Rückverfolgbarkeit spart Millionen

18.01.2006 von Robert Gammel
Mit dem Projekt "Laendmarks" versucht ein hochkarätig besetztes Industriekonsortium, mittels IT kostspielige Rückrufaktionen in der Automobilbranche zu reduzieren.

Muss ein Automobilhersteller ein Modell in die Werkstätten zurückrufen, um Qualitätsmängel zu beheben, erreichen die Kosten dafür schnell einen zweistelligen Millionenbetrag. Hinzu kommt ein beträchtlicher Imageschaden. Und die Zahl der Rückrufaktionen nimmt beständig zu. Laut Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) waren allein in Deutschland im Jahr 2004 über 1,4 Millionen Fahrzeuge von insgesamt 109 Rückrufmaßnahmen betroffen.

Hier lesen Sie ...

  • wie die Automobilbranche kostspielige Rückrufaktionen mittels IT reduzieren will;

  • welche Anforderungen das künftige System für die Rückverfolgbarkeit von Bauteilen erfüllen soll;

  • worin die Vorteile einer durchgängigen Traceability-Lösung bestehen.

Die Rückrufaktionen der Autoindustrie haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen.

Das entspricht einem Zuwachs von 41 Prozent gegenüber 2003. Mehr als die Hälfte der Fahrzeuge war nicht älter als drei Jahre. Eine Rückrufliste der Fachzeitung "Auto Motor Sport" für das laufende Jahr zeigt, dass fast alle Hersteller mit dem Problem zu kämpfen haben.

Als Ursachen nennen Experten die zunehmende Komplexität der Fahrzeuge sowie die stark gesunkene Fertigungstiefe. Im Schnitt beziehen die Automobilhersteller rund 80 Prozent der Teile von Zulieferern, die mittlerweile komplette Baugruppen wie Achsen oder Bremssysteme beisteuern. Die Lieferanten sind zudem einem enormen Kostendruck seitens der Automobilkonzerne ausgesetzt, die geforderten Preissenkungen liegen häufig bei drei bis fünf Prozent pro Jahr. Hinzu kommen kürzere Entwicklungszyklen und damit der Einsatz von unausgereiften Techniken. Oft führen mangelhafte Elektronik- und Softwaresysteme zu Qualitätsproblemen.

Dass sich Software andererseits auch für die Reduzierung der Millionenschäden nutzen lässt, will nun ein Konsortium mehrerer Automobilhersteller, Zulieferer und IT-Anbieter beweisen. Dafür wurde das Projekt Laendmarks ins Leben gerufen. Unter der Federführung von Keiper, einem Hersteller von Strukturen und Metallkomponenten für Fahrzeugsitze, kooperieren dabei der Volkswagenkonzern und Daimler-Chrysler sowie der Verband der Automobilindustrie (VDA), der Lehrstuhl Maschinenbauinformatik der Ruhr-Universität Bochum und mehrere IT-Anbieter. Zum Konsortium zählen außerdem die IBS AG in Höhr-Grenzhausen, Hersteller von Software für das Qualitäts- und Produktions-Management, der RFID-Spezialist TBN und IBM Business Consulting Services.

Rückverfolgbarkeit von Bauteilen

Ziel der Initiative ist es, ein durchgängiges System zu entwickeln, mit dem sich bei Qualitätsproblemen einzelne Komponenten entlang der gesamten Lieferkette bis zum jeweiligen Hersteller zurückverfolgen lassen. Konkret sollen die Seriennummern der im Auto eingebauten Teile mit der Fahrgestellnummer verknüpft werden. Im Rahmen des Projekts werden branchenunabhängige Softwaremodule und Standards für die Abbildung komplexer Logistikprozesse geschaffen. Das Vorhaben stößt nicht nur bei den beteiligten Unternehmen auf reges Interesse: Das Konsortium zählt zu den elf Gewinnern des vom Bundeswirtschaftsministerium ausgeschriebenen Technologiewettbewerbs "Next Generation Media", in dessen Rahmen insgesamt 40 Millionen Euro an Fördergeldern vergeben wurden.

Dass die Leitung des Projekts nicht bei den großen Automobilkonzernen, sondern dem vergleichsweise kleinen Second-Tier-Zulieferer Keiper liegt, erklärt sich aus dessen praktischer Erfahrung: Das in Kaiserslautern beheimatete Unternehmen hat vor sechs Jahren begonnen, seine interne Lieferkette mittels produktionsnaher IT-Systeme transparenter zu machen.

Steckbrief

Projektart: Entwicklung und Einführung einer IT-Lösung für die durchgängige Rückverfolgbarkeit von Bauteilen.

Branche: Automobilindustrie.

Zeitrahmen: von September 2005 bis August 2008.

