Online-Kollaboration

Web 2.0 ohne große Bodenhaftung

23.05.2008 von Hadi Stil
Für die Verfechter von Web 2.0, die großen Online-Anbieter, steht außer Frage: Die direkte Interaktion über das Internet wird das Kommunizieren, Arbeiten und Vermarkten revolutionieren. Doch ob ihre Offerten für die Unternehmen bringen, was sie versprechen, sich erst noch erweisen.

Nach Ansicht von Microsoft stecken in der Kollaboration via Internet für die Unternehmen wie für die Konsumenten gewaltige Potenziale. Der Softwarekonzern wittert in Web 2.0 ein gutes Geschäft. Demzufolge hat der Hersteller seine Flaggschiffe Windows und Office in seinen Live Labs mit neuen, interaktionsfähigen Online-Angeboten verknüpft.

Microsoft wird dabei getrieben vom Konkurrenten Google. Denn der bricht mit seiner Office-Suite, einem Teil von Google Apps, ins Marktterrain des Wettbewerbers ein. Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, ein Tool zum Erstellen von Präsentationen sowie E-Mail und Terminverwaltung gehören dazu. Für Privatanwender ist die Online-Offerte kostenlos. Die Business-Version für Unternehmen gibt es zum kleinen Preis: 50 Dollar pro Jahr, inklusive einer großen E-Mail-Inbox, einer Verfügbarkeitsgarantie von 99,9 Prozent und Push-Mail-Technik für Blackberry-Geräte. "Wir haben die Google Apps bewusst zu geringen Kosten eingeführt, um viele Firmen dafür zu gewinnen", sagt Google-Vorstandschef Eric Schmidt und lässt keinen Zweifel daran, wie er Microsofts Stammkundschaft abholen will. Solche Internet-gestützte Software bietet eine leichte Möglichkeit, mehreren Anwendern einen gemeinsamen Zugriff auf beispielsweise Dokumente und Kalender sowie Funktionen zur Online-Kommunikation einzurichten.

Web 2.0 ist beachtlich gereift

"Die gebotenen Web-2.0-Techniken haben eine beachtliche Reife", qualifiziert Peter Trimmel, verantwortlich für Technology-Monitoring im Web-2.0-Umfeld bei Siemens IT Solutions and Services. "Über die neuen Techniken von Firmen wie Google, Adobe und Microsoft rücken Kollaborationsfunktionen unter Browser-Oberfläche." Unterschiede, nämlich bei den Geschäftsmodellen, gebe es dennoch. Während Google mit Google Apps seine interaktiven Online-Dienste progressiv als Software-as-a-Service (SaaS) vermarktet, versucht Microsoft mit Office Live und Windows Live sowie dem Ansatz "Software plus Service" die Balance zwischen dem neuen und alten Softwareparadigma, dem Bestandsgeschäft, zu halten.

Christian Schumer, Bereichsleiter bei Materna und dort zuständig für das Thema SOA (Service-orientierte Architekturen), qualifiziert außerdem die Vernetzung von Personen und Funktionen über sämtliche Kommunikationsformen als hohe unternehmerische Herausforderung.
Foto: Christian Schumer

Überall dort, wo viele Konsumenten hinter einer Lösung stehen, lohne sich ein Web-2.0-Portal, beispielsweise in der Medienbranche. Er ist überzeugt davon: "Internet-basierende Online-Interaktionen werden die Geschäftsmodelle der Unternehmen beeinflussen." Dies vollziehe sich jedoch in Form einer sanften Evolution.

Beim Beratungs- und Systemintegrationsunternehmen Optaros sieht man die Entwicklung anders. "Noch 2008 werden zahlreiche Firmen damit beginnen, ihren Geschäftsauftritt in Richtung Web 2.0 zu transformieren", hofft Bruno von Rotz, Vice President for Strategy and Research bei Optaros. Die fortschreitende Konvergenz der Medien werde zu neuen, Internet-basierenden Mischformen führen. Dazu zählt Social Networking, also die Vernetzung von Personen. Ein weiterer Trend: Funktionen und Inhalte werden über kleine, aus dem Web ladbare Softwaremodule ("Widgets" oder "Gadgets") verbreitet. Zudem würden Offline-Anwendungen und hybride Online/Offline-Lösungen Web-2.0-Applikationen näher an die Nutzer rücken.

Marktforschung dämpft die Internet-Euphorie

Die Marktzahlen sprechen eine andere Sprache. Die Konsumenten, die interaktiv über ein Portal einbezogen werden sollen, sind der geschäftskritische Faktor. Nach dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom) kauften im Jahr 2006 die Deutschen Waren und Dienstleistungen im Wert von knapp über 40 Milliarden Euro im Internet ein. Für 2007 dürfte dieser Wert immer noch deutlich unter 50 Milliarden Euro liegen. Das sind nicht einmal vier Prozent des deutschen Gesamtkonsums im vergangenen Jahr. Vom Kaufverhalten hängt die Einnahmequelle Online-Werbung ab, die hilft, den Portalauftritt zu finanzieren. Der vom Bitkom für 2007 ausgewiesene Umsatz von 976 Millionen Euro mit grafischer Online-Werbung in Deutschland ist im Vergleich zum Gesamtwerbemarkt eine Marginalie. Selbst in den USA, wo Firmen deutlich mehr für Online-Werbung ausgeben als hierzulande, machte dieses Marktsegment 2007 nur fünf Prozent sämtlicher Werbeausgaben aus.

