Ratgeber

Zehn Kardinalfehler der ERP-Auswahl

30.08.2010
Ausgewählt ist ein ERP-System mitunter schnell. Doch wenn sich ein Anwender für das falsche Produkt entscheidet, wirken die Fehler lange nach. ERP-Experte und Buchautor Christian Riethmüller von der Beratungsfirma Cerpos nennt die schlimmsten Fehler bei der ERP-Auswahl.

Die zehn Kardinalfehler der ERP-Systemauswahl müssen nicht gleichzeitig auftreten, um ein Auswahlverfahren zu gefährden oder in den Misserfolg zu treiben. Schon ein Fehler kann reichen, um die Arbeit, die in die Systemauswahl investiert wurde, zu vernichten.

Die im Folgenden angeführten Fehler resultieren aus ERP-Projekten, die der Autor nachträglich übernehmen durfte oder über die er Informationen erhalten hatte. Die Überschriften nennen typische Fehler. Darunter sind jeweils Teilfehler aufgeführt, die bereits allein ein Projekt gefährden können

1. Dem Auswahlprojekt fehlt die richtige Projektorganisation.

Dem Kernteam gehören nicht die Mitarbeiter mit der fachlich höchsten Qualifikation an.

Das Kernteam ist variabel, die Mitarbeiter wechseln, damit ist keine Kontinuität in der Beurteilung der Systeme gewährleistet.

Dem Kernteam steht nicht genügend Zeit für die Auswahl zur Verfügung.

Das Kernteam der Systemauswahl ist nicht mit der Einführung und Inbetriebnahme des neuen Systems betraut.

Die Organisation des Auswahlprozesses ist nicht geklärt, Entscheidungsabläufe und Wissensbildungsprozesse haben keine hinreichenden Regeln, die Funktionen, Aufgaben des Projektteams sind nicht geregelt.

Der Auswahlprozess wird mit Regeln hinsichtlich Abstimmung, Einstimmigkeit, Dokumentation überfrachtet, die eine zielgerichtete Bearbeitung erschweren.

Die Interessen der Fachabteilungen werden innerhalb des Auswahlprozesses nicht entsprechend ihrem Gewicht im Unternehmen vertreten. Gleichermaßen kritisch ist, wenn eine Abteilung die Auswahl mit einem eigenen Auswahlprofil dominiert.

Schwerpunktbildungen führen zur Verzerrung der Systemauswertungen. Aufgaben, Funktion und Befugnis eines externen Beraters sind nicht hinreichend geregelt.

Die Kommunikation zwischen den Fachabteilungen sowie zwischen dem Unternehmen und dem Systemanbieter wird vernachlässigt, was auf der einen Seite zu Doppelarbeiten führt, aber auch zu kontraproduktiven Arbeitsergebnissen.

Die Kommunikation im Projektteam wird nicht gepflegt, das Team ist nicht auf demselben Informationsstand. Eine Ampelfunktion kann helfen, in jeder Gesprächsrunde den Projektfortschritt darzustellen.

Das Unternehmen verzichtet auf Coaching durch einen externen Berater mit erheblichen Marktkenntnissen und Systemerfahrungen.

Das Unternehmen hat einen externen Projektleiter beauftragt, dem die Auswahl allein übertragen ist. Damit ist das Projekt extern gelenkt. Doch dem externen Projektleiter werden nicht die internen Mitarbeiter mit der erforderlichen Fachqualifikation zur Seite gestellt.

Die externe Beratungsunterstützung endet mit der Auswahl des Systems.

Das Auswahlverfahren dauert zu lange; es wird genau das eine System gesucht, das alles erfüllt. Allerdings gibt es dieses eine perfekte System nicht. Weil das Projekt nicht zum Ende kommt, werden die beteiligten Personen letztendlich demotiviert.

2. Keine Organisationsanalyse - keine daraus abgeleiteten Organisationsprozesse

Die Ergebnisse der Organisationsanalyse liefern die wesentlichen Bestandteile des Pflichtenhefts. Ohne diese Analyse fehlen die Prozessabläufe und -Skizzen in dem Detaillierungsgrad, der für die Erstellung eines Pflichtenheftes erforderlich ist.

