Indische "Entwicklungshilfe"

Wie Mercedes von Bangalore profitiert

25.11.2016 von Manfred Bremmer
Das Mercedes-Entwicklungszentrum in Bangalore liefert als größtes F&E-Zentrum von Daimler außerhalb Deutschlands inzwischen wichtige Impulse für Zukunftsthemen wie E-Mobilität und Connected Cars. Dabei haben Innovationsgeist und Verfügbarkeit von hochqualifizierten Fachkräften längst die niedrigen Lohnkosten als Standortvorteil überholt.
MBRDI in Bangalore: Die Marke mit dem Stern hat auch in Indien enorme Strahlkraft.
Foto: Daimler

Lokaltermin bei Mercedes Benz Research and Development Center India (MBRDI): Lärm, Smog und allgemeines Verkehrschaos auf den Straßen täuschen leicht darüber hinweg, dass in dem schicken Gebäude in Bangalores Technologieviertel Whitefield mit großem Eifer an der Zukunft der Automobilität gearbeitet wird.

Und auch innerhalb des Firmengeländes sind die Hinweise nur dürftig, dass es sich hier um das Entwicklungszentrum eines der weltgrößten Autobauers handelt: Kein Mercedes-Fahrzeug weit und breit, statt Testanlagen und Labors sind die Stockwerke des Hauptgebäudes mit Großraumbüros durchsetzt, in denen die Angestellten in kleinen Cubicals am PC arbeiten.

"Wir versuchen, die digitale Entwicklungsgrenze weiter zu schieben und das Produkt solange wie möglich im Computer zu halten", erklärt Parthiv Shah, General Manager Computational Engineering, MBRDI, die Mission seiner Abteilung. Konkret bedeute dies, dass Testszenarien im Rechner simuliert werden und nicht erst am physischen Modell oder Prototypen. Dies ist nämlich nicht nur kostspieliger, sondern verlangsamt auch die Entwicklung deutlich.

Enteisungssimulation made in India

Als Beispiel verweist Shah auf die hochkomplexe Simulation der Enteisungsfunktion für Windschutzscheiben von PKWs und LKWs, die in seiner Abteilung entwickelt wurde. Nachdem im Rahmen eines Testszenarios in Sindelfingen bewiesen wurde, dass eine optimale Anordnung der Warmluftdüsen bereits in der digitalen Phase möglich ist, wird die Methode inzwischen als Standard für alle PKWs und LKWs angewandt.

Parthiv Shah erklärt die Vorteile der von seiner Abteilung entwickelten Enteisung-Simulation für Mercedes.

Ein anderes Beispiel dafür, dass die Dependance in Bangalore für Daimler längst viel mehr als nur eine verlängerte Werkbank darstellt, ist die Simulation eines Crashtests des IIHS, bei dem ein 1,5 Tonnen schweres Fahrzeug mit 50 Km/h seitlich aufprallt. Hier kann Shahs Team bereits am Rechner feststellen, ob ein Fahrzeug den Test passiert oder durchfällt. Doch damit nicht genug: Zeigt sich, dass beispielsweise die B-Säule versteift werden muss, ist es in der Lage, die Info an den benachbarten Bereich Herstellungs- und Fertigungssimulation weiterzuleiten.

Als Resultat bekommt der Mutterkonzern in Deutschland dann mit dem Testergebnis gleich einen Hinweis auf die Optimierungsmöglichkeit. "Wir haben früh angefangen, Themen als Loop zu schließen und so von digitalem Know-how zu Domain-Know-how zu wechseln", erklärt Shah: "In diesem Gebäude sind Problem und Lösung nur einen Schritt voneinander entfernt."

