Digital Analytics Association

Warum Industrial Analytics zu einer Kerndisziplin wird

19.12.2016 von Jan Schulze
Der Digital Analytics Association e.V. hat eine Studie angestrengt, um herauszufinden, wie es um die Datenkompetenz deutscher Industrieunternehmen bestellt ist. Laut Vorstandsmitglied Frank Pörschmann ist die Relevanz der Datenanalyse erkannt, doch es fehlt an Standards und Experten.
  • Die Auswertung von IoT-Daten wird zu einer erfolgskritischen Disziplin in Fertigungsunternehmen
  • Nicht alle CEOs haben erkannt, was Perfektion in der Datenanalyse wert sein kann
  • Die Probleme liegen eher im Daten-Management als im Analytics-Bereich

Die Begriffe Internet of Things (IoT), Industrie 4.0 und Big Data sind hinlänglich bekannt. Jetzt taucht mit Industrial Analytics ein weiteres Schlagwort auf. Worum geht's?

Pörschmann: Industrial Analytics wird zuweilen als Synonym zu IoT-Analytics genutzt. Gemeint ist die Auswertung der in der Industrie anfallenden Daten - unabhängig davon, ob sie von Maschinen generiert werden oder aus der Interaktion zwischen Mensch und Maschine stammen. Was im Web längst Alltag ist, hält nun Einzug in die Welt der Sensoren, sei es in der Fabrik, im Auto oder der Kaffeemaschine.

Frank Pörschmann ist Vorstand der Non-Profit-Organisation Digital Analytics Associations e.V. Deren Ziel ist die Förderung der Datenkompetenz in Forschung, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Pörschmann war zuvor Vorstand der Deutschen Messe AG in Hannover, wo er die CeBIT verantwortete.

Nahezu jeder von uns wirft im Netz einen digitalen Schatten, der von Algorithmen - mal mehr mal weniger intelligent - analysiert und verfolgt wird. Ähnliche Entwicklungen erleben wir nun auch im industriellen Umfeld. Maschinen, mit immer mehr Sensoren bestückt und vernetzt, kommunizieren und interagieren mit Menschen und anderen Maschinen. Schon heute nutzen Sensoren das Twitter-Protokoll, Social-Media-Lösungen werden zur Verteilung von Maschinendaten genutzt und die ersten Facebook-für-Maschinen-Plattformen sind aktiv. Aller Voraussicht nach werden Maschinen mehr Daten generieren als heute die Menschen. Diese zu analysieren und intelligent zu befragen, wird eine - vielleicht sogar entscheidende - Disziplin im Zuge von Industrie 4.0.

Muss die rasante Entwicklung im Bereich Industrial Analytics den CEOs von Industriekonzernen schlaflose Nächte bereiten?

Pörschmann: Der CEO sollte zumindest aufpassen, dass er den Trend nicht verschläft. Die Fähigkeit, Daten der eigenen Produkte und Dienstleistungen weltweit zu sammeln, zu prüfen, zu analysieren und daraus Entscheidungen abzuleiten, ist ein unternehmerischer Reifeprozess. Unsere aktuelle Studie von der Digital Analytics Association zeigt: Gerade einmal einem Drittel der Unternehmen gelingt es heute, relevante Erkenntnisse aus ihren aktuellen Daten zu gewinnen. Fünf Jahre zur Entwicklung einer grundsätzlich neuen, zusätzlichen Kernkompetenz sind schnell vorüber.

Big Data ist ein Organisationsthema

Überall kommt die Forderung auf, der CEO selbst müsse sich um die digitale Transformation kümmern. Gilt das auch für das vermeintliche Fachthema Analytics?

Pörschmann: Laut unserer Studie ist der CEO bereits in 34 Prozent der Unternehmen die treibende Kraft. Datenkompetenz wird zu einem kritischen Erfolgsfaktor der digitalen Transformation. Der CEO muss dafür Sorge tragen, dass die erforderlichen Kompetenzen, Fähigkeiten und Ressourcen für die Datenanalyse im Unternehmen aufgebaut und systematisch verankert werden. Klaus Straub, Group CIO von BMW, sagte einmal: "Big Data ist vor allem eine Frage der Organisationsentwicklung". Dem stimme ich uneingeschränkt zu.

