Erfolgskritische IT bei Energieversorgern

Vom Zählpunkt zum Referenzkunden

07.10.2014 von Harald Ederer
Energieversorger stecken in der Klemme: Sie müssen Bestandskunden halten, Neukunden gewinnen, ihre IT-Systeme flexibilisieren und zudem noch Kosten sparen. Nur mit den richtigen Prioritäten lässt sich verhindern, dass die Spannung abfällt.
Das deutsche Stromnetz ist etwa 1,78 Millionen Kilometer lang und teilt sich auf in 1,16 Mio. km Niederspannungsebene, 507.210 km auf die Mittelspannung und 76.279 km auf die Hochspannungsebene sowie 35.708 km Höchstspannungsnetze. (Quelle Wikipedia.org)
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Rund 16 Jahren nach der Liberalisierung des deutschen Strommarkts haben sich die ehemaligen "Zählpunkte" zu echten Kunden entwickelt, und die Kräfteverhältnisse im Markt wurden ein Stück weit verändert. Über ein Drittel der deutschen Haushalte haben seit 2005 ihren Stromanbieter gewechselt, berichtet der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), bei den privaten Gaskunden ist es rund ein Viertel. Und inzwischen arbeiten mehr als 1.100 Stromanbieter hierzulande gegeneinander, um aus den "Zählpunkten" zufriedene eigene Kunden zu machen.

Die drängendsten Handlungsfelder der vielfach mittelständischen Anbieter sind offensichtlich: Markenbildung, Angebotstransparenz und Kostendruck. Schließlich sind die Margen der Vergangenheit heute nicht mehr realistisch. Dies liegt daran, dass sich viele Firmenkunden im Rahmen der Energiewende durch Blockheizkraftwerke und Solaranlagen zu Selbstversorgern weiterentwickelt haben und selbst überschüssige Energie einspeisen. Für andere Sonderkunden wiederum hat die Liberalisierung und der dadurch entstandene Wettbewerbsdruck im Energiemarkt die Chance eröffnet, den Einkaufspreis zu drücken. Eine derartige Entwicklung war in der Industrie und dem Dienstleistungsbereich seit Jahren bekannt, nur für viele Energieversorger kam das Thema - so wirkt es zumindest - relativ überraschend auf.

Die Marktmacht der Privatkunden

Sukzessive rückte der Privatkunde in den Mittelpunkt des Interesses. Das Geschäft rechnet sich zwar nicht so gut wie einst die Sonderkunden, aber die Masse macht's, vor allem über eine lange Vertragsbindung. Allerdings ist absehbar, dass auch hier die Margen schrumpfen werden - Vorreiter ist die Telekommunikationsbranche, in der die Preise erodieren und es zu Kündigungswellen, Umstrukturierungen und Übernahmen kommt. Somit stehen die Energieversorger vor einer gewaltigen Aufgabe: Sie müssen ihre Kosten während des Preisverfalls stetig anpassen, ihre Prozesse beschleunigen, neue Geschäftsmodelle entwickeln, den Automatisierungsgrad steigern, die IT flexibilisieren, das Service-Portfolio optimieren und die eigene Marke ausbilden.

Viele Energieversorger sind diese Hausaufgaben aktiv angegangen, wobei sie den Schwerpunkt auf die Verbesserung der eigenen Effizienz gelegt haben. Dabei wurden jedoch die Interessen und die Macht der Kunden verdrängt: Diese legen Wert auf schnellen Service, einen fairen Preis sowie transparente Angebote und Geschäftsbedingungen. Und sie wollen einem Energieversorger in erster Linie vertrauen können - also wissen, dass es der beste Lieferant nach Kosten und Leistungen ist. Diese Botschaft ist häufig noch nicht angekommen, viele Kunden sind daher noch "passive" Kunden: Sie sind nicht wirklich zufrieden mit ihrem alten Partner, aber sie haben Angst vor den potenziellen Nachteilen eines Wechsels oder sind nicht über ihre Verbraucherrechte sowie Alternativen informiert.

