IBM-Deutschland-Chef Matthias Hartmann

34 Milliarden Dollar für Red Hat sind ein fairer Preis

16.01.2019 von Heinrich Vaske
Mit dem Kauf von Red Hat für 34 Milliarden Dollar und dem Verkauf des Domino/Notes-Portfolios an HCL Technologies hat IBM gravierende Portfolioanpassungen vorgenommen. Matthias Hartmann, Geschäftsführer der IBM Deutschland GmbH und General Manager der Region Deutschland, Österreich, Schweiz (DACH), stellt sich den COMPUTERWOCHE-Fragen.
  • Warum IBM das Collaboration-Business an HCL verkauft hat
  • Welche Rolle "OpenShift" und das Hybrid-Cloud-Know-how von Red Hat für die Übernahme spielten
  • Warum das Mainframe-Business von IBM auch nach 30 Jahren schlechtester Prognosen blüht und gedeiht

Jahrelang hat IBM sein Collaboration- und Notes-Business hochgehalten, jetzt haben Sie alles an HCL Technologies verkauft. Warum?

Matthias Hartmann, seit Anfang 2018 Geschäftsführer der IBM Deutschland und General Manager für die DACH-Region, hält den strategischen Kurs von CEO Ginnie Rometty für richtig: IBM soll sich in den Wachstumsmärkten etablieren, dabei ist Profitabilität besonders wichtig.
Foto: IBM

Hartmann: Der Konzern konzentriert sich seit einiger Zeit auf starke Wachstumsfelder. Dabei betonen wir innovative Technologiebereiche, darunter den gesamten Cloud-, Daten- und Analytics-Kontext, und wir setzen auf Branchenfokussierung. Das Ganze vollzieht sich auf der Basis von Vertrauen und Sicherheit. Das sind die Säulen unseres heutigen Geschäfts.

Wenn man sich unsere jüngsten Investitionen ansieht, vor allem die Red-Hat-Übernahme, die zu unserem Bekenntnis zu Open Standards passt, dann ist das eine klare Marschrichtung. Vor diesem Hintergrund ist die Abgabe des Collaboration-Business eine nachvollziehbare Portfolio-Entscheidung. Mit HCL haben wir einen Partner gefunden, mit dem wir schon seit einiger Zeit erfolgreich zusammenarbeiten. HCL hat bereits auf der Basis von Notes/Domino eine ganzheitliche Collaboration-Welt aufgebaut. Die neue Version Domino 10 zeigt, dass die Modernisierung und Öffnung gut gelungen ist. Die Plattform ist in vielen Kundenumgebungen im Einsatz, und dort ist man mit der jüngsten Entwicklung sehr zufrieden (siehe auch: Anwender begrüßen Software-Ausverkauf bei IBM).

Die Notes-Community hat der IBM in den vergangenen Jahren durchaus übelgenommen, dass die Entwicklung der Plattform stagnierte.

Hartmann: Durch die Zusammenarbeit mit HCL haben wir aber schon vor einiger Zeit eine gute Lösung gefunden. Da ist ein richtiges Ökosystem von Lösungsanbietern entstanden, die auf einer gemeinsamen architektonischen Basis gut zusammenarbeiten. Unser Fokus hat sich in den letzten Jahren mehr in Richtung Data Analytics und Künstliche Intelligenz verschoben, aufbauend auf den ersten, sehr frühen Gehversuchen mit der Watson-Plattform. Wir beschäftigen uns auch intensiv mit Blockchain-Themen, die ebenfalls viel Entwicklungsarbeit erfordern, sowie mit dem Hybrid- und Multi-Cloud-Thema.

IBMs Seelenverwandtschaft mit Red Hat

Sie haben eben die Red-Hat-Übernahme erwähnt…

Hartmann: …die ist übrigens genauso wie der Deal mit HCL noch nicht vollzogen, sondern nur angekündigt.

Warum ist Red Hat für IBM interessant vor dem Hintergrund der beschriebenen Neuaufstellung?

