Archäologen digitalisieren die vom Vesuv zugeschüttete antike Stadt

Pompeji: Wiederauferstehung aus Schutt und Asche im PC

13.10.1989

Felix Weber ist freier Journalist in Zürich.

Erst war das Militär dran, dann die Büros und Fabriken. Jetzt beginnt der Computer auch die archäologischen Stätten zu erobern. Ist das wünschenswert und nötig - oder ist es schlicht ein teurer Techno-Gag, der bald wieder verschwinden wird? Eine Pressereise nach Neapel sollte Klarheit schaffen: Dort werten Wissenschaftler die Ausgrabungen der antiken Stadt Pompeji auf dem Computer aus.

Ein leicht verschrobener älterer Professor, der in abgewetzten Kleidern in den Ruinen herumstoffelt, gelegentlich zu Schaufel und Metermaß greift und dann seine Befunde mit Bleistift akribisch ins Notizbuch einträgt - so habe ich mir den typischen Archäologen vorgestellt. Bis ich die Forscherinnen und Forscher kennenlernte, die sich in Neapel mit der antiken Stadt Pompeji beschäftigen: Sie sind größtenteils sehr jung, und sie setzen für ihre wissenschaftlichen Arbeiten die modernsten Hilfsmittel ein, die es überhaupt gibt.

Was macht denn die vor bald 2000 Jahren in Schutt und Asche versunkene Stadt so attraktiv? Nun, Pompeji bietet den Forschern eine einzigartige Chance, die Lebensumstände im antiken Kampanien zu studieren: Als im Jahre 79 nach Christus der nahegelegene Vesuv ausbrach und Pompeji mit einem gewaltigen Stein- und Aschenregen zudeckte, entstand innerhalb weniger Minuten eine Momentaufnahme des blühenden Handelszentrums samt seinen Einwohnern.

Von dieser Momentaufnahme ist außergewöhnlich viel erhalten geblieben. Schuld daran ist das Material, mit dem der Vulkan die Stadt zuschüttete: Neben Sand und Asche fielen vor allem leichte Bimssteine (sogenannte Lapilli) vom Himmel, die sich zwar meterhoch türmten, aber die Gebäude nicht zertrümmerten. Was darunterlag, war geschützt vor natürlicher Abnützung, aber auch vor menschlichen Eingriffen.

Die Zahl der Opfer in Pompeji ist schwer zu beziffern. Experten schätzen sie auf 3000. Sicher ist nur, daß niemand das Inferno überlebte: Wer nicht im niederprasselnden Stein- und Aschenregen umkam, erstickte an den giftigen Gasen, die sich beim Vulkanausbruch quadratkilometerweit ausbreiteten. Die wenigen Schiffe, mit denen eine Flucht vielleicht hätte gelingen können, erreichten das offene Meer nie: Sie wurden in der Panik so hoffnungslos überladen, daß sie alle kurz nach dem Auslaufen sanken.

"Nach ungefähr drei Tagen", schreibt Francesco Paolo Maulucci in seinem Pompeji-Führer, "als wieder die Sonne blaß am Himmel erschien, herrschte dort, wo einst das Leben nur so sprudelte, die bedruckende Einsamkeit der Wüste." Die Stadt war buchstäblich vom Erdboden verschwunden. Bald überdeckte eine neue Vegetationsschicht die Schuttmassen; nichts erinnerte mehr an die Katastrophe. Selbst in den Geschichtsbüchern tauchte Pompeji nur noch selten auf, sodaß es schließlich schwierig wurde, die exakte Lage der antiken Stadt anzugeben.

Bis ins 18. Jahrhundert ruhte Pompeji unter der Erde. Zwar stießen Architekten schon früher beim Bau von Brunnen und Kanälen vereinzelt und zufällig auf alte Bauten, aber sie maßen ihnen wenig Bedeutung bei.

Archäologen "entdeckten" die alte Stadt erst um 1750. Der Anstoß zu den Ausgrabungen kam von ganz einer anderen Seite: vom Bourbonenkönig Karl III, der dort seit Jahren mit viel Erfolg nach Schmuck und andern Wertgegenständen für sich und sein Gefolge buddeln ließ. Nun, wo man in der Erde laufend auf Kostbarkeiten stieß, gab es vielleicht auch für die Wissenschaft etwas zu entdecken ...

