Windows Vista: Die Revolution findet nicht statt

21.09.2006 von Wolfgang Sommergut
Der Nachfolger von Windows XP bleibt die großen Innovationen schuldig und möchte die Nutzer dafür mit einer langen Liste von weniger spektakulären Neuerungen entschädigen.

Als Microsoft unter dem Codenamen "Longhorn" erste Ausblicke auf den Nachfolger von Windows XP gab, standen auffällige Neuerungen im Vordergrund. Dazu zählten das revolutionäre Dateisystem WinFS, das die von Bill Gates persönlich beklagten Defizite beim Informations-Management auf Desktop-PCs beheben sollte. Angesichts des Web-Service-Hypes erhielt auch die "Windows Communication Foundation" ("Indigo") große Aufmerksamkeit, Ähnliches galt für das neue Grafiksubsystem unter dem Codenamen "Avalon" sowie die darauf aufbauende neue Benutzeroberfläche. Die Next-Generation Secure Computing Base ("Palladium"), ein System für das Digital Rights Management, wurde vor allem durch die kontroversen Debatten bekannt, die es auslöste.

Keine radikalen Veränderungen

Es sieht allerdings so aus, als seien 25 Jahre nach Einführung des Personal Computer die Zeiten für die radikale Erneuerung von Desktop-Betriebssystemen vorüber. Vergleichbare Umbrüche wie seinerzeit die Umstellung auf grafische Benutzeroberflächen, die Unterstützung von Multitasking oder die Erweiterung um Netzfunktionen sind nicht in Sicht. Selbst der sich abzeichnende Wechsel von 32- auf 64-Bit-Systeme erregt im Vergleich zu Windows 95, das die 32-Bit-Ära einläutete, nur wenig Aufsehen.

Teil 1 einer sechsteiligen Vista-Serie

In vielen Bereichen führt Vista daher nur fort, was Vorgängersysteme begannen: Windows 2000 mit einer umfassenden Infrastruktur für das System-Management, XP und das dazu gehörende Service Pack 2 mit Sicherheitsfunktionen oder der Server 2003 unter anderem mit Tools zur Dateiverwaltung ("Shadow Copy"). Selbst weitgehende Neuerungen wie die Einführung eines neuen Programmiermodells oder die PC-Virtualisierung sind keine Vista-spezifischen Errungenschaften. Microsoft vollzieht mit der Ernennung von .NET zur offiziellen Entwicklungsplattform die Integration einer Technik, deren erste Version 2001 auf den Markt kam und die bis dato nicht Bestandteil von Windows war. Das Bundling des zugekauften Virtual PC mit der Enterprise-Ausführung von Vista legt die Messlatte für Desktop-Systeme zwar höher, repräsentiert per se aber keinen technischen Fortschritt.

Wenn nun der XP-Nachfolger mit mehrjähriger Verspätung Anfang 2007 auf den Markt kommt, fehlen einerseits die großen Neuheiten wie WinFS und Palladium. Anderseits portiert Microsoft das Grafik- und das Kommunikationssubsystem auch auf XP, so dass diese kein exklusives Feature von Vista bleiben. Der Nutzen des nächsten Desktop-Windows soll sich daher aus den zahlreichen Veränderungen in fast allen Bereichen ergeben. Sie reflektieren die Anregungen und Vorschläge, die Anwender von bisherigen Windows-Versionen gegenüber dem Hersteller artikulierten.

Die neue Benutzeroberfläche Aero glänzt mit 3D-Effekten und halbtransparenten Fenstern. Sie ist jedoch nicht Bestandteil aller Vista-Versionen und bedarf leistungsfähiger Hardware.

Außerdem reagiert Microsoft im Rahmen der normalen Evolution von Systemsoftware auf die neuen Entwicklungen der Hardware. Dazu zählen etwa die Unterstützung für Dual-Core-Prozessoren oder die Ausreizung der Leistungsfähigkeit moderner Grafikkarten. Schließlich sah sich der Desktop-Monopolist auch gezwungen, aufgrund der bröckelnden Vormachtstellung seines betagten Browsers eine aufgefrischte Version des Internet Explorer auszuliefern. In ihren Genuss sollen allerdings auch Anwender von Windows XP kommen.