Hartmann: Die Zusammenarbeit mit Red Hat ist nicht neu. IBM unterstützt das Thema Open Source seit Jahren sehr intensiv, mit der Unterstützung der Linux-Entwicklung, der Freigabe von Patenten etc. Die eigene Cloud-Struktur und Architektur der IBM geht immer mehr in Richtung Open Source und Containerisierung mit Kubernetes und Docker. Wir sind ein B2B-Unternehmen, unsere Kunden sind die großen und mittleren Corporates weltweit. Von daher ist es elementar für uns, die Kunden aus ihrer On-premise- in eine Cloud- oder - je nach Anforderungen - eine hybride Multi-Cloud-Welt zu überführen.

Hinzu kommt, dass wir mit Red Hat eine große Developer Community adressieren können. Diese Faktoren zusammen sind ein strategischer Fit. Wir setzen stark auf Hybrid-Cloud-Umgebungen. Wir sind sicher, dass die meisten unserer Kunden multiple Cloud-Umgebungen managen müssen. Diesem Markt messen wir eine hohe Bedeutung und eine signifikante Größe zu (siehe auch: IBM schluckt Red Hat für 34 Milliarden Dollar).

Spielt die OpenShift-Plattform von Red Hat in den IBM-Überlegungen eine Schlüsselrolle?

Hartmann: OpenShift ist eine wesentliche Kompetenz die Red Hat mitbringt und hervorragend zu unserer Kubernetes basierten Strategie passt. Sie haben ja den Ankündigungen auch entnehmen können, dass wir ganz bewusst planen, Red Hat separat am Markt weiterzuführen. Wir wollen keine organisatorische Integration. Es wird nur einen Berichtsweg an unsere CEO Ginni Rometty geben. Auch andere Cloud-Anbieter nutzen Red-Hat-Technologie, schon deshalb ist es wichtig, diese Eigenständigkeit aufrechtzuerhalten.

Sie investieren 34 Milliarden Dollar für ein Unternehmen, das knapp drei Milliarden Dollar Umsatz erwirtschaftet. Und Sie wollen es weitgehend unabhängig weiterarbeiten lassen. Wie soll dann das Geld jemals wieder reinkommen?

Hartmann: Wir finden, das ist ein fairer Preis für ein hochprofitables und schnell wachsendes Geschäft. Wir haben das Kapital, dies ohne Änderung unserer Dividende zu tun. Das letzte Quartal haben wir mit 15 Milliarden US-Dollar an liquiden Mitteln abgeschlossen.

Aber wie wollen Sie die notwendigen Umsätze einspielen, die eine Akquisition dieser Größenordnung rechtfertigen?

Hartmann: Der Hebel kommt über das enorme Marktpotenzial im Cloud-Segment. Wir gehen davon aus, dass die Unternehmen bis heute im Durchschnitt gerade mal 20 Prozent ihrer Workloads cloudifiziert haben. Bei den nächsten 80 Prozent der Cloud-Reise geht es darum, den Geschäftswert und das Wachstum eines Unternehmens zu steigern. Der Großteil der Reise liegt noch vor ihnen. Es ist klar, dass sich hier verschiedene Ökosysteme bilden und gebildet haben. Wir wollen einer der Top-Player in diesem Bereich sein und werden das auch zusammen mit Red Hat schaffen - auch, aber nicht nur mit einem Public-Cloud-Angebot. Viele unserer Kunden treibt das Thema hybride IT-Welt. Dafür stellen wir die Architektur zur Verfügung in einem Markt mit Billionen von Dollar.

Public Cloud, Hybrid Cloud, Multi-Cloud

Was heißt das für Ihr Public-Cloud-Business? Werden Sie sich agnostisch aufstellen und die Plattformen von AWS und Microsoft gegebenenfalls auch unterstützen?

