Es darf nicht nur einen Karrierepfad geben

Unternehmen müssen Fachkarrieren ermöglichen

31.05.2016 von Axel Rittershaus
Bis vor wenigen Jahren war eine reine Fachkarriere ohne Personalverantwortung keine Option für ehrgeizige Mitarbeiter. Heute müssen Unternehmen jedoch auch diesen Pfad der persönlich-beruflichen Entwicklung aktiv anbieten, wenn sie nicht wertvolle Angestellte verlieren wollen. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Organisationskultur.

Über Jahrzehnte hinweg war die Aussicht auf Beförderung das Mittel der Wahl, um Mitarbeiter zu motivieren. Viele haben dieses Angebot auch wahrgenommen, aber nicht unbedingt, weil sie sich in diesem Karriereweg wiederfanden, sondern weil es keine anderen Optionen gab, wenn man nicht auf der Stelle treten wollte.

Früher war alles wunderbar einfach und klar: Ein guter Mitarbeiter wird irgendwann zum Team-, dann Gruppen-, später Abteilungs- oder Bereichsleiter. Mit einer Anpassung dieses alten Beförderungssystems tun sich nahezu alle Unternehmen unglaublich schwer, weil ein Großteil der zur Mitarbeitermotivation genutzten Instrumente wegfällt.

Klassische Statussymbole wie Titel, Firmenwagen, Bürogröße und Co. funktionieren für die nachwachsenden Generationen junger Mitarbeiter nicht mehr. Das Thema Karriere wird dadurch endlich in neuem Licht betrachtet. Es wird aber wohl noch lange dauern, bis sich die Einstellung in den Unternehmen nachhaltig ändert. Zu viel Unsicherheit bringt die Abwendung vom klassischen Karrierepfad nicht nur den Führungskräften, die sich nun andere Arten der Motivation überlegen müssen, sondern auch den Personalabteilungen, für die der Karriereentwicklungspfad für Mitarbeiter komplexer wird.

Drei Tendenzen sind absehbar:

  1. Starre Hierarchien werden durch die massive Zunahme von agilen und flexibleren Vorgehensmodellen immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Es wird weiterhin Führung brauchen, aber andere als früher. Disziplinarische Aufgaben, die Begleitung und die Förderung von Mitarbeitern werden selbstverständlich weiter benötigt und sogar noch viel wichtiger werden. Doch all dies muss in einem wesentlich flexibleren Rahmen geschehen. Die Führungskraft, die ein Team an zwöf Standorten auf vier Kontinenten lenkt, bekommt bereits einen ersten Vorgeschmack davon. Was heute die Ausnahme ist, wird morgen der Normalfall sein.

  2. Eine disziplinarische Führungsposition wird keine Lebensentscheidung mehr sein. Ob aus persönlichem Interesse oder aus organisatorischer Notwendigkeit heraus muss es zukünftig mehr Flexibilität geben, eine klassische Führungsposition auch wieder zurückgeben zu können oder nur temporär zu übernehmen.

  3. Mitarbeiter werden sich aktiv gegen eine (disziplinarische) Führungsposition aussprechen und stattdessen eine Fachkarriere einfordern. Wird ihnen diese Möglichkeit verwehrt, gehen die besten Mitarbeiter entweder zu einem anderen Unternehmen, das ihnen diese Möglichkeiten bietet, oder sie machen sich selbständig.

Ein Beispiel aus der Praxis

Die Personalleiterin der Soptim AG, Silke Barthel, nahm die Aufgabe zur Überarbeitung der Führungsorganisation an und kann heute sagen "Im Rahmen unserer Führungskräfteentwicklung konnten die meisten Führungskräfte ihre Rolle neu definieren und die Veränderung zu einem agilen Führungsstil meistern. Auch die Fachkarriere gehört inzwischen bei Soptim zu einer der wichtigsten Personalentwicklungsmaßnahmen, die aktiv vorangetrieben wird. Es gibt nicht mehr den Zwang zur Personalführung, wenn ein Software-Entwickler oder IT-Berater Karriere machen möchte. Die Mitarbeiter und das Unternehmen profitieren erheblich davon, dass nur derjenige Führungsverantwortung erhält, der dies wünscht und dazu fähig ist."

Neue Aufgaben für Personalverantwortliche

Vorgesetzte müssen in Zukunft viel besser beurteilen können, ob ein Mitarbeiter die für eine Führungsaufgabe notwendigen Fähigkeiten besitzt oder ob er eher als Experte entwickelt werden sollte. Eine enge Kooperation mit einem kompetenten HR-Team erleichtert diese Aufgabe.

Eine der größten Herausforderungen ist es, dabei konsequent zu bleiben: Ein Mitarbeiter, der nach Meinung der Vorgesetzten (und seiner Kollegen) nicht zur Führung von Mitarbeitern geeignet ist, darf keine Führungsverantwortung erhalten. Man kann ihn ausbilden, seine Fähigkeiten testen, ihn coachen. Aber wenn derjenige nicht dazu geeignet ist, dann muss man ihm andere Optionen bieten. Am Ende muss man konsequent bleiben, selbst wenn man Gefahr läuft, dass dieser Mitarbeiter kündigt.

Vor jeder Entscheidung zur Beförderung eines Mitarbeiters zur Führungskraft ist zu bedenken, dass dieser Mensch damit die Entscheidung über den sinnvollen oder sinnlosen Einsatz der von ihm geführten Mitarbeiter bekommt. Dieser Mensch hat einen massiven Einfluss auf die Arbeits- und damit Lebensqualität seiner Mitarbeiter.