Undurchsichtige und schwer nachvollziehbare Stromrechnungen tragen nicht zur Vertrauensbildung bei den Kunden bei.
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Überhaupt ist es nicht gut bestellt um die Transparenz in der Branche. Eine Verbrauchsabrechnung pro Jahr ist ein Anachronismus, zudem weiß kaum ein Kunde, welchen Arbeitspreis er beim Strom bezahlt. Unklar ist: Was habe ich im März verbraucht, wo könnten wir sparen, welcher Tarif wäre für uns ideal? Energieversorger können das Thema Transparenz aussitzen, aber eines Tages wird ein Wettbewerber auf der Bühne erscheinen, der die Fragen des Kunden beantworten kann. Beim Mobiltelefon hat der Kunde die Preise der SMS und MMS ebenso wie eine Gesprächsminute gelernt, bis schließlich die Flatrates aufkamen. Beim Strom wird sich der Markt mittelfristig ähnlich entwickeln.

Darüber hinaus könnte die Entwicklung von Smart Meters und deren Einsatz in Privathaushalten aus Sicht der Wissenschaft einen Beitrag zu einer nachhaltigeren Gesellschaft leisten, sagt Prof. Jorge Marx Gómez, Wirtschaftsinformatiker an der Universität Oldenburg. "Eine Veränderung des Nutzerverhaltens durch die Rückkopplung der aktuellen Preise und Verfügbarkeiten über mobile Endgeräte kann dazu beitragen, die aktuell notwendigen Speicherkapazitäten in den Energienetzen auf ein Minimum reduzieren und somit zu einer Kostenreduktion führen." Gerade hinsichtlich der Energie- und Materialeffizienz sowie der Verfügbarkeit der kritischen Ressourcen würde dies zu einem Mehrwert für Deutschland und somit für die EU führen.

Der Schlüssel liegt in der IT

Um Prozesse automatisiert, flexibel und kundenorientiert zu gestalten, liegt der Schlüssel in der IT. "Die Zukunft gehört einem übergreifenden Energiemanagement, das alle Prozesse mit Hilfe digitaler Daten steuert und optimiert", schreibt die Beratungsgesellschaft Steria Mummert in ihrem aktuellen "Branchenkompass Energieversorger". Es geht weniger darum, die klassischen ERP-Systeme weiter auszureizen und Werteflüsse anzupassen. Vielmehr müssen die Türen für alle unstrukturierten Information etwa aus Wechselprozessen, E-Mails und CRM-Kampagnen in das Unternehmen geöffnet werden.
Wenn der Kündigungsprozess im Internet stattfindet, muss das Formular in der App zu einer strukturierten Ebene im System gelangen, wo es verarbeitet und rechtssicher wiederhergestellt werden kann. Nicht nur in der Energiebranche wird das Thema der Verbindung strukturierter und unstrukturierter Daten seit Jahren stiefmütterlich behandelt, und Unternehmen sollten sich zu Herzen nehmen: Enterprise-Content-Management (ECM) ist genauso wichtig wie Enterprise-Ressource-Planning (ERP).

Darüber hinaus werden heute noch viele IT-Systeme aufgebaut, deren Ergebnisse kaum Bezug zum Kunden haben. Anstatt sich zuerst Gedanken über die tatsächlichen Kundenbedürfnisse zu machen, entwickelt man Systemlandschaften aus Sicht der internen Abläufe. Auch fehlt es an einem automatisierten Berichtswesen, um das Geschäft zeitnah zu steuern und Entscheidungen treffen zu können. Stattdessen ziehen die Fachbereiche weiterhin aus allen Datentöpfen einzelne Management-Berichte - eine Rückkopplung aus den Entscheidungen der Kunden findet nicht oder nur mit großen Verspätungen statt. Gerade von der Website oder den sozialen Netzwerken kann man umgehend die spezifischen Interessen von Bestands- oder Neukunden erfahren.