Hartmann: Die wenigsten Unternehmen legen sich heute ausschließlich auf eine Cloud-Plattform fest. Unterschiedliche Anwendungs- und Integrationswelten sorgen dafür, dass hier die eine und dort die andere Cloud-Umgebung bevorzugt wird. Die Betriebe stehen aber vor der Herausforderung, diese Komplexität heterogener Cloud-Umgebungen zu managen. Multi- und hybride Cloud-Fähigkeiten zu beweisen und zu vermeiden, dass der Kunde in eine Lock-in-Situation gerät und sind Kern unserer Strategie.

Mit dem Projekt "Debater Speech" will IBM zeigen, dass KI-Systeme auch zu komplexen Dialogen fähig sind.
Foto: IBM

Es gibt auch andere Beispiele für die offene Ausrichtung der IBM. Wir haben gerade angekündigt, dass wir im KI-Bereich transparent bei den Algorithmen und der Datenverwendung sein wollen. Dazu haben wir eine Open-Source-basierte Plattform in den Markt gebracht, die der Kunde eben nicht nur für Watson, sondern auch für andere KI-Plattformen nutzen kann. Wir wissen, dass unsere Kunden Wert auf ein ganzheitlich-integratives Management legen. Dabei unterstützen wir sie.

Eigentlich wollen doch heute alle großen Anbieter Hybrid-Cloud-Infrastrukturen managen, sogar die Hyperscaler. Wie will sich IBM hier vom Wettbewerb differenzieren?

Hartmann: IBM schaut nicht nur von der Technologie- und Infrastrukturseite auf den Markt. Im Mittelpunkt steht für uns die Transformationsaufgabe, die unsere Kunden vor sich haben. Wenn Anwender vor der Entscheidung für eine Cloud-Umgebung stehen, dann geht es am Ende weder um das Blech noch um die Softwarearchitektur. Es geht um die branchenspezifische Lösung, die mit dieser Plattform umgesetzt werden soll.

Wenn wir beispielsweise für die Techniker Krankenkasse, Signal Iduna oder die Deutsche Krankenversicherung die elektronische Gesundheitsakte implementieren, dann können wir diesen Kunden mit unserer Cloud eine DSGVO-konforme Lösung aus unserem Rechenzentrum in Frankfurt anbieten, die weit über ein Infrastrukturproblem hinausreicht. Den Versicherungen geht es ja um die Frage: Kann ich mit den sensiblen Daten, die uns die Bürger anvertrauen, eine Lösung schaffen, die über jeden Zweifel erhaben ist? Sie entscheiden sich weniger für eine technische Infrastruktur, als für eine sichere, vertrauenswürdige Lösung aus der Cloud.

IBM ist seit jeher eine Firma mit tiefer Branchenkompetenz, die eben nicht nur von der Technologie, sondern von den Dienstleistungsfähigkeiten getragen wird. Wir können solche ganzheitlichen Lösungen schaffen. Und wenn sich etwa eine Ergo Versicherung entschieden hat, ihre Plattform für das Verwalten der Altbestände an Lebensversicherungen mit einem vertrauenswürdigen Partner zu einem günstigen Kostenpunkt zu realisieren, dann nehmen sie die IBM-Cloud, weil sie hier eine ganzheitliche Lösung bekommen. Eines unserer großen Differenzierungsmerkmale besteht sicher darin, industriespezifische Lösungen bieten zu können.

Sie wollen Ihre Industriekunden mit vertikalen Lösungen gewinnen, gleichzeitig aber auch Produkte und Eisen verkaufen. Passt das zusammen?

Hartmann: Ja, das ist nichts Neues. Als ich vor fünf oder sechs Jahren das Beratungsgeschäft der IBM in Deutschland geführt habe, entschieden sich unsere Kunden auch schon für unterschiedliche Produkte und Standardsoftware-Umgebungen. Die Landschaften waren durchaus nicht tiefblau. Wir sehen uns als B2B-Integrator mit klarer Branchenkompetenz in Banking, Insurance, Automotive, öffentliche Verwaltung, Fertigung etc. Dafür bauen wir rund um unsere Kerntechnologien Netzwerke an Partnern und Softwarelösungen auf. So wie im Versicherungsbeispiel gehen wir auch im Banken- oder im Energiesektor vor, ebenso im Public Sector. Wir wollen Geschäftsprobleme lösen mit einer integrierten, aber immer offenen Infrastruktur darunter.

