.0. 2011 wird bestimmt das Jahr von Web 5.0. Soviel kreative Armut tut schon weh.

Auszeichnung des Jahres

Kein anderer Film wird im Nominierungsjahr 2009/2010 so oft illegal aus diversen Tauschbörsen und Torrent-Netzwerken gezogen wie Neill Blomkamps "District 9" - ein schleimiges Alien-Gemetzel mit gesellschaftspolitischem Anspruch. Der Lohn: der offizielle "Filesharing-Oscar".

Scoop des Jahres

Über diesen Filmausschnitt rätselte die Netzgemeinde.

1928 gab es bereits Handys. Zumindest eines. Oder zumindest gab es Menschen, die ihre Hand so an den Kopf führten, dass es für uns neumodische Kulturbanausen so aussieht, als habe es bereits Handys gegeben. Wie dem auch sei: Soviel weltverschwörerische Aufregung um so wenig Handfestes aus dem restaurierten Charlie-Chaplin-Film "The Circus" ist schon eine Erwähnung wert.

Was bleibt

Mit der geplanten Neufassung des Jugendmedienstaatsvertrages (JMStV) könnte deutschen Webseitenbetreibern die Alterskennzeichnungspflicht ins Haus stehen. In diesem Sinne: Surfen Sie nicht soviel, es kann teuer werden!