Zusammen mit vorhandenen Kundendaten lassen sich gezielte Angebote unterbreiten, die auf die Bedürfnisse des jeweiligen Haushalts zugeschnitten sind. "Energieversorger könnten durch Smart Meter und eine performante IT-Landschaft in die Lage versetzt werden, einen engeren Kontakt zu den Kunden und Ihren Bedürfnissen aufzubauen", argumentiert der Oldenburger Wirtschaftsinformatiker Marx Gómez. Denkbar sei beispielsweise ein Service, bei dem ein Überangebot an erneuerbaren Energien an den Kunden über mobile Endgeräte übermittelt wird. Neben der effizienteren Nutzung der verfügbaren Energie und geringeren Kosten für den Kunden kann dieser dazu geführt werden, Stromkosten etwa in Mobilitätsentscheidungen einzubeziehen.

Das sind die größten Stromverbraucher weltweit
Platz 10: Südkorea
Südkorea ist auf dem zehnten Platz der größten Stromverbraucher der Welt. Das Land versorgt sich laut der US-Informationsbehörde CIA komplett selbst, importiert also keinen Strom. Seinen Strom erzeugte Südkorea im Jahr 2010 zu fast einem Drittel mit Atomkraft, bis 2024 soll sie fast 50 Prozent der Stromproduktion ausmachen.
Platz 9: Brasilien
Neungrößter Stromverbraucher ist Brasilien. In dem südamerikanischen Land leben 200 Millionen Menschen.
Platz 8: Frankreich
Als Stromexporteur ist Frankreich die weltweite Nummer Eins. Beim Stromverbrauch liegt das 65 Millionen Einwohner-Land dagegen nur auf dem achten Platz. Die Franzosen setzen bei der Stromerzeugung voll auf Atomkraft. 58 Meiler waren 2011 in Betrieb. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im gleichen Zeitraum neun Atomkraftwerke, in Spanien acht und im Vereinigten Königreich 18.
Platz 7: Deutschland
Mehr als doppelt so viele Einwohner wie Kanada hat Deutschland, und ist dennoch hinter dem nordamerikanischen Land, wenn es um den Stromverbrauch geht. 545 Milliarden Kilowattstunden wurden 2011 verbraucht. Beim Export von Strom ist Deutschland hingegen fast Spitze. Im weltweiten Vergleich exportiert nur Nachbarland Frankreich mehr.
Platz 6: Kanada
Auf dem sechsten Platz der größten Stromverbraucher gibt es eine Überraschung: Kanada. Dabei ist das Land relativ spärlich besiedelt, nur 34 Millionen Menschen leben dort.
Platz 5: Indien
Der fünftgrößte Stromverbraucher der Welt ist Indien. Kein Wunder: Das Land ist nach China das bevölkerungsreichste der Welt, 1,3 Milliarden Einwohner leben dort laut Schätzungen.
Platz 4: Russland
Fast genauso viel Strom wie Japan verbraucht Russland und liegt somit auf dem vierten Platz der weltweit größten Verbraucher. Das Land ist zudem drittgrößter Stromproduzent.
Platz 3: Japan
Den dritten Platz der größten Stromverbraucher belegt Japan. Das Land ist zugleich viertgrößter Stromproduzent der Erde, vor ihm liegen nur Russland, China und die USA. Mit seinen Erzeugungen versorgt sich Japan im Gegensatz zu diesen Ländern jedoch ausschließlich selbst.
Platz 2: USA
Der zweitgrößter Stromverbraucher der Welt ist die USA. Fast fünf Prozent der installierten Stromerzeugungskapazität waren im Jahr 2010 regenerative Energien.
Platz 1: China
China ist die weltweite Nummer Eins unter den Stromverbrauchern. Kein anderes Land benötigt mehr Strom. Auch bei der Stromerzeugung ist das Land an der Spitze, exportiert jedoch nicht besonders viel von seiner Energie. Im Ranking der Strom exportierenden Länder belegt die Volksrepublik nur den neunten Platz.