Kunden werden zu Wettbewerbern

Viele Ihrer großen Kunden wandeln sich zu Softwareanbietern und Plattformbetreibern. Brauchen die auf Dauer eine IBM im Lösungsgeschäft?

Hartmann: Manchmal stehen wir auch in einem koopetitiven Verhältnis zu unseren Kunden. Aber damit haben wir in der Plattformökonomie alle zu leben. In der Fertigungsindustrie etwa gibt es große Kunden, die eigene Plattformpläne verfolgen, aber trotzdem mit uns und unserer Technologie arbeiten. Das wird in Zukunft eher die Regel als die Ausnahme sein. Für uns ist dabei wichtig, dass wir uns von unserem Geschäftsmodell her nicht als Wettbewerber unserer Kunden aufstellen. Wir folgen drei Glaubensgrundsätzen: Wir sind ein B2B-Haus, wir kommerzialisieren niemals die Daten unserer Kunden, und wir machen unseren Kunden in ihrem Kerngeschäft keine Konkurrenz. Könnten wir theoretisch einen Online-Versicherer bauen? Oder eine Online-Bank? Vermutlich schon, aber wir tun das nicht.

Wenn man mit CIOs spricht, gewinnt man den Eindruck, dass IBM nicht mehr so eine zentrale Rolle spielt wie noch vor Jahren. Geht es um große Projekte, ist viel von Accenture und Deloitte die Rede, früher war immer die IBM im Spiel. Was ist passiert?

Hartmann: Der Eindruck ist nur teilweise richtig. Heute haben wir gerade in Deutschland ein stark wachsendes Dienstleistungsgeschäft, gerade wenn es um Digitalisierungsprojekte geht. Das war aber in den letzten sechs Jahren nicht immer der Fall. Wir haben deshalb eine Neuausrichtung unseres Servicegeschäfts durchgezogen und gewinnen seitdem Marktanteile zurück.

Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen: Wir sind ein wesentlicher Player, vielleicht sogar der größte, wenn es um digitale Agenturen geht. Wir haben zugekauft, uns aber auch organisch entwickelt. Das passt gut zusammen mit unseren Aktivitäten im Watson IoT Center. Wir haben unsere Cloud und Blockchain-Garagen, und wir treiben das Thema KI. In den Projekten setzen wir voll auf agile Entwicklungsmethoden. Branchenfokussierung, die Verstärkung des Dienstleistungsgeschäftes, und das im Konzert mit Plattformideen, machen uns für den Markt interessant.

Wenn man sich Ihre jüngsten Geschäftszahlen ansieht, stellt man fest, dass IBM ertragsseitig seit Jahren stark abhängig vom Server-Business und hier besonders von den Großrechnern ist.

Hartmann: Ja, im Moment freuen wir uns vor allem über steigende Marktanteile bei den Servern der p-Serie, ein gut laufendes Storage-Geschäft - und über unsere Mainframes brauchen wir gar nicht zu philosophieren. Sie werden jetzt seit 30 Jahren für tot erklärt…

…aber nicht von uns!

Hartmann: (lacht) Nein, gar nicht. Die Technologie ist in der neuesten Version Z14 mit voller Encryption direkt auf der Kiste ein großer Erfolg. Ich sehe eine Tendenz, dass wir das Thema gerade auch mit unserem LinuxOne weiterentwickeln können. Warum soll ich mir riesige Serverfarmen hinstellen, wenn ich in einer Linux-Mainframe-Umgebung alles vom Management her integrieren kann? Und das noch zu einem absolut konkurrenzfähigen Preis? Wir empfehlen unseren Kunden eine Konsolidierung ihrer Workloads auf Rechner der p-Serie wenn es um datenintensive Workloads geht und auf Z-Systemen für die großen transaktionalen Systeme. Seit 40 Jahren wird darüber gesprochen, dass es Alternativen gäbe. Tatsächlich laufen die großen Transaktionssysteme alle immer noch auf Großrechnern.