Stand heute: Erstellung von Lasten- und Pflichtenheft, Vorbereitung der Prozessanalyse.

Beteiligte Unternehmen: Keiper, Volkswagen, Daimler-Chrysler, Verband der Automobilindustrie (VDA), Lehrstuhl Maschinenbauinformatik der Ruhr-Universität Bochum, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), IBS, TBN und IBM Business Consulting Services.

Herausforderung: Vernetzung von mehreren Insellösungen, Verbesserung der RFID-Technik für die Produktion mit Metallen, Schaffung von Standards für den Austausch von Logistikdaten sowie Wirtschaftlichkeitsnachweis für die Gesamtlösung.

Komplexe Produktionsflüsse

Die Notwendigkeit für eine Tracking-Lösung resultierte unter anderem aus der komplexen Produkt- und Produktionsstruktur des Unternehmens, das weltweit fast alle Automobilhersteller mit Sitzkomponenten beliefert. Standardteile werden in großen Stückzahlen in einem internationalen Fertigungsverbund hergestellt. Da die einzelnen Teile in verschiedenen Werken gefertigt und montiert werden, ergeben sich komplexe Waren- und Produktionsflüsse. Treten Probleme auf, gestaltet sich die Fehlersuche dementsprechend schwierig.

Das Unternehmen hat ein Rückverfolgbarkeitssystem für ein Großserienprojekt entwickelt, das die gesamte Produktentstehung, Materialchargen, Prozesshistorie, Nacharbeitsschritte und logistische Daten dokumentiert. Die Lösung basiert auf einer produktionsnahen Datenerfassung und -verarbeitung, der intelligenten Vernetzung vieler Datenquellen wie Maschinensteuerungen, Mobilscanner und ERP-Systeme sowie Funktionen, mit denen sich Daten effizient abrufen und auswerten lassen. Alle wesentlichen Abläufe wurden dazu standardisiert und entsprechende Systemmodule nach dem "Baukastengedanken" entwickelt.

Übergreifende Prozesshistorie

Bei Keiper erhalten wichtige Standardkomponenten eine Seriennummer, die im Zuge der wesentlichen Prozessschritte gescannt wird. Nach erfolgter Bearbeitung sendet die zugehörige Maschinensteuerung den jeweiligen Prozesshistorien-Datensatz an die zentrale Datenbank. Da alle Bearbeitungsstationen und -maschinen eine weltweit eindeutige Kennung besitzen, lässt sich so die gesamte Prozesshistorie - auch über mehrere Standorte hinweg - abbilden. Zusätzlich werden an jeder Montagestation die zu verbauenden Materialchargen mit einem Mobilscanner erfasst und in Bezug zur Seriennummer der Montagebaugruppe gesetzt, in die sie eingeflossen sind. Die Dokumentation von möglichen Nacharbeitsschritten sowie die Zuordnungen zwischen den Fertigprodukten, den zugehörigen Behältern und den Kundenlieferungen sind ebenfalls über Mobilscanner gelöst. Außerdem wurde eine standardisierte Betriebs- und Maschinendatenerfassung zur Ableitung von Kennzahlen und zwecks Prozessoptimierung geschaffen. Für die Kommissionskontrolle sowie das elektronische Kanban-System wurde die Traceability-Lösung mit dem ERP-System verknüpft.

Das Keiper-System läuft seit zwei Jahren im internationalen Großserienbetrieb und ist aufgrund des konsequent verfolgten Modulgedankens auch auf das Fertigungsumfeld anderer Branchen übertragbar. "Wenn heute ein Problem auftritt, können wir es durch eine gezielte Datenanalyse punktgenau und zeitnah eingrenzen, anstatt mit ungenauen Annahmen zu arbeiten", erklärt Bernd Schäfer, verantwortlicher Leiter des Traceability-Projekts bei Keiper.

Bei der Umsetzung dieser Lösung arbeitete das Unternehmen mit der IBS AG zusammen, wobei eine Reihe von Herausforderungen zu meistern war. So müssen die Daten aus weltweit verteilten Produktions- und Montagestandorten in eine zentrale Datenbank gespielt werden. Für die Erfassung und Weiterleitung der Massendaten musste die Lösung mehrsprachig und rund um die Uhr verfügbar sein. Zugleich galt es hohe Sicherheitsanforderungen zu erfüllen.

Entwicklungshürden

Wie so häufig lag auch bei der Entwicklung der Rückverfolgbarkeitslösung der Teufel im Detail. Es war zum Beispiel nicht einfach, Barcodeaufkleber zu entwickeln, die für die rauen Umgebungsbedingungen der industriellen Fertigung geeignet sind. Die Etiketten müssen auf öligen Metalloberflächen haften und nach der Reinigung und Lackierung des damit versehenen Bauteils immer noch einwandfrei lesbar sein. Entsprechend hoch waren die Anforderungen an die Barcode-Lesetechnik sowie die Integration der Anwendung in den Fertigungsprozess.

