VW findet das Gold in den Prozessen

28.11.2001 von Christian Zillich
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - E-Business-Flaute? Nicht bei VW. Der Automobilkonzern wickelt 80 Prozent seines Beschaffungsvolumens online ab und hat die Projektkosten, einen Euro-Betrag in zweistelliger Millionenhöhe, bereits wieder eingespielt.

Die Eigenbrötler scheinen Recht zu behalten: Als der Volkswagenkonzern in den vergangenen beiden Jahren des Öfteren zu Protokoll gab, sich nicht an Covisint, dem von General Motors, Ford und Daimler-Chrysler gegründeten Marktplatz für die Automobilindustrie, zu beteiligen, wurde er dafür belächelt. Viele Beobachter rechneten damit, dass auch VW seinen Alleingang aufgeben würde, insbesondere nachdem sich weitere Automobilhersteller wie Renault, Nissan, Toyota und zuletzt PSA Peugeot Citroën Covisint angeschlossen hatten.

Stattdessen präsentierten die Wolfsburger nun unter dem Namen „VW Group Supply.com“ selbstbewusst ein neues Zuliefererportal. Es führt verschiedene Anwendungen, die zum Teil schon seit mehr als 18 Monaten im Einsatz sind, unter einer gemeinsamen Oberfläche zusammen. Im Einzelnen umfasst dieser elektronische Lieferanteneingang:

ein Tool für die digitale Abwicklung von Ausschreibungen und die Angebotsauswertung,

die Möglichkeit, bestimmte Teileumfänge per Online-Auktion zu verhandeln,

ein Katalogbestellsystem,

das Kapazitätenplanungssystem „E-Cap“

sowie die Web-basierte Abfrage von Normen, Richtlinien und Qualitätsstandards zur Herstellung von Fertigungsmaterialien, kurz „Online-Normtexte“.

Damit ist der Autobauer dem von Strategievorstand Jens Neumann formulierten Ziel, „durch Internet-basierte Informationssysteme sämtliche Geschäftsprozesse lückenlos zu verknüpfen“, zumindest bei der Zusammenarbeit mit den Zulieferern ein gutes Stück näher gekommen.

Stolz verweisen die VW-Granden auf ihre aktuelle Bilanz: Rund 80 Prozent des gesamten Beschaffungsvolumens von 50 Milliarden Euro würden bereits online über die Supplier-Relationship-Plattform abgewickelt. Und die für das Projekt aufgelaufenen Kosten, ein Euro-Betrag in zweistelliger Millionenhöhe, habe man durch Einsparungen bei Prozess- und Materialkosten früher als erwartet wieder hereingeholt. „Das Gold liegt in den Prozessen“, so das Fazit Neumanns.

Im Hinblick auf das Erreichen der selbst gesteckten Ziele habe es sich als Vorteil erwiesen, nicht mit einem anderen Hersteller zu kooperieren oder an Covisint teilzunehmen: „Wenn es gilt, interne Prozesse zu optimieren, kann dies mit einer eigenen Plattform schneller und besser realisiert werden“, so Francisco Javier Garcia Sanz, VW-Konzernvorstand für Konzernbeschaffung.

Das Nein zu Covisint

Fünf Gründe für VW, sich nicht an Covisint zu beteiligen:

VW muss sich nicht mit den Geschäftsprozessen von Konkurrenten befassen;

eine Kooperation führt zu Ergebnissen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und muss daher hinter optimalen Lösungen zurückbleiben;

der Konzern ist mit 50 Milliarden Euro Einkaufsvolumen auch alleine für Zulieferer attraktiv genug;

es müssen keine Transaktionsgebühren erhoben werden;

Konkurrenten können keinen Einblick in sensible Daten erlangen.

Schwierige Anbindung von Legacy-Systemen

Auch ohne diesen zusätzlichen Hemmschuh verlief die Entwicklung der Plattform nicht immer reibungslos. Wie Neumann einräumte, bestand die besondere Herausforderung darin, die komplexe Wertschöpfungskette der Automobilindustrie in den Softwareprodukten abzubilden und mit den Legacy-Systemen zu verbinden: „Die größte Schwierigkeit bei der Angelegenheit ist das Schnittstellen-Management und die Erstellung der Middleware.“ Inzwischen ist das Problem mit dem Einsatz der Middleware-Plattform „Websphere“ des Technologiepartners IBM anscheinend gelöst.