IBM investiert gleichzeitig viel in ganz neue Technologien, derzeit vor allem Quanten-Computing, Blockchain und Künstliche Intelligenz, auch wenn sich die geschäftlichen Erfolge hier erstmal in Grenzen halten werden. Warum so viel Aufwand für Technologien, deren kommerzieller Erfolg noch nicht gewiss ist?

IBMs Quantencomputer "Q System One" ist ein Hoffnungsträger der IBM. Kunden können sich die Dienste über ein Cloud-Angebot sichern. Viele Universitäten machen derzeit Gebrauch davon.
Foto: IBM

Hartmann: Wenn es ein Unternehmen über mehr als ein Jahrhundert hinweg schafft, immer wieder mit Leading-Edge-Technologie am Markt zu sein, dann scheint es einen gewissen Riecher dafür zu haben, wo der Markt hingeht. Es war immer Teil unserer Strategie, mit einem hohen Forschungs- und Entwicklungsbudget Innovationen voranzutreiben.

Gehen Sie doch mal die Liste der 20 wichtigsten IT-Anbieter in den letzten Jahrzehnten durch. Viele sind verschwunden, einige neue sind dazu gekommen - und IBM hat sich immer im vorderen Feld gehalten. Wir sind nicht umsonst seit Jahren Patentweltmeister. Über 600 US-Patente sind im letzten Jahr allein von IBMern aus dem deutschsprachigen Raum gekommen.

Quanten-Computing wird ein Thema, aber es dauert

Nehmen wir mal Quanten-Computing als konkretes Beispiel. Wie viele Kunden haben Sie denn da heute?

Hartmann: Natürlich stellen wir denen heute keinen Quantencomputer in den Keller, das geht schon wegen der physikalischen Voraussetzungen nicht. Die können sich aus der Cloud bedienen, genauso wie Forschungs- und Entwicklungsbereiche aus der Chemischen Industrie. Wir bauen außerdem gerade hier in München einen Q-Hub in Zusammenarbeit mit der Universität der Bundeswehr auf.

Beim Quanten-Computing sind wir noch in einem sehr frühen Stadium. Aber wir sind einer der wenigen Hersteller, die sich dem Thema wissenschaftlich und wirtschaftlich nähern. Wir haben gerade erst auf der CES in Las Vegas IBM Q System One vorgestellt - den ersten kommerziell nutzbaren Quantencomputer. Außerdem haben wir mit dem IBM Q Network eine sehr erfolgreiche Plattform, über die sich Unternehmen aus vielen Branchen und Universitäten vernetzen und unsere Quantencomputer nutzen können, um zukünftige Anwendungsfelder zu identifizieren.

Jeder, der sich für das Thema interessiert, kann sich aber jetzt schon über das IBM Q Experience an einen unserer Q-Bit-Rechner hängen, ohne einen Cent zu bezahlen und Experimente starten. Das Thema ist aufwändig und komplex - nicht nur bei der Hardware, sondern auch bei der Softwareentwicklung und vor allem der Ausbildung von Mitarbeitern.

IBM positioniert sich auch im Bereich der Blockchain-Technologie. Erste Anwender haben sich bereits eine blutige Nase mit dem Thema geholt. Wie sehen Sie die Chancen?

Hartmann: Man kennt das Bild: Neue Technologien werden am Anfang stark gehypt, dann kommt viel Ausprobieren und Lernen und schließlich dann Schritt für Schritt die kommerzielle Nutzung. Wir haben uns klar positioniert: Crypto-Währungen sind definitiv nicht unser Anwendungsfeld, wohl aber kommerzielle Welten, in denen eine vertrauenswürdige Infrastruktur gebraucht wird. Die etwa 50 bis 60 Industry Networks, in denen wir in unterschiedlichsten Branchen unterwegs sind, haben alle einen unterschiedlichen Entwicklungsstand. Mit "Food Trust" haben wir gerade eine Blockchain-Lösung auf den Markt gebracht, die der Nachverfolgung von Nahrungsmittel-Lieferketten dient. Hier sind wir über das Experimentalstadium und über den ersten Proof of Concept hinaus.