Neues Benutzererlebnis

Die auffälligste Neuerung für Endbenutzer stellt die grafische Oberfläche dar. Ein überarbeitetes Startmenü, neue Systemdialoge, eine Dokumentenvorschau im Explorer ("Live-Symbole") sowie eine überall präsente Suchfunktion sollen ihre Arbeit erleichtern. Selbst das nach Mac-Vorbild aufgepeppte 3D-Interface "Aero" fördert laut Microsoft die Produktivität der Anwender.

So verschaffen halbtransparente Fenster angeblich eine bessere Orientierung auf dem Desktop. Um in ihren Genuss zu kommen, muss der Rechner allerdings über eine Grafikkarte mit mindestens 128 MB RAM verfügen. Außerdem bedarf es auch einer höherwertigen Vista-Ausführung: Die voraussichtlich auf vielen PCs vorinstallierte "Home Basic Edition" kommt genauso wie "Windows Starter 2007" ohne Aero.

Angesichts der zunehmenden Informationsmengen auf den immer größeren PC-Festplatten versucht Microsoft, das Fehlen von WinFS durch alternative Konzepte zu kompensieren. Das neue Dateisystem hätte die überkommene Organisation von Daten in hierarchischen Ordnersystemen durch eine flache Struktur ersetzen sollen, in der beschreibende Informationen ("Metadaten") ausschlaggebend für die Verwaltung von Dokumenten und multimedialen Inhalten gewesen wären. Vista besinnt sich auf Konzepte aus dem Web, um den Wegfall von WinFS auszugleichen. Die umständliche Navigation in tiefen Verzeichnisbäumen soll immer mehr der Suche weichen.

Web als Vorbild

So wie der Web-Surfer laufend die Suchmaske von Google bemüht, kann der Vista-Anwender allerorten Eingabefelder mit Suchausdrücken füttern. So genannte Suchordner speichern einmal getätigte Abfragen und zeigen beim Öffnen das aktuelle Ergebnis der Recherche an. Microsoft hat dieses Konzept bereits in Outlook 2003 umgesetzt und übernimmt es nun für das Betriebssystem. Es macht die Organisation der Daten unabhängig von ihrer physischen Speicherung innerhalb von Ordnerstrukturen. Wenn sich Anwender trotzdem durch Verzeichnisbäume hangeln wollen, dann hilft zukünftig die im Web weit verbreitete Breadcrumb-Navigation.

Beim Datei-Management orientiert sich Microsoft an Konzepten des Web. Dazu zählt eine freie Verschlagwortung ebenso wie die Breadcrumb-Navigation in Ordnern.

Zu den Anleihen aus dem Web 2.0 gehört die Möglichkeit, Dateien auf einfache Weise zu verschlagworten ("Tagging"). Anstelle der automatischen Extraktion von Metadaten, die WinFS hätte leisten sollen, tritt eine Technik, die Online-Dienste wie Delicious oder Flickr salonfähig gemacht haben.

Bessere Codequalität?

Bereits Windows XP stand im Zeichen von Sicherheitsfunktionen, für das 2004 nachgelieferte Service Pack 2 galt das noch mehr. Aufgrund seiner marktbeherrschenden Stellung ist das Microsoft-System das bevorzugte Angriffsziel für Hacker, Virenprogrammierer und andere böswillige Zeitgenossen. Trotz erheblicher Anstrengungen ist es Microsoft aber nicht gelungen, den angeschlagenen Ruf seiner als löchrig verschrienen Software zu verbessern.

Vista gilt als erste Windows-Version, seit Bill Gates die Trustworthy Computing Initiative ausgerufen hat. Entsprechend sei das neue System nach den dort festgelegten strengen Programmrichtlinien entwickelt worden und daher weniger anfällig für Attacken. Ob Microsoft dieses Versprechen einlösen kann, wird sich erst zeigen, wenn Vista millionenfach den Herausforderungen der freien Wildbahn ausgesetzt ist.

