IT-Experten gesucht

Spezialistenmangel hausgemacht?

13.12.2011 von Hadi Stiel
IT-Unternehmen sparen am Personal und verschlafen die berufliche Weiterqualifizierung ihrer Mitarbeiter.

Der arbeitgebernahe Branchenverband Bitkom beklagt, dass jedes dritte IT-Unternehmen seine Geschäftstätigkeit durch den akuten Fachkräftemangel ausgebremst sieht und dass die Zahl der freien Stellen für IT-Experten in Deutschland auf rund 38.000 offene Stellen gestiegen sei.

Der vermeintlich hohe Fehlbestand an Spezialisten und die Vielzahl an offenen Stellen bedeutet aber nicht automatisch bessere Berufschancen für alle IT-Experten. Denn viele IT-Unternehmen haben ihre Anforderungen auf ein unrealistisches Maß hochgeschraubt, das nur auserlesene Wunschkandidaten erfüllen können. Ebenfalls verringert hat sich die Bereitschaft der Arbeitgeber, für Spezialisten adäquate Gehälter zu zahlen und soziale Verpflichtungen einzugehen.

Bernhard Stütz, FH Stralsund, kritisiert: "Es wird zu wenig in die Weiterbildung der Mitarbeiter investiert."
Foto: Privat

Das hat Folgen: "Viele begabte Studenten wenden sich vom Studium der Natur- und Ingenieurswissenschaften ab, weil die Gehälter der Hightech-Profis hinter die der Manager zurückgefallen sind", registriert Bernhard Stütz, Professor an der Fachhochschule Stralsund, wo er das Steinbeis-Transferzentrum für die Projektierung und Evaluierung von Netzwerken gegründet hat. "Viele dieser Studiengänge sind nicht mehr ausgelastet, der Nachschub an Fachkräften stockt", sagt Stütz.

Je komplexer der Job, desto mehr Geld

Er fordert deshalb, dass sich die Wertschätzung und Bezahlung der IT-Experten wieder an der Schwierigkeit ihrer Aufgaben orientieren müsse. Und in puncto interne Qualifizierung kritisiert Stütz: "Es wird zu wenig in die Weiterbildung der Mitarbeiter investiert. Bildungskosten sind Kosten, die man auf den Chefetagen vermeidet, weil sie den Gewinn schmälern." Eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) unter seinen Mitgliedern gibt über alle Branchen hinweg das Missverhältnis zwischen Expertenbedarf und Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen wieder. So wollten in Deutschland gerade einmal 22 Prozent der befragten Betriebe in diesem Jahr auf einem ohnehin niedrigen Niveau "mehr ausbilden", obwohl 55 Prozent der befragten Firmen die Fachkräftesicherung als das Leitmotiv für die Ausbildung erkannt hätten.

Selbst die Konzerne - früher für ihre zahlreichen Weiterbildungsaktivitäten begehrt - planen nicht mehr langfristig. "Gedacht wird bei den IT-Größen nur bis zum nächsten Quartalsbericht. Eine längerfristige Personalplanung kommt dadurch zwangsläufig nicht zustande", kritisiert Stütz. Das Notwendigste, was an Qualifizierung getan werden muss, bürden große Unternehmen verstärkt ihren Produkt- und Servicepartnern auf. Dirk Christiansen, Geschäftsführer des IT-Dienstleisters Nextragen, bemängelt: "Viele IT-Unternehmen kommen ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung nicht mehr nach. Stattdessen erwarteten sie, dass der Staat die Ausbildung für die fehlenden Spezialisten übernimmt, ohne dass sie dafür eine Gegenleistung erbringen." Am Geld fehle es den meisten Betrieben jedenfalls nicht, so der Nextragen-Geschäftsführer: "Dabei wären Unternehmen eigentlich verpflichtet, ihre Mitarbeiter permanent zu qualifizieren, da sie in der Mitte der Gesellschaft stehen", sagt er mit Blick auf Vorstände , Geschäftsführer und IT-Chefetagen. Die Devise in seinem Unternehmen lautet: "Nur gut aus- und weitergebildete Mitarbeiter können erstklassige Produkte entwickeln."

IT-Branche hat Trend verschlafen

Dirk Christiansen von Nextragen sieht Weiterbildung als gesellschaftliche Verpflichtung von Unternehmen.
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Doch wie dem hausgemachten und selbstverschuldeten Spezialistenmangel in den IT-Unternehmen begegnen? Nach Christiansen sollten dafür zwei Säulen stehen: "Die Ausbildungsträger stellen motivierte Abgänger zur Verfügung, die die spezifischen Grundlagen ihres Fachthemas perfekt beherrschen." Für alles, was darauf aufbaue, einschließlich der Erfüllung der marktspezifischen Anforderungen, ständen jedoch ausschließlich die Arbeitgeber in der Verantwortung. Zumal diese Unternehmen, allen voran die Großen des IT-Sektors, die Spezialisierung fernab von allgemein verbindlichen Standards rigoros vorantrieben.