Steckt hier das branchenweit bekannte Walmart-Projekt dahinter?

Hartmann: Ja. Mit Walmart arbeiten wir an dieser Lösung seit einigen Jahren, die für die ganze Lebensmittelbranche interessant ist. An anderer Stelle arbeiten wir zum Beispiel mit der Reederei Maersk bei der Container-Verfolgung zusammen. "TradeLens" heißt das Projekt. Die Distributed-Ledger-Technologie bietet uns die Möglichkeit, Transparenz in ganze Lieferketten zu bringen. Das kann Versicherungs- und Finanztransaktionen genauso betreffen wir Produktion und Handel, also die physische Seite. Eine übergreifende Governance über die Netzwerke verschiedenste internationaler Marktteilnehmer herzustellen, erfordert aber viel Arbeit und Feinabstimmung. Letztendlich müssen dafür auch gemeinsame Geschäftsmodelle definiert werden.

Der Blockchain-Service Food Trust hilft Unternehmen der Lebensmittelbranche, die Zulieferketten zu überwachen.
Foto: IBM

Bei der Technologie wird derzeit viel ausprobiert, die Spreu wird sich vom Weizen trennen. Wir wollen unsere Entwicklungsarbeit im Kontext einer offenen Architektur einbringen, dabei ist Hyperledger Fabric erste Wahl. Die Open-Source-Initiative ist zur Zeit der umfassendste Verbund von verschiedenen Unternehmen, die sich hier engagieren. Wir bringen unser Tooling, unsere Softwareentwicklung und unsere Servicemannschaft ein. So sorgen wir für die nötige Robustheit. Wir haben auch kein Problem damit, die Kunden zu warnen und ihnen zu sagen: 'Hier fahrt Ihr mit einer ordentlichen Datenbanktechnologie besser als mit einem Blockchain-Projekt.'

Wie bekommen Sie den Spagat organisatorisch hin: Einerseits wollen Sie forschen und sich als innovativer Technologieanbieter positionieren, andererseits gehen Sie an vertikale Märkte mit teils individuellen Lösungen heran?

Hartmann: Wir haben im schweizerischen Rüschlikon und in Böblingen zwei Forschungs- beziehungsweise Entwicklungslabore, die bei der Entwicklung von Technologien innerhalb unseres globalen F&E-Netzwerks vorne mit dabei sind. Wer für IBM arbeitet, kann sich also grundlegendes Know-how aus diesen und anderen Laboren holen. Die Forscher bilden zum Beispiel zusammen mit ausgewählten Software- und Dienstleistungsexperten die Kernteams für eine neue Technologie wie Blockchain.

Wir bilden das dann in einer sogenannten Blockchain-Garage ab, das heißt, wir holen Kunden in einer sehr frühen Phase herein, um mit ihnen auf der Basis von agilen Methoden und Design Thinking schnell einen Proof of Concept zu definieren und so die ersten Schritte zu einer Lösung zu gehen. Wenn das ganze nun die Dimensionen eines größeren Projekts bekommt, bildet unsere Global-Service-Unit Berater aus, deren branchenspezifischer Background wichtig ist, um das Ganze auszubauen. Wir nutzen also unsere technologischen Ressourcen branchenübergreifend und auf der Lösungsseite branchenspezifisch. Wer Handelskredite gut versteht, den kann ich morgen nicht zum Automotive-Kunden schicken. Wir bilden das über eine Matrixorganisation ab.

Watson bleibt strategisch - trotz Rückschlägen

Watson ist IBMs Antwort auf Künstliche Intelligenz beziehungsweise Cognitive Computing. Man konnte zuletzt öfter mal von Fehlschlägen und enttäuschten Erwartungen lesen, etwa im Gesundheitswesen. Steht Watson IBM-intern auf dem Prüfstand?

