Fehlende Netzeffekte, Enterprise-Software, Compliance, Hierarchie

Welche Faktoren das Enterprise 2.0 ausbremsen

04.06.2009 von Wolfgang Sommergut
Nur weil das Prinzip der Selbstorganisation bei viel beachteten Projekten wie Linux oder der Wikipedia zu erstaunlichen Ergebnissen führt, muss es in der Firma noch lange nicht klappen. Stolpersteine gibt es jedenfalls genug.
Den insgesamt hohen Erwartungen an das Enterprise 2.0 stehen relativ geringe Investitionen gegenüber.

Dank steigender Popularität des Enterprise 2.0 interessieren sich Unternehmen für Tools und Methoden der Zusammenarbeit, die im Internet entstanden und dort erfolgreich angewandt werden. Wie verschiedene Umfragen belegen, erwarten die Verantwortlichen in den Unternehmen von den neuen Arbeitsweisen in der Mehrzahl positive Auswirkungen. So ergab eine Untersuchung der Bitkom (PDF) aus dem Vorjahr, dass 88 Prozent von 387 befragten Firmen der Aussage "Web-2.0-Technologien werden in unserem Unternehmen an Bedeutung gewinnen" grundsätzlich zustimmen. Allerdings zeigte sich gleichzeitig, dass nur 10 Prozent für Enterprise 2.0 einen Investitionsschwerpunkt vorsehen.

Unsicherheit und Fehlschläge

Dieses Auseinanderklaffen von mehrheitlich positiven Erwartungen und relativ zurückhaltender Anwendung von Web-2.0-Tools hat mehrere Gründe. Eine Untersuchung von Berlecon Research ergab Ende 2007, dass die befragten Unternehmen den unklaren Nutzen, Sicherheitsrisiken und die fehlende Kontrolle über die von Mitarbeitern publizierten Inhalte als größte Hindernisse erachteten.

Um die Möglichkeiten der im Web genutzten Tools auszuloten, probieren Firmen in der Regel zuerst Wikis und Weblogs aus. Dafür spricht ihre Einfachheit, leichte Verfügbarkeit und ihre hohe Bekanntheit. Allerdings veröden häufig Wikis, die ohne Beachtung gängiger Empfehlungen eingeführt werden, weil die Mitarbeiter sich nicht daran beteiligen. Corporate Weblogs, die allzu oft auf reine Marketingtexte beschränkt werden, gelten laut einer Untersuchung von Forrester Research unter 18 verschiedenen Medien als am wenigsten glaubwürdig.

Die Kluft zwischen den positiven Erwartungen und fehlender beziehungsweise mangelhafter Umsetzung sprechen dafür, dass sich Erfolgsmodelle aus dem Web nicht ohne weiteres auf Unternehmen übertragen lassen. Vor allem die Hoffnung auf unkomplizierte Zusammenarbeit mit einfachen Werkzeugen, die Open-Source-Projekte und Online-Communities vorexerzieren, wird in der Realität der Arbeitswelt oft enttäuscht.

Komplexe Enterprise-Software

Für die ersten Gehversuche setzen Fachabteilungen zwar gängige Web-2.0-Tools wie Wordpress für Blogs oder TWiki und Mediawiki ein. Sobald das Thema Enterprise 2.0 strategischen Charakter erhält, fällt in der Regel die Entscheidung für komplexere Plattformen. Zu den erfolgreichsten unter ihnen zählt Microsoft Sharepoint.

Der Sharepoint-Server versammelt neben Collaboration-Tools eine Reihe weiterer Funktionen und Module.
Foto: Microsoft

Das System aus Redmond bietet zwar einige integrierte Collaboration-Anwendungen, sein Konzept stammt aber aus der Zeit vor dem Web 2.0. Es beschränkt sich nicht auf Funktionen zur Teamarbeit, sondern integriert eine ganze Palette mehr oder weniger dazu passender Komponenten für Portale, Suche, Formulare, Content-Management und analytische Applikationen. Aber gerade bei den Tools zur Zusammenarbeit zeigt es Schwächen, weil etwa die Module für Blogs und Wikis hinter den Möglichkeiten der bekannten Standalone-Werkzeuge zurückbleiben. Mitarbeiter, die privat bloggen oder sich an der Wikipedia beteiligen, und daher eine führende Rolle einnehmen könnten, werden damit nicht glücklich.