Bleibt die Organisationsanalyse aus, weiß niemand, wie das künftige System aussehen soll (Soll-Zustand). Somit ist die Firma auf den Übergang in eine neue Organisation nicht vorbereitet.

Die Systemauswahl gerät zum Blindflug, weil die Eckparameter nicht festgelegt werden können, die Beurteilung der Systeme orientiert sich einseitig an den organisatorischen Gegebenheiten, die das Unternehmen gegenwärtig prägen.

Hat das Unternehmen noch kein ERP-System als Ausgangsbasis, müssen die Geschäftsdaten erst noch aufgebaut und verbessert werden. Ohne diese Arbeiten erwachsen dem Anwenderunternehmen erhebliche Probleme bei der Inbetriebnahme.

3. Kein Pflichtenheft, aber "Wünsch-dir-was-Listen"

Das Pflichtenheft fehlt als roter Faden durch das Projekt.

Die benötigte Kernfunktionalität wurde nicht herausgearbeitet.

Die Anwender stellen Anforderungen zusammen, die einem "Gesamtkatalog der Glückseligkeit" entsprechen, aber keinen Bezug zur Realität und zu den tatsächlich für den Betrieb erforderlichen Produkteigenschaften haben.

Das Auswahlverfahren basiert auf einem Katalog von 2000, 3000 oder mehr zusammenhanglosen Fragen.

4. Keine ausreichende Vorbereitung des Auswahlverfahrens

Das Auswahlverfahren ist in puncto Dauer und Aufwand nicht realistisch geplant.

Es fehlt die Bereitschaft, den notwendigen Aufwand für das Auswahlverfahren zu betreiben. Die das Projekt tragenden Mitarbeiter werden nicht freigestellt oder entsprechend entlastet.

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Das Unternehmen nimmt sich für den Auswahlprozess nicht die angemessene Zeit - eine Frage der Ernsthaftigkeit:

Bei der Systembewertung kommt es zu unzulässigen Doppelbewertungen, weil die Bewertungskriterien nicht exakt abgegrenzt sind. Die Folge ist, dass sich die Systembewertungen verschieben können, weil derselbe Sachverhalt mehrmals in die Benotung einfließt.

5. Keine qualifizierte Vorauswahl der Anbieter und Systeme

Die Auswahl der relevanten Anbieter bleibt eher dem Zufall überlassen, weil keine oder zu wenig Marktkenntnisse vorliegen.

Die Auswahl findet ohne Marktrecherche statt, beziehungsweise Marktkenntnisse spielen eine zu geringe Rolle.

Niemand prüft, ob die Systeme zum eigenen Unternehmen passen.

Es werden zu viele Produkte in den Auswahlprozess aufgenommen. Die ausgewählten ERP-Systeme sind nicht homogen auf den Anwendungszweck ausgerichtet. Sind die Lösungen in ihrer Ausprägungen, Eigenschaften und in ihrer Branchenorientierung unterschiedlich, verunsichert dies das Auswahlteam.

6. Präsentationen der Anbieter

(Die folgenden Ausführungen gelten für die Vorauswahl und die Hauptauswahl gleichermaßen.)

Die Präsentation hat nicht die richtige Dauer, sie ist zu kurz, bei den Entscheidern bleibt ein Zufallseindruck zurück.

Die Präsentation der Systeme hat wesentliche Anwendungsinhalte nicht berücksichtigt.

Das Kernteam ist nicht stabil, weil die Mitglieder wechseln. Damit ist keine Kontinuität in der Beurteilung der Systempräsentationen gewährleistet.

Den Präsentationen fehlt der rote Faden.

Das Datenmaterial für die Präsentationen ist ungeeignet.

Die Lücken in den Präsentationen wurden nicht oder nicht hinreichend erkannt.

7. Fehlende Bewertungskriterien zur Reduktion der Anbieter aus der Vorauswahl

Die Unterschiede zwischen den Systemen und den Anbietern können im Wesentlichen nicht herausgearbeitet werden. Die Präsentationen unterstützen die Vorauswahl nicht. Die präsentierenden Anbieter halten die Vorgaben nicht ein. Der Informationsgehalt der Präsentationen ist für die Vorauswahl nicht zielführend.

Die Schwerpunktfunktionen für die Präsentationen (zwei, drei, maximal vier Prozesse) waren nicht genügend vorbereitet oder mit den präsentierenden Anbietern nicht hinreichend abgestimmt.