Solange wie möglich im Computer entwickeln

Auch im Bereich Electrical & Electronics (E&E) von MBRDI ist es oberstes Ziel, die Schwelle der fahrzeugunabhängigen Entwicklung so weit nach vorne zu treiben. Im Fokus stehen hier Themen, wo das Unternehmen das Knowhow intern halten möchte, damit es nicht an Zulieferer und somit indirekt an die Konkurrenz abfließt. Bei aller Geheimniskrämerei sieht Manu Saale, Managing Director & CEO von MBRDI, allerdings auch Vorteile in dem engen Kontakt mit den Zulieferern: "Von unserem Lieferantennetzwerk sind alle hier in Bangalore präsent und wir können als Daimler in Kontakt treten."

Das E&E-Portfolio reicht dabei von Software für ECUs und Elektromotoren über Kabelbäume bis hin zu verschiedenen Apps für Connected Cars. Aus Bangalore stammen bereits zehn Apps, darunter Anwendungen für das Rear Seat Entertainment (RSE), Smart Cross Connect (eine Art Android Auto für den Smart) und die auf der IFA vorgestellte App pacTris zum effektiven Bepacken eines Smart.

Versuchsaufbau im Testlabor: Das MBRDI beschäftigt sich auch mit dem Thema Autonomes Fahren

Mercedes arbeitet in Südindien auch am Thema Autonomes Fahren, allerdings nur in einem Versuchsaufbau am Rechner. So ist in Bangalore kein Mercedes mit Driving Assistance verfügbar, da die verwendeten Lidars in Indien nicht zugelassen ist. Darüber hinaus kann man sich Testfahrten angesichts der katastrophalen Verkehrssituation nur schwer vorstellen.

Auch die Tätigkeiten der IT-Abteilung in Bangalore gehen weit über das hinaus, was man als klassische Offshoring-Dienste bezeichnen würde. So kümmert sich das mehr als 1400 Köpfe starke Team nicht nur um die globale IT-Infrastruktur von Daimler und die eigene IT, sondern neu auch um das zunehmend wichtige Thema Engineering IT & Advanced Analytics. Auch regionale Rollouts wie die derzeit stattfindende Migration auf Windows 10 werden mit MBRDI vorbereitet.

"In jedem Mercedes steckt ein Stück Indien"

Angesichts dieser Fülle an Aufgaben ist es kein Wunder, dass das MBRDI seit 1996 von zehn auf über 3.500 Mitarbeiter gewachsen ist und damit gemessen an der Anzahl der Mitarbeiter das größte Forschungs- und Entwicklungszentrum von Daimler außerhalb Deutschlands darstellt. Der größte Wachstumsschub fand dabei zwischen 2010 und 2013 statt, als das MBRDI Sitze für Mercedes-Benz-Pkw entwarf und IT-seitig das (inzwischen erfolgreich abgeschlossene) PLM 2015 Projekt - ein globales Projekt zur Umstellung der Konstruktion von Catia auf Siemens NX - für sich gewann.

Wall of Fame der Patentträger: Aus dem MBRDI in Bangalore kommen inzwischen fast 500 Patentanmeldungen.
Foto: Daimler

Das erste digitale Derivate-Projekt, das E Klasse Coupé, startete ebenfalls in diesem Zeitraum. Gleichzeitig führte das MBRDI erstmals eine vollständige Fahrzeugsimulation für das S Klasse Coupé durch. Nicht ohne Grund erklärt CEO Saale daher stolz, dass in jedem Mercedes auch ein Stück Indien steckt.

Erfolgreich im Kampf um Talente

Um von den Synergieeffekten innerhalb der stark gewachsenen Belegschaft zu profitieren, bezogen die einzelnen Abteilungen 2012 erstmals ein gemeinsames Gebäude mit 25.000 Quadratmetern. Bereits zwei Jahre später kam ein ebenso großes hinzu und auch das im April 2016 eröffnete Gebäude mit 12.000 Quadratmetern wird angesichts der schnell wachsenden Belegschaft langsam voll. Kein Wunder: Schon im vergangenen Jahr stellte Daimler in Bangalore 1000 neue Mitarbeiter ein, in diesem Jahr werden es wohl ähnlich viele werden.