Erstaunlicherweise sind Insellösungen wie die von Keiper in der Automobilbranche bislang kaum anzutreffen. "Viele, auch weitaus größere Automobilzulieferer sehen zwar den Handlungsbedarf, stecken mit der Umsetzung jedoch häufig noch in den Kinderschuhen", resümiert Schäfer. Selbst große Hersteller verfügen offenbar nicht über Lösungen, mit denen sich Zuliefererteile detailliert zurückverfolgen lassen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Qualitäts- und Rückrufprobleme zeichnet sich in der Industrie jedoch zunehmend ein Bewusstseinswandel ab. Mit Laendmarks soll nun die Rückverfolgbarkeit über die gesamte Lieferkette hinweg erprobt werden. Die Vorteile leistungsfähiger und vor allem durchgängiger Traceability-Lösungen liegen auf der Hand. Tritt ein Problem auf, kann das Management die Situation aufgrund der detaillierten Datenbasis richtig einschätzen und auf Basis von Fakten zeitnah reagieren. Die Beantwortung von Fragen wie "Welche Teile und Kunden sind betroffen? Um wie viele handelt es sich? Wann wurden diese ausgeliefert? Welche und wie viele Fahrzeuge sind betroffen?" sind dabei von großer Relevanz. Liegen diese Informationen schnell und gesichert vor, lässt sich das Problem sauber eingrenzen und in vielen Fällen noch in der Lieferkette oder gezielt an den betroffenen Fahrzeugen beheben. Teure Rückrufaktionen oder imageschädigende Medienberichte werden reduziert oder ganz vermieden.

Verbesserung der RFID-Technik

Im Rahmen des Laendmarks-Projekts will das Konsortium auch überprüfen, inwieweit sich RFID-Tags für seine Ziele eignen. Für Keiper hätte diese Technik den Vorteil, dass sich die Daten auch dann noch abrufen lassen, wenn Komponenten nach der Polsterung eines Sitzes nicht mehr per Barcode erfasst werden können. Schäfer, der bei Laendmarks auch die Konsortialprojektleitung innehat, sieht in der RFID-Technik ein großes Potenzial. Allerdings müsse sie für den Einsatz im metallischen Produkt- und Produktionsumfeld der Automobilindustrie noch optimiert werden. "Metallkomponenten können wie ein Faradayscher Käfig wirken. Dieser Abschirmungseffekt kann ein Auslesen der Daten erschweren", ergänzt er. Mit den derzeit verfügbaren Standardanwendungen könne man daher nicht arbeiten. Verbesserungen seien vor allem bei der Antennentechnik der Funketiketten notwendig. Damit beschäftigt sich derzeit der Konsortialpartner TBN. Außerdem gilt es den Nachweis zu erbringen, dass sich die durch den Einsatz von RFID-Tags entstehenden Mehrkosten durch Synergieeffekte bei allen Partnern entlang der Lieferkette wieder einspielen lassen.

Ein uneingeschränkter Zugriff der OEMs auf die Daten der Zulieferer und umgekehrt ist allerdings nicht vorgesehen. "Ein direkter Zugriff auf Detailinformationen ist weder notwendig noch gewollt", erklärt Schäfer. Den Partnern geht es vielmehr darum, die bestehenden Inselsysteme der in die Lieferkette eingebundenen Unternehmen intelligent zu verknüpfen, geeignete Standards zu schaffen sowie eine gemeinsame Datenbank für Logistikinformationen aufzubauen. Darüber sollen Informationen wie Serien-, Behälter- und Lieferscheinnummern ausgetauscht werden. Detailinformationen wie Prozessdaten verbleiben in den lokalen Systemen der Partner und sollen nur für die Bearbeitung akuter Qualitätsprobleme übermittelt werden.

Mit Laendmarks hat sich das Konsortium nicht nur zum Ziel gesetzt, die technische Realisierbarkeit durchgängiger Rückverfolgbarkeitssysteme, sondern auch deren großen Nutzen und Wirtschaftlichkeit unter Beweis stellen. Die Bedeutung des Themas Rückverfolgbarkeit wurde nicht nur in der Automobilindustrie erkannt. Auch in der Lebensmittel- und Pharmaindustrie laufen derzeit intensive Bemühungen, Lieferketten transparenter zu gestalten. Auch hierfür will Laendmarks einen Beitrag leisten, indem möglichst vielseitig einsetzbare Modelle und Vorgehensweisen entwickelt werden, die auch auf andere Branchen übertragbar sind.