Digitalisierung

Was man von der Softwarebranche lernen kann - und was nicht

17.01.2018 von Philipp Depiereux
Die Softwarebranche gilt als Vorbild in Sachen Digitalisierung, andere Unternehmen können viel von ihr lernen. Und dennoch liegen Theorie und Praxis weit auseinander.

Im digitalen Zeitalter, so heißt es, werden nur diejenigen wirklich erfolgreich sein können, die ihr Kerngeschäft auf Internet und Technologie stützen. Ein Blick auf die Liste der weltweit teuersten Unternehmen bestätigt diesen Eindruck. Die Top 5 liest sich wie ein Verzeichnis der bekanntesten Technologieriesen - Apple, Alphabet, Microsoft, Amazon und Facebook. Unter den teuersten zehn Unternehmen basieren sieben auf einem digitalen Geschäftsmodell. Auch der deutsche Spitzenreiter - der Softwareanbieter SAP - ist ein Tech-Urgestein und landet immerhin auf Platz 62.

Vor allem in punkto Agilität können Unternehmen von der Softwarebranche Einiges lernen
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Muss ich jetzt auch zum Softwareanbieter werden?

Der Wettbewerb wird also schon heute von Software und Daten dominiert - mit steigender Tendenz. Viele Unternehmen stellen sich vor dem Hintergrund der digitalen Transformation deshalb die Frage, ob sie ebenfalls zum Softwareanbieter werden müssen, um langfristig bestehen zu können.

Sicherlich, Unternehmen müssen in Zukunft immer mehr Produkte und Services anbieten, bei denen die Software-Komponente eine entscheidende Rolle spielt. Technologien wie Cloud Computing, Künstliche Intelligenz oder das Internet der Dinge werden bereits in fast allen Branchen eingesetzt. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Unternehmen ihr Kerngeschäft von Grund auf ändern müssen. Dennoch können sie von der Softwarebranche einiges lernen.

Mehr Innovation durch Agilität und Startup-Kultur

Gerade in Sachen Unternehmenskultur nimmt die Technologiebranche eine Vorreiterrolle ein. Vor allem US-amerikanische Internetriesen wie Apple, Google oder Facebook pflegen häufig eine Unternehmenskultur und agile Form der Zusammenarbeit, die sie nicht nur bei Arbeitnehmern beliebt macht, sondern langfristig zu wirtschaftlichem Erfolg führt.

Dynamische Prozesse, flache Hierarchien und schnelle Entscheidungswege sind hier auch dann noch Teil der Firmen-DNA, wenn das Unternehmen die Startup-Phase längst hinter sich gelassen hat. Die meisten Softwareunternehmen fördern Kreativität und Innovation und handeln dabei stets umsetzungsorientiert. Wer schon mal gescheitert ist, gilt nicht als Verlierer, sondern als mutig und erfahren - eine Denkweise, von der auch konservative, etablierte Unternehmen anderer Branchen profitieren können.

Und auch an den Methoden der Technologiebranche sollten sich andere Unternehmen orientieren, wenn sie ebenso innovativ und disruptiv handeln wollen. Design Thinking und Lean Startup etwa gehören vor allem im Silicon Valley zu vielfach erprobten Ansätzen und haben einstige Startups wie Dropbox oder LinkedIn groß gemacht.

Auch das Konzept der Agilität ist ursprünglich eine Erfindung der Softwareentwicklung und wurde erst im Nachhinein auf andere Unternehmensbereiche ausgedehnt. Agile Entwicklungsmethoden verfolgen den MVP-Gedanken: Sie fokussieren auf ein Minimum Viable Product mit nur wenigen Basisfunktionalitäten, die auf die tatsächlichen Bedürfnisse des Kunden ausgerichtet sind. So können Projekte sofort und ohne Verzögerung starten.

Iterationen erfolgen dann gemeinsam mit den Kunden: Ihr Feedback fließt direkt in den weiteren Entwicklungsprozess mit ein und hilft dabei, das Produkt stetig zu optimieren. Die Vorteile liegen auf der Hand: Agilität ist nutzerorientiert und hilft Unternehmen, sich kontinuierlich an veränderte Kunden- und Marktanforderungen anzupassen.

Die Realität: Viel zu langwierig, viel zu teuer, viel zu perfekt

Soweit die Theorie. Umso erstaunlicher ist es, dass viele Softwareunternehmen genau den Faktor vergessen, der bei agilen Entwicklungsmethoden eigentlich im Fokus steht: den Nutzer. Gerade in Deutschland arbeiten Unternehmen - auch Softwareanbieter - noch immer vorwiegend nach Pflichten- und Lastenheft.

Von falsch verstandenem Perfektionismus getrieben, wird jahrelang in groß angelegten Projekten entwickelt und optimiert - oft im Geheimen und ohne auch nur einmal den Kunden nach seinen Wünschen und Bedürfnissen zu fragen. Das Ergebnis ist eine hoch komplexe “Monsterlösung”, die nach dem One-fits-all-Prinzip zwar viele Probleme löst, im Zweifel aber nicht genau die, vor denen der Kunde steht. Die Enttäuschung ist dann groß, wenn das vermeintlich perfekte Produkt nach dem Launch nicht von den Kunden angenommen wird.

Bestes Beispiel: Erst im vergangenen Jahr hatte die Bundesagentur für Arbeit ein millionenschweres IT-Projekt gestoppt. Die Software war vier Jahre lang entwickelt worden, bevor sich dann in ersten Tests zeigte, dass sie selbst minimalste Anforderungen - etwa die nachträgliche Änderung einer Kontonummer - nicht erfüllt. All das wäre mit einer nutzerzentrierten Herangehensweise vermeidbar gewesen. Hätte man den Kunden, also die Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit gefragt, welche Ansprüche er an die Software stellt, wäre zwar zunächst "nur" ein unfertiger Prototyp entstanden, den man aber dann kontinuierlich hätte optimieren können.

Digitale Transformation ist mehr als Software

Und auch in einer anderen Hinsicht ist eine zu starke Fokussierung auf die Softwarebranche eher kontraproduktiv. Denn gerade wenn Unternehmen zu sehr auf die Softwarebranche schielen, machen sie oft den Fehler, Digitalisierungsprojekte mit IT-Projekten gleichzusetzen.

Aussagen wie "Wir haben jetzt ein ERP-System, also sind wir digital" werden zum Mantra all jener, die die Ausmaße der digitalen Transformation nicht verstanden haben. Denn Digitalisierungsprojekte betreffen das gesamte Unternehmen - von Geschäftsmodellen über Prozesse bis hin zur Unternehmenskultur.

Technologie und Software sind ein wichtiger Faktor, aber längst nicht der einzige. Unternehmen machen also einen großen Fehler, wenn sie die IT-Abteilung mit der Aufgabe betrauen, die gesamte Organisation ins digitale Zeitalter zu führen. Stattdessen müssen Geschäftsführung und Vorstand die Treiber und Manager der digitalen Transformation werden - mit der IT alleine ist es nicht getan. (mb)