Diese Zahl ist äußerst bemerkenswert, selbst wenn man den aufwändigen Auswahl- und Onboarding-Prozess einmal außer Acht lässt. Auch wenn Indiens Hochschulen jedes Jahr rund eine Million Ingenieure ausspucken, fischt Mercedes nämlich nicht allein in dem riesigen Talent-Pool. Praktisch das gesamte Who is Who der IT-Branche, darunter auch Wunscharbeitgeber wie Amazon, Capgemini, Google oder Microsoft bemühen sich um die Besten der Besten.

Und auch die Fluktuation liegt im MBRDI mit sieben Prozent deutlich unter den durchschnittlichen 20 Prozent im IT-Bereich Indiens, was sicher auch auf die Strahlkraft der Marke mit dem Stern zurückzuführen ist. Nicht ohne Grund hat es Mercedes daher in diesem Jahr auf Platz 15 von LinkedIns Top-25-Liste der attraktivsten Arbeitgeber in Indien geschafft.

Daimler IT-Hackathon in Banglore
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Am IT-Hackathon von Daimler in Bangalore nahmen 101 Mitarbeiter in 38 Teams teil.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
In 24 Stunden galt es, aus Ideen rund um das Thema Digital Life umsetzbare Konzepte ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
... oder sogar Lösungen zu erstellen.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Dazu wurde einfrig getüftelt, ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
... diskutiert ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
und schon einmal probeweise demonstriert.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Zu fortgeschrittener Stunde wechselten die Hackathon-Teams auf weichere Sitzgelegenheiten.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Zwischendurch besuchten auch die Manager ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
... darunter der Chef der Niederlassung, Manu Saale, ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
... und der extra eingeflogene Daimler-CIO Dr. Michael Gorriz die Wettbewerbsräume.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Neben viel Software-Code kam auch Hardware zum Einsatz - etwa Google Glass ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Nach 24 Stunden gab Daimler-CIO Dr. Michael Gorriz das Ende des Wettbewerbs bekannt.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Nach 24 Stunden wurden in einer ersten Wahlrunde die 11 (eine Stimmengleichheit) besten Lösungen ermittelt.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Erst entwickeln, dann pitchen: Stufe Zwei des IT-Hackathons in Bangalore.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Überraschenderweise entstanden in den 24 Stunden Hackathon nicht nur schillernde Präsentationen sondern teilweise auch fast fertige Lösungen.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Die Preisverleihung nach 24 Stunden IT-Hackathon.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Das Hauptgebäude von Mercedes-Benz Research & Development India Private Limited (MBRDI) in Bangalore.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Ein Großteil der IT-Aktivitäten des MBRDI befinden sich in diesem Extra-Gebäude.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Der Deutsch-Unterricht findet bei MBRDI unter anderem in diesem Container statt ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
... und ist gut besucht

"Bangalore ist für uns unverzichtbar geworden", verkündet so auch der scheidende Entwicklungschef von Daimler, Prof. Dr. Thomas Weber, anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des MBRDI. Der Standort spiele eine bedeutende Rolle im globalen Forschungs- und Entwicklungsnetzwerk, hier würden intelligente Lösungen geschaffen, um die Entwicklungszyklen in der Automobilindustrie mit denen in der Internet- und Unterhaltungselektronik zu synchronisieren.

Manu Saale, Prof. Dr. Thomas Weber und Thomas Merker (v.l.n.r.) erklären im Pressegespräch, was den Standort Bangalore so wichtig für Daimler macht.

"Aber deswegen machen wir das Entwicklungszentrum in Sindelfingen nicht zu", warf sein Kollege Thomas Merker, Direktor für Karosserie und Sicherheit bei der Mercedes-Benz Cars Entwicklung, schnell ein. Fakt sei allerdings, dass es beispielsweise schwierig sei, in Deutschland genug Intelligenz für Simulation zu finden.