Laut Robert Heinrich, Partner und Head of Advisory Services bei Ernst & Young, adressieren Microsoft und Google mit ihrem Online-Auftritt die Breite des Marktes, die meisten Unternehmen nur ein mehr oder weniger kleines Marktsegment.
Foto: Ernst & Young

Robert Heinrich, Partner und Head of Advisory Services bei Ernst & Young, warnt deshalb zum aktuellen Zeitpunkt die Unternehmen vor einer betriebswirtschaftlichen Überbewertung dieser Techniken. "Microsoft und Google adressieren mit ihrem Online-Auftritt die Breite des Marktes, die meisten Unternehmen nur ein mehr oder weniger kleines Marktsegment." Interoperable Standards, wie sie gerade für das umfassende, kollaborative Szenario von den Unternehmen dringend gebraucht werden, seien absolute Mangelware. "Die Unternehmen werden sich erst dann mit Internet-Applikationen und -Tools ernsthaft beschäftigen, wenn der darüber generierbare Gewinn hinreichend groß ist", bemerkt Heinrich. Sobald es so weit ist, müssten die Unternehmen weniger technische als vielmehr konzeptionelle und organisatorische Vorarbeit leisten. "Firmen müssen die neuen vernetzten Kommunikations- und Vermarktungswege gedanklich durchdringen, auf ihr tatsächliches Umsatzpotenzial hin ausloten und die neuen interaktiven Möglichkeiten in ihre Organisation und in ihr Geschäftsmodell einpassen."

Vernetzung von Personen und Funktionen über Web-Kommunikation

Christian Schumer, Bereichsleiter bei Materna und dort zuständig für das Thema SOA (Service-orientierte Architekturen), qualifiziert außerdem die Vernetzung von Personen und Funktionen über sämtliche Kommunikationsformen als hohe unternehmerische Herausforderung. "Sie kommt einer Geschäftsprozessoptimierung gleich, nur auf weit höherem und komplexerem Niveau als die, die derzeit in vielen Unternehmen anläuft." Die Verknüpfung von Online- mit bestehenden Offline-Anwendungen sei ein wesentlicher Teil dieser großen Herausforderung. Damit meint er weniger die technische Integration. "Beide Softwareparadigmen, das alte und das neue, unter einen Hut zu bringen ist vor allem eine organisatorische und prozessorale Herausforderung."

Jürgen Pilz, Presales Manager Software bei Hewlett-Packard in Deutschland, kann dies nur unterstreichen. "Kollaborative Dienste und Angebote bedingen nicht nur eine veränderte Nutzung des Internet. Auch die organisatorische und technische Ausgestaltung des Geschäftsmodells müssen berücksichtigt werden." Wer via Web schneller mehr verkaufen wolle, indem die Kunden die Web-Angebote mitgestalten, müsse auch dafür sorgen, dass Online-Interaktion in der entsprechenden Qualität verfügbar ist. Pilz verweist auf stark schwankende Verkehrsaufkommen einschließlich flusskritischer Ströme wie Sprache und Videosequenzen und auf die Zunahme interaktiver Möglichkeiten. "Dies setzt bei der Projektierung ausgiebige Funktions- und Lasttests voraus." Darin müssten nahezu alle kollaborativen Szenarien inklusive der Client-Seite einbezogen werden. Dies umfasst Mitarbeiter, Kunde sowie Geschäftspartner. "Weil sich dynamische Web-Seiten dauernd ändern, sollten auch die daraus resultierenden Inhalte und Ströme für den Ladeprozess genau nachvollzogen und quantifiziert werden", rät Pilz. Besonderen Wert sollten Firmen ferner auf die Sicherheit der Web-Anwendungen legen. "Schon in der Entwicklungs- und Testphase muss die Grundlage für Web-Applikationssicherheit gelegt werden." Das werde heute selten berücksichtigt.

Inhalte statt Datenmüll

Frederique Segond, Area Manager Parsing & Semantics im Xerox Research Center Europe
Foto: Frederique Segond

Die Freizügigkeit des Internets - digital zu arbeiten, Daten von überall abzurufen, nahezu beliebige Botschaften zu kreieren und auszutauschen sowie mehr oder weniger willkürlich kollaborative Prozesse aufzusetzen - hat nicht nur Vorteile. "Wenn theoretisch jeder mit jedem kann, könnte das zu einem weiteren Niveau- und Inhaltsverlust führen", warnt Frederique Segond, Area Manager Parsing & Semantics im Xerox Research Center Europe. Sie nennt als Beispiel die aktuelle Generation der Suchmaschinen als Kernkomponente eines Portalauftritts. "Solange diese Maschinen zeichenfolgenorientiert arbeiten, werden sie mehr Datenmüll als werthaltige Informationen auswerfen." Diese Problematik werde durch Verweise auf Nebenergebnisse noch verschärft. Segond hat klare Vorstellungen davon, wie Suchmaschinen stattdessen funktionieren sollten. "Sie müssen in der Lage sein, die Bedeutung von Wörtern und Sätzen im Gesamtkontext zu erkennen." Genau an dieser semantischen Erkennung wird seit rund zwei Jahren im Xerox Research Center Europe gearbeitet. Digitale Dictionairies für Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch - eine Mischung aus Lexikon und Semantik-Wörterbuch - tun dafür im Hintergrund Dienst. Segond spricht von einer "bedeutungsvollen" Trefferquote von deutlich über 90 Prozent, die man bereits erreicht habe.