Beschränkte Reichweite

Das größte Manko von Enterprise-Implementierungen besteht darin, dass sie Web-2.0-Anwendungen in ihrer Reichweite und in ihren Möglichkeiten einschränken. Dabei liegt der besondere Nutzen von Social Software gerade darin, dass sie Netzwerkeffekte erzeugen kann. Wie der Gebrauchswert eines Telefonsystems mit der Zahl der angeschlossenen Apparate steigt, so profitieren auch Weblogs, Wikis und erst recht soziale Netzwerke von einer möglichst großen Zahl an potenziellen Teilnehmern. Mit zunehmender Reichweite eines Weblogs steigt die Chance, wertvolle Kommentare auf Postings zu erhalten, beispielsweise um ein Problem zu lösen. Je größer die Population in einem sozialen Netzwerk ist, desto mehr Möglichkeiten bestehen, passende Kontakte zu knüpfen. Ähnliches gilt für Metadaten auf Basis von Tags oder Social Voting und Ranking.

Der Nutzen von Social Software steigt mit der Zahl der Teilnehmer.

Mit der Adaptierung von Web-2.0-Tools für das Enterprise finden diese in der Regel ihre Grenze an der Firmen-Firewall. Für Unternehmen in der Größe der IBM, die mit 400 000 Mitarbeitern der größte Anwender ihrer eigenen Enterprise-2.0-Software "Lotus Connections" ist, mögen sich trotzdem ausreichende Skaleneffekte einstellen. Für den Mittelstand trifft das für soziale Netzwerke wohl kaum zu.

Die Erfahrungen mit Collaboration-Tools im Web zeigen zudem, dass dort die große Mehrheit Angebote nur konsumiert, eine Minderheit gelegentlich etwas beiträgt und nur eine kleine Gruppe aktiv an einem Projekt mitarbeitet. Selbst große Unternehmen müssen diese 90-9-1-Regel durchbrechen, um Enterprise-2.0-Vorhaben erfolgreich umzusetzen.

Ungeeignet für das öffentliche Web

Die geringe Reichweite der Firmensoftware ist teilweise durch die Art der Implementierung bedingt, etwa wenn sie an ein internes Directory gebunden ist. Dann können externen Benutzern keine Rechte erteilt werden, ohne für sie ein internes Konto anzulegen. In anderen Fällen ist das Design der Produkte von der Annahme geprägt, dass sie in der relativ geschützten Umgebung des Firmennetzes laufen.

So besitzen etwa Blogs unter Sharepoint keinen Filter, der sie gegen maschinell erzeugten Kommentarspam schützt. Es gibt zwar Behelfsmaßnahmen, mit denen sich die größte Flut abwehren lässt, sie beschränken aber den Komfort des Besuchers und wären für die ohnehin nicht unterstützten Trackbacks nicht ausreichend. Ein weiteres Beispiel ist das Rechte-Management von Lotus Connections. Bei einer Installation im öffentlichen Internet kann ein Benutzer zwar sein Blog für jeden Besucher öffnen, aber gleichzeitig nicht verhindern, dass seine persönliche Profilseite allgemein einsehbar ist.

Compliance als Bremse

Im Unterschied von Privatpersonen, die sich mit Hilfe von Web-Tools für Projekte oder in Online-Communities zusammenschließen, müssen Firmen strengeren rechtlichen Anforderungen und Richtlinien genügen. Allerdings sind die Regeln nicht immer so verfasst, dass sich daraus klare Handlungsanleitungen ableiten lassen. Dies belegt etwa die in vielen Unternehmen herrschende Unsicherheit, welche digitalen Informationen tatsächlich archiviert werden müssen.