Lassen Sie uns konkret werden. Welche Wettbewerbsvorteile erwarten Unternehmen von Industrial Analytics?

Pörschmann: Da war ich selbst etwas überrascht. Ich hatte erwartet, dass derzeit Kosteneinsparungen im Vordergrund ständen. Viele Industrieunternehmen beabsichtigen aber, durch weitere Optimierungen und Automatisierung Ressourcen für Innovationen freizusetzen. Nicht einmal vier Prozent gaben in der Studie Kosteneinsparungen als größten Mehrwert der Industrial Analytics an. Spitzenreiter sind Umsatzsteigerung und höhere Kundenzufriedenheit. Den dritten Platz belegt der Wunsch nach einer besseren Produktqualität. Allein diese drei Punkte kommen zusammen auf 66 Prozent. Neue Geschäftsmodelle, schnellere Service-Prozesse, vorbeugende Wartung anhand gesammelter Daten - die Industrie hat hohe und aus meiner Sicht auch sinnvolle Erwartungen an Industrial Analytics.

"Unternehmen kommen nur schwer an ihre Daten"

Wo liegen nach Ihrer Erfahrung und aufgrund der Studienergebnisse die Hürden?

Pörschmann: Hier stehen drei Aspekte im Vordergrund. Zum einen sind es die Daten selbst. Zweitens die Kompetenz, diese in Entscheidungen zu überführen, und drittens der eklatante und zunehmende Engpass an Experten.

Was meinen Sie mit "die Daten selbst sind bereits die Hürde"?

Pörschmann: Aktuell kommen die meisten Unternehmen nur schwer an ihre eigenen Daten. Die Herausforderung liegt immer noch darin, die diversen Datenformen aus verschiedenen Quellen und Netzen mit unterschiedlichen Qualitäten zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu einer Basis zusammenzuführen. Der Wunsch ist oft, Maschinen- und Umwelt-Sensordaten, Kunden-Interaktionsdaten und dergleichen so zusammenzuführen, dass idealerweise alle erdenklichen Analysen darauf vorgenommen werden können. Das aber ist weder realisierbar noch wirtschaftlich sinnvoll. Unternehmen müssen sich schon vorher darüber im Klaren sein, wie ihre 'Data Strategy' aussehen soll.

Es fehlt an Standards

Viele Unternehmen haben in den vergangenen Jahren umfangreiche Big-Data-Projekte gestartet. Warum ist das immer noch eine Herausforderung?

Pörschmann: Die Probleme beginnen nicht bei Analytics, sondern schon beim Daten-Management. Daten stehen quasi an einer Staumauer und sollen kanalisiert werden. Das ist sinnvoll, schon allein aus Kostengründen. Gleichzeitig fehlt es aber besonders im Umfeld der Industrie an Standards, in welcher Form die erzeugten Daten vorliegen sollen und wie sie aggregiert, aufbereitet und verarbeitet werden können. Unserer Studie zufolge beklagen 78 Prozent der Befragten, dass die Interoperabilität der Systemkomponenten bei Analytics-Projekten herausfordernd sei. Die Hälfte sieht bei der Integration in bestehende Unternehmenslösungen Schwierigkeiten.

Ergeben Big-Data-Technologien aus Kostengründen Sinn? Zuvor sagten Sie, die Innovationen ständen im Mittelpunkt, nicht die Kostenreduzierung.

Pörschmann: Exakt! Sie müssen zwischen den Datentechnologien und der geschäftlichen Nutzung der Daten streng unterscheiden. Bei der Analyse der Daten steht Innovation im Vordergrund, das zeigt unsere Studie. Gleichzeit haben wir die Unternehmen nach den Kostenstrukturen von Datenprojekten befragt. Das Ergebnis: Ein Viertel der Kosten entfällt auf Software und Anwendungsentwicklung. Über 20 Prozent der Budgets werden für den Zugang zu den Daten aufgewendet, über 17 Prozent für Aufbereitung und Aggregation dieser Daten. Die reine Analyse hingegen benötigt nicht einmal 15 Prozent der Mittel, die Interpretation der Ergebnisse gerade einmal gut sechs Prozent.