8. Fehlende Bewertungskriterien für die Endauswahl der Anbieter

Wie gut die Systeme dazu geeignet sind, das angestrebte Ziel zu erreichen sowie die gewünschten Vorteile zu erlangen, lässt sich aus den Kriterienkatalogen nicht ableiten.

Die Abdeckungsgrade der Systeme nach den funktions-, abteilungs- und unternehmensbezogenen Lösungsansätzen können nicht herausgearbeitet werden.

Die Lücken in den funktionalen Abläufen der Systeme wurden nicht hinreichend erkannt.

Zusatzaufwendungen wurden nicht erkannt (also die Notwendigkeit, sich vom Standard zu entfernen).

Unternehmen und Anbieter wurden nicht konsequent auf Partnerschaftsfähigkeit geprüft.

Es werden keine Referenzbesuche bei vergleichbaren Unternehmen vorgenommen.

Der Aufwand der Systemeinführung (eigener Aufwand und Gesamtkosten des Anbieters) bleibt verschwommen.

Die Entscheidung für ein Produkt wird nicht hinreichend geprüft. So wächst die Gefahr eines Fehlgriffs.

Das Unternehmen vergisst, Flexibilität in Organisation und erwarteter Funktionalität zu entwickeln:

Bei der Entscheidung für ein neues System handelt es sich um eine Investition mit Langzeitwirkung: Die Organisation wird für die nächsten Jahre angepasst, Entwicklungsmöglichkeiten werden zielgerichtet eingeschränkt, die Flexibilität des Produkts bestimmt damit den Grad der Anpassung an geänderte Geschäftsinhalte, vielleicht auch an Wachstumsmöglichkeiten. Genau diese Einschränkungen sind nicht herausgearbeitet.

9. Keine Grobplanung für die Systemeinführung

Über die (realistische) Einführungsdauer hat sich das Unternehmen keine Gedanken gemacht.

Die Rahmenbedingungen für die Projekteinführung sind nicht abgestimmt und weder in Sachen Personalbedarf noch Aufwand eingeplant.

Die Datenbereinigung als Voraussetzung für eine möglichst fiktionsfreie Konvertierung wurde weder begonnen noch in der nach der Entscheidung anlaufenden Projektphase berücksichtigt oder aber ohne besonderen Druck und Plan begonnen.

Die mit der Datenmigration betrauten Personen sind nicht Bestandteil des Kernteams und damit nicht in dem Informationsfluss eingebunden.

Es fehlt eine grobe Finanzplanung (Kosten).

10. Die Präsenz der Geschäftsleitung im Systemauswahlprozess

Die Geschäftsleitung begleitet die Systemauswahl nicht (hinreichend), sie betrachtet die Systemauswahl an sich nicht als strategische Aufgabe.

Die Geschäftsführung hat intern bereits eine Entscheidung für ein neues System getroffen; das Auswahlverfahren hat Alibicharakter.

Die Chefs setzen sich über Entscheidungen des Kernteams für die Systemauswahl hinweg. Die Arbeit des Teams wird missachtet.

Neben diesen Kardinalfehlern ergeben sich Belastungen für das Projekt, weil der Kostenrahmen gesprengt wurde; auch diese Situation lässt sich natürlich aus diesen Fehlern ableiten: An irgendeiner Stelle der Systemauswahl fehlten gewichtige Informationen, um den unerwarteten Änderungsaufwand zu erfassen. Aus diesem Problem ergeben sich dann die Systemanpassungen, die die zuvor begangenen Fehler aufzuweichen versuchen. (fn)

Buch: "Der ERP-Doktor"

Die hier vorgestellten Kardinalfehler bei der ERP-Systemauswahl sind dem Fachbuch entnommen, das Christian Riethmüller verfasst hat: "Der ERP-Doktor - Kompendium für die ERP-Systemauswahl und -Inbetriebnahme Band I: Das Auswahlverfahren eines ERP-Systems für Produktions- und Handelsbetriebe - Die Leiden der Anwender".

Foto: Re Di Roma Verlag

Das 389 Seiten umfassende Werk ist im Re Di Roma-Verlag (ISBN 978-3-86870-008-4) erschienen und kostet 119 Euro.