Neue Sicherheitsfunktionen

Klarer absehbar ist der Nutzen, den einige neue Sicherheitsfunktionen bieten dürften. Dazu zählt besonders der User Account Control (UAC), der eine seit jeher existierende Schwachstelle von Windows beseitigt. Während andere Systeme, allen voran Unix, immer schon vorsahen, dass normale Benutzer nicht mit lokalen Administratorprivilegien ausgestattet sein sollten, erschwerte Windows das Arbeiten mit reduzierten Rechten.

Schuld daran sind Altlasten, die aus einem verfehlten Systemdesign erwuchsen. Viele Anwendungen lassen sich nur dann installieren, wenn der angemeldete Benutzer systemweite Schreibrechte besitzt. Außerdem bürgerte sich bei vielen Programmierern ein, temporäre Dateien in System- oder Programmverzeichnissen abzulegen, so dass auch hier für gängige Tätigkeiten erweiterte Rechte erforderlich sind.

Microsoft stattete unter XP den Standard-User weiterhin mit vollen Rechten aus, weil das Unternehmen einen Ansturm auf den Windows-Support befürchtete. Verminderte Benutzerprivilegien hätten nämlich bei Altanwendungen zu Kompatibilitätsproblemen führen können. Die Beibehaltung des Benutzers mit Admin-Vollmachten hatte zur Folge, dass Schadprogramme wie etwa Trojaner, die im Kontext eines solchen Kontos ablaufen, die uneingeschränkte Kontrolle über den PC erlangen können. Vista beendet mit UAC diesen Zustand und reduziert sogar die Rechte eines Systemverwalters auf jene eines gewöhnlichen Benutzers, solange er keine sicherheitskritischen Funktionen ausführt. Falls er solche aufruft, weist ihn das System darauf hin und fordert sein Einverständnis.

Ende des Fluchs alter Software?

Bei der Einführung von UAC stand Microsoft erneut vor dem Problem, dass sich alte Software auch unter den Bedingungen reduzierter Rechte installieren und ausführen lassen muss. Zu diesem Zweck mussten die Programmierer Teile der Registrierdatenbank und des Dateisystems virtualisieren, so dass den Altanwendungen vorgegaukelt wird, sie könnten ungehindert auf diese kritischen Systemkomponenten zugreifen. Allerdings handelt es sich bei UAC um keine obligatorisch zu nutzende Funktion, sondern sie lässt sich auf Wunsch abschalten. Auf Bequemlichkeit bedachte Sysadmins könnten somit diesen Schutz unwirksam machen.

Zu den systeminternen Neuerungen hinsichtlich Sicherheit gehört auch der "Secure Desktop", der kritische Dialoge wie zur Anmeldung oder Systemverwaltung in den Vordergrund rückt und den Rest des Desktops abdunkelt. Damit soll er verhindern, dass sie hinter anderen Fenstern verborgen oder durch Schadprogramme gefälscht werden ("spoofing"). Die meisten hinzukommenden sicherheitsrelevanten Features von Vista sind hingegen beigepackte Tools, die auch schon bisher über Drittanbieter zu haben waren. Dazu zählen etwa eine erweiterte Personal Firewall, eine Anti-Spyware, ein Verschlüsselungswerkzeug für ganze Laufwerke ("Bitlocker") sowie eine Sandbox für den Internet Explorer. Der notorisch löchrige Web-Browser wird damit zum System hin abgedichtet.

Auch wenn Microsoft in der Vergangenheit alle mögliche Software zum natürlichen Bestandteil eines Betriebssystems erklärte, fehlt auch in Vista ein Antivirenprogramm - vermutlich würden die meisten Benutzer lieber auf die zahlreichen mitgelieferten "Gadgets" verzichten als auf eine solche essenzielle Sicherheitssoftware. Die Redmonder bieten mit dem "Tool zum Entfernen bösartiger Software" zwar einen Virenscanner an, dieser muss aber separat heruntergeladen und installiert werden.

Verwirrende Lizenzpolitik

Neben den auffälligsten Veränderungen, die zweifellos auf die Bereiche Bedienerführung und Sicherheit entfallen, bringt das System auch eine Vielzahl von Verbesserungen bei der Systemverwaltung (etwa neue Mechanismen zur Systeminstallation), beim Networking (etwa die Bündelung aller Einstellungen im "Netzwerkcenter"). Freilich finden sich nicht alle Funktionen in sämtlichen Ausführungen des Systems. Microsoft bietet Vista in sieben verschiedenen Varianten an, die jeweils auf bestimmte Benutzergruppen zugeschnitten sind.