Für Anbieter von Enterprise-Content-Management-Software (ECM) ist das Thema Compliance daher ein willkommenes Verkaufsargument, das bei Bedarf mit drastischen Beispielen aus der (amerikanischen) Rechtsprechung gestützt wird. Bei der Einführung von Collaboration-Tools aus dem Web 2.0 stellen sich viele Verantwortliche die Frage, welche rechtliche Pflichten etwa mit der Nutzung von Wikis oder Weblogs einhergehen. Als noch problematischer erweist sich natürlich, wenn Mitarbeiter Dienste aus dem öffentlichen Web in der Arbeit einsetzen, etwa soziale Netzwerk wie Xing oder den Microblogging-Service Twitter.

Bookmarks ins Content-Repository

Die überall lauernden Compliance-Konflikte tragen dazu bei, die Reichweite von Social Software möglichst auf das Firmennetz einzuschränken. Opentext beispielsweise kommt Anwendern in diesem Anliegen entgegen, indem es unter dem Codenamen "Bloom" Tools entwickelt, die den Vorbildern aus dem Web hinsichtlich Bedienung und Anmutung möglichst nachempfunden sind. Sie beruhen aber auf einem komplexen ECM-System und können daher zentral kontrolliert werden, sogar jedes Bookmark eines Nutzers landet in einem zentralen Repository.

Das Beschneiden von Collaboration-Tools bringt diese nicht nur um mögliche Skaleneffekte, sondern läuft dem Konzept des Enterprise 2.0 entgegen, weil dieses durchlässigere Unternehmen propagiert, die sich stärker mit Partnern und Kunden vernetzen. Freilich hängt dieser Austausch nicht nur von unabänderlichen Rahmenbedingungen und den Eigenarten von Corporate Software ab, sondern auch davon, wie weit sich eine Firma öffnen möchte.

Eine Sache der Kultur

Viele Softwarehäuser würden beispielsweise darin den Verlust von wichtigen Geschäftsgeheimnissen sehen, wenn jemand frühzeitig die geplanten Funktionen der nächsten Produktversion nach außen trüge. Atlassian hingegen veröffentlicht diese Pläne vorab auf seiner Website. Der Hersteller nimmt in Kauf, dass die Konkurrenz von Anfang an über seine Absichten Bescheid weiß, weil ihm die Rückmeldung und die Anregungen der Kunden wichtiger erscheinen.

Die Definition dessen, was als geheim gilt, oder welche Aktivitäten als sicherheitsrelevant eingeschätzt werden, hängt somit nicht nur von Gesetzen und Verordnungen, sondern zu einem guten Teil von der Unternehmenskultur ab. In der ganzen Debatte um Enterprise 2.0 nimmt dieser Aspekt eine zentrale Position ein und wird oft wichtiger als die notwendigen Tools erachtet.

Netzwerk trifft auf Hierarchie

Bei der Übernahme von Web-2.0-Prinzipien auf Unternehmen geht es freilich nicht bloß um Werte oder die Art und Weise des Umgangs miteinander. Vielmehr treffen dabei verschiedene Organisationsformen aufeinander, die eine flach und netzförmig, die andere hierarchisch. Die Aufforderung von Enterprise-2.0-Proponenten wie Lotus-Chef Bob Picciano, Unternehmen über soziale Netzwerke zu managen statt über Hierarchien, heißt in der Praxis nicht, dass traditionelle Organisationsstrukturen verschwinden. Die formale Autorität der Unternehmensführung gründet weiterhin in den Eigentumsverhältnissen, das Top-Management agiert im Auftrag der Firmeninhaber.

Auf der anderen Seite steht bei den Vorbildern für das Enterprise 2.0, seien es Open-Source-Projekte oder Online-Communities, das Prinzip der Selbstorganisation im Mittelpunkt. Autorität muss sich dort über Kompetenz und Engagement gegenüber den Teilnehmern legitimieren. Flexible Arbeitsmöglichkeiten, Mitbestimmung, Vertrauen, motivierende Herausforderungen sind die wichtigsten Arbeitsqualitäten. Zwischen den Kooperationsmodellen aus dem Web und jenen der herkömmlichen Firmenorganisation drohen daher Konflikte.

