Die Piratenpartei

Unerfahren, kreativ und vor dem Durchbruch

16.09.2011
Wie hoch die Schulden von Berlin sind, wusste Chef-Pirat Baum nicht. Mit der Häme aus anderen Parteien gingen die Internet-Freaks kreativ um und programmierten prompt eine Schulden-App. Am Sonntag könnte die unerfahren-kreative Partei vor dem Durchbruch stehen.

Einfach wird es nicht - das weiß Andreas Baum. Der Spitzenkandidat der Piratenpartei in Berlin räumt ganz locker ein, dass er von der Parlamentsarbeit wenig Ahnung hat, manche Wissenslücke hat ihm schon viel Häme eingebracht. "Ich habe Respekt vor der Aufgabe", sagt Baum. Der 33-Jährige und seine Mitstreiter stehen kurz vor dem Durchbruch: Nach jüngsten Umfragen gelingt der noch unerfahrenen Piratenpartei mit ihrem Schwerpunkt auf Internet-Themen bei der Berlin-Wahl am Sonntag zum ersten Mal der Einzug in ein deutsches Landesparlament.

"Die Wähler versprechen sich von uns, dass wir frischen Wind ins Abgeordnetenhaus bringen", sagt der Spitzenkandidat kurz vor dem Wahltag. Etablierte Parteien dagegen kritisieren die Piraten als profillos, ihre politischen Inhalte seien unklar und einseitig aufs Internet ausgerichtet, heißt es bei CDU und SPD.

Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) warnte gar in einem Interview, an diesem Sonntag das Kreuz bei den Piraten zu machen. Dabei scheinen die frechen Newcomer gerade bei den jungen Wählern anzukommen, die sich sonst womöglich von der Politik abkehren, mutmaßte ein Parteienforscher. Nach den Umfragen fahren die Piraten bis zu 6,5 Prozent der Stimmen ein - doppelt so viel wie die schwer angeschlagene FDP.

Mit der wenig kundigen Antwort "viele viele Millionen" auf die Frage nach dem Ausmaß der Berliner Verschuldung schien Baum die Skeptiker zu bestätigen. Aber die Piraten gingen kreativ mit der Wahlkampfpanne um: Einer aus ihren Reihen programmierte eine iPhone-App und eine Web-Anwendung mit einer sekundengenauen Schuldenuhr. Am Donnerstag zeigte sie 63,892 Milliarden Euro an.

Zufällige Karriere

Eine Karriere in der Politik hat sich der gelernte Industrieelektroniker Baum, der in Kassel geboren ist, nie vorgenommen. Der 33-jährige Kundenberater im technischen Service einer Internetfirma ist seit der Gründung vor fünf Jahren in der Piratenpartei engagiert, ein Freund hatte ihn damals dazu bewogen.

Auf der Landesliste der Partei mit inzwischen rund 1000 Mitgliedern treten 15 Kandidaten zur Abgeordnetenhaus-Wahl an. Sehr gering ist der Anteil der Frauen - eine Quote lehnen die Piraten ab. Susanne Graf, einst aktiv im Chaos Computer Club (CCC), ist nicht nur die jüngste Kandidatin auf der Liste, sondern auch die einzige Frau.

Für die 19-Jährige, die Wirtschaftsmathematik studieren will, wäre sonst allenfalls die FDP infrage gekommen, erzählt sie. "Aber ich hatte nie das Gefühl, dass die Bürgerrechte dort im Mittelpunkt stehen." Die Piraten zogen in den Wahlkampf mit dem Credo, mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung in die Politik zu bringen.

"Es ist auch nicht so, dass bei uns alle Hacker und Gamer sind", sagt Frontmann Baum. "Es gibt auch Parteimitglieder, die keinen Computer zu Hause haben." Zu Forderungen der Partei gehört unter anderem der "fahrscheinlose" öffentliche Nahverkehr. Eine Überwachung von öffentlichen Plätzen und die Beobachtung von Demonstrationen durch die Polizei lehnen die Piraten ab.

Bei der Erweiterung des Programms tat sich die Bundespartei im vergangenen Jahr ausgesprochen schwer. Auf einem Programmparteitag im November 2010 in Chemnitz unterlag der damalige Bundesvorsitzende Jens Seipenbusch einer Mehrheit der Mitglieder, die eine Perspektive für ein gesichertes Grundeinkommen für alle ins Programm aufnahm. Das "bestätigt diejenigen, die die Piraten als linksliberale Partei sehen", hatte damals der Berliner Pirat Christopher Lauer gesagt.

Kernthema Internet-Freiheit

Viele Piraten aber scheuen es, sich in das klassische Parteienspektrum einzuordnen, wobei es eine Art Nord-Süd-Gefälle gibt: Die Piraten in Süddeutschland wollen sich mehrheitlich auf die Kernthemen rund um die Internet-Freiheit konzentrieren. In Berlin wie in anderen Bundesländern im Norden diskutieren die Piraten auch über ihre Haltung zu aktuellen Fragen von der Sozial- bis zur Außenpolitik. Im Mai setzte sich Sebastian Nerz aus Baden-Württemberg bei der Wahl zum Bundesvorsitzenden der Partei gegen Lauer durch.

Da die Partei kein Delegiertensystem kennt, sind alle an einem Parteitag teilnehmenden Mitglieder stimmberechtigt - was zu entsprechend langwierigen Diskussionen führt. Für die interne Debatte und Organisation nutzen die Piraten die Software LiquidFeedback, die eine Art Soziales Netzwerk für die Parteiarbeit ist und auch in anderen Parteien auf Interesse stößt.

Bei den bisher vier Landtagswahlen 2011 kam die Partei auf Werte zwischen 1,4 (Sachsen-Anhalt) und 2,1 Prozent (Baden-Württemberg). Bei der Bundestagswahl 2009 waren es 2,0 Prozent.

Für ein Mandat im Berliner Abgeordnetenhaus will Baum, der in seiner Freizeit gerne Rennrad fährt und Eishockey spielt, seinen Job wohl größtenteils aufgeben, auch wenn es sich um ein Teilzeitparlament handelt. "Ich glaube nicht, dass der Beruf vereinbar ist mit den neuen Aufgaben. Ich gehe davon aus, dass es eine Vollzeitaufgabe sein wird." Wie viel ein Abgeordneter verdient, darüber hat sich Baum noch gar keine Gedanken gemacht. (von Monika Wendel und Peter Zschunke, dpa/ajf)