Allerdings enthält eine "größere" Version nicht immer alle Funktionen der nächstkleineren. Daher bedeutet die lange Liste der neuen Vista-Funktionen keineswegs, dass Anwender sie schließlich in ihrem System wiederfinden - schon gar nicht, wenn sie keine eigene Lizenz erwerben, sondern sich mit einem vorinstallierten "Home Basic" begnügen.

Vista-Features für Vista-Verweigerer

Wer nicht gleich auf den Vista-Zug aufspringen möchte, muss sich mit Windows XP nicht so bald abgehängt fühlen. Microsoft bietet Unterstützung für das alte System bis zwei Jahre nach Erscheinen des Nachfolgers, der "Extended Support" währt weitere fünf Jahre.

Auch in technischer Hinsicht gerät man nicht so schnell ins Hintertreffen. Nach dem Aus für wesentliche angekündigte Features, darunter das Dateisystem WinFS, wartet der XP-Nachfolger zwar immer noch mit einer Reihe von Neuerungen auf. Viele davon kann man jedoch bekommen, ohne auf das aktuelle OS umzusteigen.

Wer auf das Update verzichtet, dem entgehen unter anderem eine Reihe von Sicherheits-Tools, darunter eine Personal Firewall, die auch ausgehende Verbindungen überwacht, ein Anti-Phishing-Utility oder eine Anti-Spyware. Eine Firewall, die mehr kann als jene, die Microsoft mit XP ausliefert, gibt es von Zone Labs ("Zone Alarm") in einer Basisversion gratis, von Tiny Software zu einem moderaten Preis. Anti-Phishing-Schutz lässt sich aus verschiedenen Quellen beziehen, relativ weit verbreitet ist die kostenlose Toolbar von Netcraft. Und den in Vista enthaltenen "Defender" bietet Microsoft auch für XP zum Download an, das beliebte "Spybot Search and Destroy" gibt es ebenfalls umsonst.

Als wesentliche Neuerung von Vista gilt der aktualisierte Internet Explorer. Microsofts Browser, der mit Ausnahme von Sicherheitskorrekturen seit Jahren unverändert blieb, zieht in vielen Punkten gegenüber den Konkurrenten Firefox und Opera nach. Die Version 7 soll auch für XP frei erhältlich sein, alternativ empfiehlt sich der Einsatz der beiden anderen Web-Frontends, die bisher weit weniger Sicherheitsmängel aufwiesen als der Internet Explorer. Der neue Sandbox-Modus, der den Browser vom restlichen System abschirmt und so die Ausführung von Malware verhindert, lässt sich beispielsweise über das Zusatzprodukt "Greenborder Pro" einrichten.

Viele Neuerungen der Vista-Benutzerschnittstelle können ebenfalls über separate Tools nachgerüstet werden. Dazu zählen "Martin's Transparent Windows", Microsofts "Powertoys for Windows XP" (mit dem Alt-Tab-Replacement) oder Yahoos "Free Widgets" als Alternative für Vistas "Gadgets". Auch für die überarbeitete Suchfunktion von Vista findet sich Ersatz, entweder in Form von Microsofts "Windows Desktop Search" oder durch Angebote von anderen Herstellern wie "Google Desktop" oder "Yahoo Desktop Search".

Update-Verweigerer müssen auch keine Angst haben, dass neue Software nicht mehr unter XP läuft. Das unter Vista favorisierte Programmiermodell von .NET 3.0 wird auch für XP unterstützt, außerdem portierte Microsoft wesentliche Vista-Subsysteme wie die "Presentation Foundation" (Codename "Avalon") und das Web-Service-Modul "Communication Foundation" (Codename "Indigo") zurück auf den Vorgänger. Und solange die Vista-Installationen in den Minderzahl sind, werden Softwareanbieter darauf achten, dass ihre Produkte auch unter XP laufen - sie haben kein Interesse daran, ihren Markt zu verkleinern.