Hartmann: Nein. Wir waren die ersten, die kommerziell mit sehr viel Entwicklungsarbeit und Investitionen in den Mark hineingegangen sind. Dass ein solch riskanter Weg in einzelnen Projekten nicht immer zum Erfolg führt, ist bei einer solch jungen Technologie keine Überraschung. In Summe freuen wir uns aber über ein großes Wachstum an Watson-Projekten und zwar über viele Branchen hinweg, auch hier in unserer Region. Im Bereich Healthcare ist die Bilanz übrigens hervorragend: Watson wird für die Detektion von 13 Krebsarten im Onkologiebereich eingesetzt. Wir haben eine große Menge an Krankenhäusern weltweit, die mit der Technologie arbeiten. Der Schwerpunkt liegt bislang nicht im deutschen Markt, doch das wird sich bald ändern, denn die Watson-Technologie ist inzwischen in deutscher Sprache verfügbar.

Es gibt nicht nur viele Einsatzszenarien in Branchen, sondern auch in Unternehmensfunktionen wie Personalwesen, Auditing oder Supply Chain Management. Wir erleben zurzeit eine Ausweitung und Verfeinerung der Technologie. Die Plattform an sich hat sich allerdings auch radikal verändert. Was mal zu Zeiten von Jeopardy ein hochintegriertes System auf einer riesigen Kiste war, können Sie heute als As-a-Service-Plattform und via APIs nutzen.

Gerade in Deutschland gibt es auch aus Datenschutzgründen viele Vorbehalte gegen Advanced Analytics und Künstliche Intelligenz.

Hartmann: Deshalb ist das Thema Datenverantwortung beziehungsweise Data Ownership besonders wichtig, das habe ich schon auf dem letzten IT-Gipfel postuliert. Wir brauchen unbedingt größtmögliche Klarheit in den Rahmenbedingungen zum Einsatz von Daten. Hier sind wir als IBM früh an den Markt gegangen und haben klare Leitlinien festgelegt. Mit Andrea Martin haben wir ein Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags, die das Thema auch in die KI-Strategie der Bundesregierung einbringt. Wir tun Ähnliches auf der Ebene der EU-Kommission. Auch SAP ist hier aktiv geworden: Wir brauchen mehr Klarheit im Umgang mit Daten.

Beispielsweise glaube ich sehr wohl an Data Sharing im medizinischen Bereich, aber nur wenn Kontrolle über und Verantwortung für die Daten beim Patienten liegen. Der Bürger muss entscheiden, was mit seinen Daten passiert. Viele Ängste im Zusammenhang mit KI rühren daher, dass die Menschen sich fragen: Wo kommen die Daten her? Sind sie korrekt? Wir haben gerade mit Watson in der Schweiz einen Preis als beste KI-Plattform bekommen, auch weil wir bei diesem Thema sehr gut aufgestellt sind.

Seit 2012 ist Ginni Rometty IBM-Chefin. Man hat den Eindruck, das Unternehmen ist seitdem in permanentem Umbau. Die Red-Hat-Übernahme und der Verkauf der Domino/Notes-Sparte sind die jüngsten Beispiele. War das der vorläufige Schlusspunkt? Kommt IBM jetzt in ein ruhigeres Fahrwasser?

Hartmann: Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Das Geschäftsmodell der IBM ist klar dokumentiert. Wir streben ein niedriges einstelliges Wachstum an, das versprechen wir der Börse. Und wir brauchen schon eine ordentliche Profitabilität, denn IBM ist ein Value Stock. Das Wachstumsziel hat IBM in den letzten Jahren nicht immer erreicht. Aber gerade die Red-Hat-Übernahme zeigt, dass wir weiter bereit sind, den Markt zu gestalten. Wir fürchten uns nicht davor, unser Portfolio immer wieder neu zu bewerten und unsere Strategie weiterzuentwickeln. Wenn wir das nicht immer gemacht hätten, würden wir heute wahrscheinlich gar nicht miteinander reden, was sehr schade wäre!