Die Folgen dieser Spezialisierung sind nicht neu. Anfang 2008 sprach Willi Fuchs, Direktor des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), von einem Fehlbestand an 95.000 Ingenieuren. Deutschland drohe der Abstieg als Hightech-Nation, befürchtete Fuchs damals. Dass sich der Geburtenrückgang negativ auf den Spezialistenmarkt auswirkt, ist ebenfalls seit langem bekannt. Wachgerüttelt hat dies nur wenige IT-Unternehmen. Das Gros von ihnen verharrt weiterhin in einer restriktiven und kurzsichtigen Personal- und Qualifizierungspolitik. Stattdessen werden die Forderungen der IT-Unternehmen an Dritte - Staat, Hochschulen, Bewerber und Mitarbeiter - lauter. Der Staat soll richten, was die IT-Branche seit gut einem Jahrzehnt verschlafen hat: genügend Spezialisten heranzuziehen. Die Hochschulen sollen, ungeachtet ihres universitären Auftrags, ihre Lehre noch enger am gerade aktuellen Markt- und Spezialistenbedarf ausrichten. Und Bewerber und Mitarbeiter dürfen sich mit befristeten Arbeitsverträgen bescheiden und unbezahlte Überstunden in Kauf nehmen.

Befristungen nehmen zu

Wie weit Unternehmen von Social Responsability entfernt sind, verdeutlicht folgende Zahl: Zwei Drittel der seit 2009 neu entstandenen Arbeitsplätze fallen in die Kategorien Zeitarbeit, befristete Arbeitsverträge, 400-Euro-Jobs oder Niedriglohn. "Wer Personal nur auf Zeit einstellt, wird kaum hinreichend in Weiterbildung und eine solide Personalpolitik investieren", meint Mathias Hein, freier IT-Berater in Neuburg an der Donau. "Denn beides schließt sich kategorisch aus." IG Metall-Vorstandsmitglied Helga Schwitzer kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass IT-Unternehmen mit ihrer Diskussion über den Fachkräftemangel die Angst unter den Beschäftigten schüren wollen. Billige Fachkräfte aus dem Ausland sollten augenscheinlich den Druck auf einheimische Experten zusätzlich erhöhen, sich mit weniger zufriedenzugeben. Bei der IG Metall bezweifelt man, dass der Mangel an IT-Fachleuten wirklich so groß ist, wie er von den IT-Unternehmen und dem Bitkom dargestellt wird. Das Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen pflichtet der Gewerkschaft bei: "Wirkliche Spezialistenengpässe sehen anders aus. Sie hätten längst steigende Löhne zur Folge gehabt." Doch genau diese Entwicklung sei bisher im IT-Personalmarkt nicht eingetreten.

Mangelnde Ausbildung an Hochschulen

Erstmals seit Jahren ist die Zahl der Informatik-Studienanfänger gestiegen. Löst das den Fachkräftemangel?
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Aber das dicke Ende, ein Spezialistenmangel, der es in sich hat, könnte der IT-Branche bald drohen, und dann mit allen für sie negativen personellen, betriebswirtschaftlichen und wettbewerblichen Konsequenzen. Viele Hochschulen sind aufgrund des demografischen Wandels nicht mehr in der Lage, genügend Nachwuchs für IT-Expertenjobs auszubilden. Zumal die Zahl der Akademiker, die in den nächsten Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden, drastisch wachsen wird. Kleiner Hoffnungsschimmer: Immerhin ist an Hochschulen wie der TU München die Zahl der Informatikanfänger in diesem Herbst stark angestiegen. Mit der übersteigerten Spezialisierung der IT-Hersteller auf der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen können und sollten die Hochschulen mit ihrer Ausbildung ohnehin nicht Schritt halten - das ist weder ihre Bestimmung noch ihr Auftrag. Sie können und sollten bestenfalls für eine fortwährende Qualifizierung solide Grundlagen schaffen, mehr nicht. Das Problem "Spezialisierung" und "Spezialistenmangel" können die IT-Firmen als Verursacher nur selbst bewältigen.

Trotz Boomzeiten wenig Training

Wenn, wie einige Analysten befürchten, in nächster Zeit der Markt wieder einbrechen könnte, wird die Qualifizierung der Mitarbeiter noch weiter nach hinten auf der Agenda von Vorständen, Geschäftsführern und Personalverantwortlichen rücken. Dadurch dürfte sich der IT-Experten-Mangel mit dem nächsten Aufschwung zusätzlich verschärfen. Die meisten IT-Unternehmen haben es selbst in wirtschaftlichen Boomzeiten wie der gerade vergangenen verpasst, für ihre Mitarbeiter die notwendige Weiterbildungs- und Sozialverantwortung zu übernehmen und als Spezialisierungs-Schrittmacher ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen. Anzeichen deuten darauf hin, dass sie auch in absehbarer Zukunft diese Gangart nicht ändern werden. (hk)