Hybride Organisationsmodelle

Eine Möglichkeit, beide Ansätze zu verbinden, praktiziert die IBM in der Kooperation mit Open-Source-Projekten. Die involvierten Entwickler agieren nach den dort geltenden Spielregeln, während das Unternehmen die hierarchische Struktur insgesamt beibehält. Dieser hybride Ansatz, der Inseln der Selbstorganisation in die herkömmliche Organisation einbettet, ist auch deshalb wegweisend, weil sich nicht alle Tätigkeiten für das Enterprise 2.0 eignen. Vielmehr bietet es sich vor allem für wissensintensive Arbeiten an.

Selbstorganisation macht viele Koordinationstätigkeiten des mittleren Managements entbehrlich. Daher zählt diese Gruppe nicht zu den größten Unterstützern des Enterprise 2.0.

Die Schaffung solcher Inseln der Selbstorganisation dürfte indes bei den weniger privilegierten Kollegen den Wunsch nach ähnlichen Arbeitsbedingungen hervorrufen, so dass Unternehmen die Parallelwelten unter einen Hut bekommen müssen. Gleichzeitig gibt es bei den Abteilungen, die dem Vorbild des Web 2.0 folgen, auch Verlierer und jene, die sich als solche fühlen.

Dazu zählt das mittlere Management, das einer Umfrage der ECM-Organisation AIIM zufolge eine solche Umstellung am wenigsten vorantreiben. Freilich könnte die mit dem Enterprise 2.0 einhergehende Transparenz auch im Fußvolk die erste Euphorie dämpfen, wenn die Leistung und die Kompetenz des Einzelnen für jeden ersichtlich werden.

Aushöhlung des Firmenkonzepts

Der traditionell hohe Aufwand für die Koordination und die Kommunikation, der nötig war, um Individuen in einen stark arbeitsteiligen Prozess einzubinden ("Transaktionskosten"), galt bis dato als wichtigstes Argument für hierarchische Organisationen. Anweisungen des Führungspersonals können dort relativ schnell Ressourcen für gewünschte Aktivitäten mobilisieren. Dies scheint angesichts von Teams, die sich mittels einfacher und allseits verfügbarer Collaboration-Tools selbst organisieren, immer fragwürdiger. Sie zeigen auch bei komplexen Vorhaben, dass dank der dramatisch gefallenen Koordinationskosten eine Zusammenarbeit auch für komplexe Vorhaben außerhalb von Unternehmen oder bürokratischen Einrichtungen möglich ist.

Zur Disposition stehen mit einer Umstellung Richtung Enterprise 2.0 auch scheinbar unabkömmliche Leistungen eines Unternehmens wie die Bereitstellung von Bürogebäuden oder Arbeitsmitteln. John Chambers, CEO von Cisco, rief bereits das Ende der firmeneigenen Geräte aus, VMware oder Citrix überlassen es ihren Angestellten, welchen Rechner sie erwerben möchten. Flexible Arbeitsmodelle reduzieren den Bedarf an Büros, die genau betrachtet auch nur Tools zur Koordination von Mitarbeitern sind, indem sie physisch an einem Ort versammelt werden.

Vieles deutet darauf hin, dass Unternehmen, die immaterielle Güter produzieren, sich zunehmend dem Modell von Online-Communities angleichen müssen, auch wenn dies scheinbar unumstößliche Organisationskonzepte in Frage stellt. Dabei können sie nicht nur von diesen Vorbildern profitieren, sondern müssen immer mehr mit ihrer Konkurrenz rechnen. Wer hätte denn noch vor einigen Jahren gedacht, dass lose organisierte Individuen über das Web nicht nur komplexe Betriebssysteme und aufwändige Enzyklopädien entwickeln, sondern auch den Banken das Kerngeschäft des Geldverleihs streitig machen könnten?