Fachkarrieren bieten hervorragende Alternativen, um die natürliche, intrinsische Motivation der Mitarbeiter beispielsweise durch erweiterte Kompetenzen, Konferenzteilnahmen, neue Themenverantwortung, Fortbildungen und ähnliche Maßnahmen deutlich besser zu fördern, als durch eine erzwungene Personalverantwortung. IT-ler, Ingenieure und Wissenschaftler sind meistens unglaublich begeistert von ihren Fachgebieten. Es wird nicht schwer sein von ihnen zu erfahren, was sie besonders motivieren würde. Machen Sie die Mitarbeiter der Fachkarriere einfach zum aktiven Mitgestalter. Das sorgt für einen zusätzlichen Motivationsschub.

Bleibt nur noch die Aufgabe übrig, diese Motivation nicht von den Kollegen mit Personalverantwortung zerstören zu lassen.

Vorsicht vor Zweiklassengesellschaft

Welcher Sportler ist der Beste der Welt? Der Ironman oder der Ultra-Marathon-Wüstenläufer, der Zehnkämpfer oder der Welttorhüter, der Bogenschütze oder der Apnoetaucher?

Es liegt in unserer Natur, Dinge miteinander zu vergleichen, um danach feststellen zu können, wer der Bessere, Mächtigere, Schnellere oder Intelligentere ist. Genau das wird passieren, wenn Fachkarriere und Führungskarriere nebeneinander existieren. Insbesondere Vertreter der "alten Garde" von Führungskräften, die mehr an Macht als an der Entwicklung ihrer Mitarbeiter interessiert sind, werden Fachkarrieren belächeln. Diese Führungskräfte definieren sich über die Anzahl der geführten Köpfe, die Größe des Budgets und ihren Einfluss auf den Vorstand. Die Kollegen der Fachkarriere, denen all diese Rangabzeichen fehlen, sehen sie nicht als gleichwertig an. Das ist ein echtes Problem, wenn es um wichtige Entscheidungen im Unternehmen geht!

Kann man die Akzeptanz eines Mitarbeiters auf dem Fachkarriereweg gegenüber "klassisch-hierarchisch" denkenden Führungskräften durch verordnete Gleichrangigkeit oder schöne Titel herbeiführen? Bringt es etwas, wenn der Personalbereich in einer Tabelle aufzeigt, dass ein Bereichsleiter auf gleicher Ebene mit einem Senior Expert steht?

Wohl kaum. Eine Tabelle sorgt nicht für Akzeptanz. Diese entsteht dann, wenn das Top-Management die Aussagen des Experten genauso bewertet wie die einer Führungskraft. Es wird eine gewisse Zeit dauern, bis sich eine Kultur etabliert, in der Wissen, Erfahrung und Weitsicht mehr Bedeutung haben als die Anzahl geführter Personen und interne politische Beziehungen.

Manche Unternehmen werden diese Veränderung nicht schaffen, weil ihre Führungsebenen aus Angst vor Kontroll- und Machtverlust dagegen arbeiten werden. Ein Teil der heutigen Führungskräfte wird auch schon deswegen opponieren, weil ihnen kein Weg und keine Unterstützung geboten wird, sich selbst zu verändern!

Die Einführung der Fachkarriere ist zwingend notwendig. Aber es ist nicht damit getan, diese Option zu entwickeln, anzubieten und Mitarbeitern damit die lang ersehnte Alternative zur Personalverantwortung zu geben. Experten müssen sich nicht nur fachlich, sondern ebenso konsequent in ihren Soft Skills wie Kommunikation, Entscheidungsfähigkeit und Einfluss im Unternehmen entwickeln. Ihre Akzeptanz steigt umso schneller, je deutlicher sie den wichtigen Entscheidern im Unternehmen ihren Wertbeitrag zeigen und "verkaufen" können - eine Fähigkeit, die Experten nicht unbedingt in die Wiege gelegt wurde. Doch ohne diese Fähigkeit werden sie wenig Erfolg haben, mit ihrem Wissen und ihren Ideen im Unternehmen Gehör zu finden.

Interne Hausaufgaben bei der Trennung von Führungs- und Fachkarriere

Eine Herkulesaufgabe steht manchen Personalbereichen bevor: Unternehmensregeln wie beispielsweise der Anspruch auf Firmenwagen oder Gehaltsstrukturen dürfen nicht mehr ausschließlich an das Innehaben einer Führungsposition gekoppelt sein. Mit der Einführung der Fachkarriere müssen die bislang an Personalverantwortung gebundenen Privilegien von dieser gelöst werden. Je nach Unternehmenskultur wird dies zu massiven Besitzstandskämpfen führen - die aber nicht zu vermeiden sind.

In letzter Konsequenz wird man zukünftig andere Personen für die noch verbleibenden Führungspositionen einstellen müssen. Menschen, die weniger technisches Wissen, dafür aber viel mehr Führungsfähigkeiten haben und in die neue Kultur passen. Dass sich der Wandel vollzogen hat, wird sich daran zeigen, dass ein fachlich exzellenter IT-ler, der sich auf eine Führungsposition bewirbt, nicht eingestellt wird, weil seine Soft Skills mangelhaft sind und er keine Anzeichen zeigt, seine Führungsfähigkeiten nachhaltig verbessern zu wollen - und stattdessen eine Person gewählt wird, die IT versteht, aber kein IT-Experte ist, sondern in der Führung, im Coaching und in der Entwicklung von Menschen brilliert. (haf)