Auch das ambitionierte Projekt für das Kapazitäten-Management, „E-Cap“, kämpfte mit einigen Schwierigkeiten. Die Lösung basiert zu rund 80 Prozent auf den Backend-Systemen des Automobilkonzerns. Dem Anbieter von Supply-Chain-Management-Applikationen i2 Technologies wurde die Entwicklung des Frontends übertragen. „Da waren auf beiden Seiten Lernprozesse notwendig“, so Martin Hofmann, Leiter der Konzern-Beschaffungsplanung und -strategie sowie Projektleiter B2B Marktplatz.

Kapazitäten-Management mit 1500 Zulieferern

Softwareanbieter würden häufig die Komplexität in der Automobilbranche unterschätzen. Allein die Zahl der zu verwaltenden Einzelteile, Komponenten und Verbindungen sei hier extrem hoch. Außerdem fertige VW mehr als 85 Prozent seiner Fahrzeuge im Build-to-Order-Verfahren. „Hinzu kommt, dass viele Softwareunternehmen in der aktuellen Situation nicht mehr über so viele Kundenkapazitäten und finanzielle Ressourcen verfügen wie noch vor einem Jahr“, ergänzte Hofmann mit Blick auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten von i2.

Mittlerweile wurden offenbar die technischen Probleme weitgehend überwunden. 200 Lieferanten sind bereits eingebunden, im ersten Quartal 2002 sollen 200 weitere hinzukommen. Der Planungszeitraum reicht von vier Tagen bis zu 24 Monaten. Der Zulieferer benötigt lediglich einen Internet-Zugang, sein Passwort und die entsprechenden Teilenummern.

Laut Hofmann hätte es keinen Sinn, alle 5500 Lieferanten in das System aufzunehmen: „Insgesamt planen wir, 1500 Zulieferer einzubinden. Dabei sind es nicht technische Aspekte, welche die Anbindung weiterer Partner bestimmen, sondern vielmehr unsere Schulungskapazitäten.“

Ebreviate bootet i2 und Ariba aus

Vergleichsweise problemlos lief die Einführung einer Online-Auktionslösung: Darüber hat der Konzern im Lauf dieses Jahres bereits 600 Auktionen im Wert von insgesamt zwölf Milliarden Euro abgeschlossen, 4000 Zulieferer nahmen teil. Die Software stammt von der EDS-Tochter Ebreviate. Bei der Auswahl habe sich das amerikanische Unternehmen gegen die Angebote führender Softwarehersteller durchgesetzt, so Hofmann.

Pikantes Detail: Zu diesen „führenden“ Softwareunternehmen zählen auch die bereits an anderen Teilen des Projektes beteiligten Software-Partner i2 und Ariba. Sie kamen jedoch nicht zum Zug, obwohl sie entsprechende Lösungen in ihrem Portfolio haben.

Beide arbeiteten zu Beginn des Projekts zusammen mit IBM noch in einer viel beworbenen Dreierallianz zusammen. Diese Kooperation zerbrach jedoch Anfang des Jahres, nachdem Ariba und i2 begonnen hatten, im Revier des jeweils anderen zu wildern. Auch bei VW hatte man beschlossen, das Projekt mit den drei Partnern gemeinsam anzugehen. Mittlerweile hat der Konzern mit den Beteiligten separate Verträge abgeschlossen.

Aufgrund ihrer Marktmacht und Bedeutung als wichtiger Referenzkunde, haben die Wolfsburger unter dem Bruch der Kooperation offenbar nicht gelitten: „Wir haben klar gesagt, dass es keine Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit uns geben darf. Das war bisher auch der Fall“, fasst Garcia Sanz zusammen.

Abstimmung mit Supplyon

Für den weiten Weg zum durchgängigen „Volkswagen E-Web“ formulierte Chefstratege Neumann zwei Schwerpunkte. Der Konzern will sich nicht nur auf der Zuliefererseite engagieren, sondern über ein Customer-Relationship-Mangement-(CRM-) System zuerst die Händler und Importeure integrieren. Da sich Vorteile auf der CRM-Seite jedoch schwerer quantifizieren ließen, wolle man zunächst das Supply-Chain-Management (SCM) intensivieren, ohne CRM fallen zu lassen, so Neumann. Vor allem die Web-basierte Zusammenarbeit beim Design und der Entwicklung neuer Komponenten liegt dem Konzern am Herzen.