Umgekehrt bedeutet das: Ist die technologische Basis einmal bereit und erprobt, sind auch die größten Kostenblöcke abgehakt. Das heißt, die Investitionen in Big-Data-Plattformen rechnen sich über die spätere systematische und dann auch skalierbare Erbringung von Datendiensten.

Wenn Analysen dazu dienen sollen, Entscheidungen zu unterstützen oder zu automatisieren, kann man dann nicht gleich die ganze Analyse automatisieren?

Pörschmann: In der Tat ist das aus meiner Erfahrung ein nicht selten geäußerter Wunsch von Unternehmen: 'Nehmen Sie unsere Daten und sagen Sie uns, was wir noch nicht wissen und was zu tun wäre.' Nicht selten besteht auch bei Top-Entscheidern der Glaube, ein einfacher Knopfdruck genügte und alle Probleme sind gelöst - selbst die so genannten "unknown Unknowns".

Fakt ist: Ja, man kann die Daten sprechen lassen. Aber systematische Analysen erfordern immer eine Zielsetzung, beziehungsweise eine zu untersuchende Hypothese. Unserer Studie zufolge gehen dementsprechend 64 Prozent der Unternehmen mit klar formulierten Hypothesen an Industrial Analytics heran. Dem gegenüber stehen 34 Prozent, die explorativ vorgehen - also mögliche Problem- und Fragestellungen zunächst offenlassen und die Möglichkeiten experimentell ausloten.

Eklatante Lücken bei Experten

Sie beklagten vorhin, dass ein zunehmender Engpass an Experten für Industrial Analytics zu erwarten ist. An welchen Profilen fehlt es denn?

Pörschmann: Wir als Verband beobachten schon seit einiger Zeit einen massiven Mangel an Fachleuten. Das hat auch die Studie nun belegt. Von den befragten Unternehmen sagen nur 22 Prozent, dass sie alle benötigten Skills an Bord haben. Eklatante Lücken sehen wir bei Experten für Data Science, für maschinelles Lernen und bei den IoT/M2M-Infrastrukturen.

Technologische Standards, Datenqualität - das ist alles lösbar. Die große Frage ist aber: Wo kommen die Fachkräfte her? Wer bildet sie aus? Im akademischen Bereich finden Sie kaum Studiengänge, die Data Science oder Machine Learning in den Mittelpunkt rücken. Auch die Unternehmen halten sich noch sehr zurück. Dabei wird es in den kommenden Jahren ein kritischer, wettbewerbsrelevanter Faktor für sie sein. Da fehlt es auch an Wissen in den oberen Etagen: Führungskräfte müssen verstehen, wie sie solche Expertenteams zusammenstellen und leiten. Datenkompetenz hat sich längst zu einer zusätzlichen Führungsdisziplin entwickelt

Im Vorwort zur Studie stellen Sie die These auf, dass sich Industrial Analytics von einer isolierten Business-Funktion zu einer strategischen Fähigkeit entwickeln wird. Was macht Sie da so sicher?

Pörschmann: Es ist der Blick in die USA. Wir müssen den amerikanischen Unternehmen einen drei- bis fünfjährigen Vorsprung attestieren. Dort haben sich mittlerweile sogar Standards etabliert, um die Datenreife von Unternehmen zu messen. Das ermöglicht den Vergleich der eigenen Datenfähigkeiten mit denen des Wettbewerbs und damit auch einen marktbezogenen Ausbau neuer Datenfähigkeiten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir solche Reifegrad-Benchmarks auch hierzulande finden. Ich persönlich hoffe, dass sie dann die Handschrift der hiesigen Industrie tragen werden. Wir zumindest arbeiten derzeit mit vollem Eifer daran.