In Zukunft muss jeder Energieversorger einen Privatkunden mit seinen individuellen Anforderungen und Interessen wie einen Sonderkunden betrachten. Herkömmliche Geschäftsmodelle können das nicht mehr leisten, denn Flexibilität ist gefragt. Wenn ein Kunde seit zehn Jahren einen ähnlichen Energieverbrauch hat, kann ich ihm vielleicht eine gedeckelte Flatrate anbieten, die er selbst über Smart Meter kontrollieren kann. Um das zu entscheiden, muss allerdings die IT alle notwendigen Informationen bereitstellen. Denkbar ist auch die Entwicklung innovativer Mehrwertprodukte, in denen Energie mit Assets wie "Öko" oder "Rente" angereichert wird. Für die Abrechnung derartiger Angebote neben der rein verbrauchsorientierten Abrechnung muss im Billing-System die Basis gelegt werden.

Auch wenn viele Impulse von den Fachabteilungen ausgehen: Die IT-Organisation ist in der Pflicht, die Grundlagen für Automatisierung und Flexibilisierung zu schaffen. Ein strategischer Fehler wäre das bekannte Phänomen des "CIO als Dr. No", an dessen starrer Haltung alle Anfragen der Fachbereiche abperlen. Die IT muss in der unternehmensinternen Energiewende nicht nur das nötigste, sondern das notwendige leisten. Hier sind Weitblick und Teamwork gefordert: Schließlich gibt es keine neuen Geschäftsmodelle von der Stange, und jeder Energieversorger hat andere Anforderungen und Ausgangssituationen. Er muss den Sprung in einen neuen Markt schaffen, und das ist nicht nur eine Frage der eigenen Prozesseffizienz: Früher haben die Energieversorger über Zähler nachgedacht, heute steht der Kunde im Mittelpunkt.

Best Practices für Stadtwerke und EVUs

1. Produktive Kundennähe herstellen
In gesättigten Märkten steht die Bindung der Bestandskunden im Fokus des Vertriebs. Deren Ansprache muss über mehrere Kanäle laufen - eine einzelne Jahresabrechnung per Post wird die Beziehung kaum stärken. Neben den bekannten CRM-Systemen und BI-Auswertungen sind auch Apps und soziale Medien Bestandteile einer umfassenden und zeitgemäßen Kundenkommunikation. Neukunden sollten aus Effizienzgründen bevorzugt über das Internet angesprochen werden.

2. Zugang zum Service-Center erweitern
Traditionelle Service-Center werden um neue Kommunikationskanäle erweitert. Dazu muss der "Posteingang" angepasst und optimiert werden. Die klassische Frage: Wie bringe ich im Kundenkontakt-Prozess die Anfrage (Brief, E-Mail, Telefon, Internet etc.) zum richtigen Sachbearbeiter? Das System für Enterprise-Content-Management (ECM) ist für den Unternehmenserfolg ebenso wichtig wie die ERP-Software.

3. Abläufe im Service-Center optimieren
Die Sachbearbeiter benötigen alle relevanten Informationen für den jeweiligen Bestandskunden zum richtigen Zeitpunkt, um eine befriedigende Antwort geben zu können. Mehrere, unzureichende Kontakte zu einer Anfrage belasten die Gewinnspanne, zudem wird der Kunde unzufrieden. Entscheidend ist die Bereinigung der Stammdaten, anschließend müssen Applikationen und Workflows im Service-Center an Best Practices ausgerichtet werden.

4. Integration im Backend verbessern
Die umfassende Vernetzung macht auch vor dem Backend der Energieversorger nicht halt. Gefordert ist eine systemübergreifende Prozesssteuerung zwischen strukturierten und unstrukturierten Daten, was nicht zwangsläufig Big Data bedeutet. Ziel muss es sein, isolierte Anwendungen zu öffnen, um die dort enthaltenen Informationen schnell verwerten zu können.

5. IT-Kompetenzen gezielt einkaufen
Gerade bei kritischen Themen wie dem Application-Management sind das notwendige Expertenwissen etwa zur Einrichtung neuer Funktionen oder ein durchgehender Support nur zu einem hohen Preis erhältlich. Selektives Outsourcing eignet sich aber nicht nur für "IT-Commodities", sondern auch für erfolgskritische Systeme, die man selbst aus der eigenen IT-Organisation heraus nicht optimal betreuen kann. (bw)