Dass der Automobilbauer trotz seines Neins zu Covisint nicht völlig losgelöst von anderen E-Business-Initiativen arbeiten will, zeigt die zusammen mit der Präsentation von VW Group Supply.com angekündigte Abstimmung mit dem elektronischen Marktplatz der Automobilzulieferer Supplyon. Dieser repräsentiert laut Hofmann rund 80 Prozent des deutschen Zulieferermarktes und verfügt über den Zugriff auf die Lieferanten der zweiten bis auf die unterste Ebene. Ziel der Zusammenarbeit ist, sich über Datenformate und vereinfachte Schnittstellen zu verständigen, um auch die Kommunikation mit den nachgelagerten Zulieferern transparenter, schneller und kostengünstiger abwickeln zu können.

„Wir haben den Hype nie mitgemacht“

Interview mit Francesco Javier Garcia Sanz, VW-Konzernvorstand für Beschaffung

CW: Spüren Sie die Auswirkungen der E-Business-Flaute?

Garcia Sanz:

„In Zukunft muss ein Lieferant, der mit uns zusammenarbeiten will, marktplatzfähig sein.“

GARCIA SANZ: Ich würde nicht von einer Flaute sprechen, sondern eher von einer Rückkehr auf den Boden der Tatsachen. VW hat bei dem Hype nie mitgemacht. Wir haben zuerst beobachtet, was E-Business in Bezug auf die Verbesserung unserer Prozesse leisten kann. Mit diesem pragmatischen Ansatz sind wir sehr weit gekommen. Wir sind der erste Automobilhersteller, der 5.500 Lieferanten vernetzt hat und der über eine Konzernplattform verfügt, über die 3.600 Einkäufer kommunizieren. Das hat sonst noch keiner erreicht.

CW: Also war die Entscheidung, sich nicht an Covisint zu beteiligen, richtig?

GARCIA SANZ: Das bis heute Erreichte zeigt uns, dass wir alleine schneller sind, unsere Prozesse besser optimieren können als mit anderen zusammen und mit 50 Milliarden Euro Einkaufsvolumen so groß sind, dass es interessant ist, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir verfolgen zwar, wo Covisint steht, glauben aber, den richtigen Weg gegangen zu sein.

CW: Verhandeln Sie mit Covisint über einheitliche Standards für den Datenaustausch?

GARCIA SANZ: Nein. Auf einer Veranstaltung der Vereinigung von Automobilzulieferern Clepa gab es Gespräche von VW-Mitarbeitern mit Covisint. Es existiert jedoch weder eine Annäherung oder eine Zusammenarbeit mit Covisint, noch besteht die Absicht, sich an Covisint zu beteiligen.

CW: Arbeiten Sie mit anderen Marktplätzen zusammen?

GARCIA SANZ: Wir werden uns mit Supplyon abstimmen, aber nicht kooperieren, verschmelzen oder uns beteiligen, sondern einfach als private Marktplätze zusammenarbeiten. Dafür haben wir einen Prozess initiiert, der unsere Schnittstellen vereinfachen und vereinheitlichen soll.

CW: Planen Sie, darüber auch mit Zulieferern unterhalb der First-Tier-Ebene in Kontakt zu treten?

GARCIA SANZ: Genau deshalb arbeiten wir mit Supplyon zusammen. Dieser Marktplatz vernetzt ja die First-Tier-Zulieferer mit anderen, runter bis zum Tier-n. Das Ziel ist die Schaffung von Schnittstellen, die es erlauben, Informationen von VW bis hin zu den nachgelagerten Zulieferern auszutauschen.

CW: Es kursieren Zahlen, zwei Drittel der großen Zulieferer hätten keine Strategie zur Beteiligung an Marktplätzen. Woran liegt das?

GARCIA SANZ: Daran, dass sie sich nicht damit beschäftigen. Wir haben unsere Zulieferer früh in das Projekt eingebunden und darauf hingewiesen, dass sie sich mit dem Werkzeug auseinander zu setzen haben. In Zukunft muss ein Lieferant, der mit uns zusammenarbeiten will, marktplatzfähig sein.

CW: Was raten Sie den Zulieferern?

GARCIA SANZ: Sie sollten ihre Prozesse transparent machen, abbilden und Internet-fähig gestalten. Dabei sehen Sie dann auch, wo ihre Kosten liegen.

CW: Sie sprachen von einer Win-Win-Situation. Liegen die großen Vorteile nicht eher auf der Seite von VW, da Sie die Standards vorgeben?

GARCIA SANZ: Natürlich gibt VW die Standards vor, das ist nun mal so. Im Endeffekt müssen sowohl wir wie auch die Lieferanten Kosten reduzieren.

CW: Wo liegen die Vorteile für die Lieferanten?

GARCIA SANZ: Wie bei VW in der Optimierung von Prozessen.