Die Forscher hatten allerdings andere Interessen als der geltungssüchtige, versessene Bourbone. Sie legten zunächst eine antike Villa frei, wo sie Bronzestatuen sowie Papyrusrollen mit literarischen und philosophischen Texten fanden. Dann gruben sie das Amphitheater aus. Daß sie es mit dem alten Pompeji zu tun hatte, erkannten sie erst 13 Jahre später, als sie auf einem Säulenstumpf ein Dekret fanden, das einen eindeutigen Bezug zur versunkenen Stadt herstellt.

Nochmals 100 Jahre später trat der erste Archäologe im heutigen Sinn auf den Plan: Giuseppe Fiorelli legte endlich einen systematischen Katalog der Fundgegenstände von Pompeji an. Er hatte auch die geniale Idee, die Opfer der Katastrophe nachzumodellieren, indem er lässigen Gips in die Hohlräume goß, die ihre verwesten Körper im Schutt zurückgelassen hatten.

Von da an ging es flott voran mit den Ausgrabungen - leider aber auch mit den Verschleppungen und Diebstählen der Pompejier Kulturgüter. Vieles wurde in fremde Museen gebracht, anderes verschwand für immer.

Antike Schätze konservieren

Doch auch die Funde, die an Ort und Stelle blieben, bereiten den Archäologen zusehends Kopfzerbrechen. Einmal ausgegraben, sind die Objekte einem sehr viel rascheren Zerfall ausgesetzt, als wenn sie in den Schuttmassen begraben sind. Fresken zum Beispiel, die unter der Erde schadlos Jahrhunderte überdauerten, bleichen ungeschützt an der Luft sehr schnell aus. Die massive Verschlechterung der Luftqualität in den letzten Jahren hat dieses Problem noch zusätzlich akzentuiert.

Das bringt die Archäologen " in eine verzwickte Situation: Einerseits möchten sie ja möglichst viel ausgraben, weil das ihr Wissen komplettiert, andererseits fördern sie damit den Zerfall ihrer Studienobjekte. Was tun? "Solange wir nicht wissen, wie wir die Funde besser schützen können, sind wir in Pompeji mit weiteren Ausgrabungen sehr zurückhaltend", erklärt Martino Politi. Politi gehört zu den Leitern des Konsortiums Neapolis, einer von der italienischen Regierung ins Leben gerufenen Gesellschaft, welche die Kunst- und Naturschätze im Vesuvgebiet erhalten und aufwerten soll.

Leider gibt es kein Patentrezept gegen die langsame Zerstörung. Man kann ihr höchstens ein kleines Schnippchen schlagen -: mit dem Computer. Was man dort als Abbild der Wirklichkeit speichert, bleibt erhalten, selbst wenn der reale Gegenstand verlorengeht. Vielleicht müssen eines Tages Simulationen auf dem Bildschirm die Originale ersetzen.

Viel Arbeit, wenig Geld

Im Konsortium Neapolis war der Computereinsatz von Anfang an eine Selbstverständlichkeit, was allerdings weiter nicht verwundert: Fürs Management waren nämlich Spezialisten der High-Tech-Firmen Fiat Engineering und IBM Italia verantwortlich, für die Datenverarbeitungsgeräte IBM.

Der italienische Staat ließ sich das zweijährige, im letzten April abgelaufene Projekt Neapolis rund 50 Millionen Mark kosten. Mit diesem Geld wurde nicht nur die Infrastruktur finanziert - unter anderem Computerausrüstungen für zehn Millionen Mark - sondern auch die Löhne der Mitarbeiter. 108 waren es insgesamt, darunter sehr viele Frauen. Am häufigsten vertreten waren Informatiker, Archäologen und Kartografen in dieser Reihenfolge.

Mit den diplomierten Forscherinnen und Forschern hatte das Konsortium sogenannte Ausbildungs-Arbeitsverträge abgeschlossen. Die rund 1500 Mark Lohn pro Monat waren bestimmt kein Traumsalär, dafür erleichterte die Mitarbeit am Konsortium den Einstieg in die Arbeitswelt und vermittelte den frischgebackenen Akademikern gleichzeitig eine Zusatzausbildung - insbesondere auf dem Gebiet der Informatik.

Computer wurden bei diesem Projekt für ganz unterschiedliche Zwecke eingesetzt: für die Katalogisierung der Fundgegenstände, die Auswertung alter Dokumente, die Analyse von Fresken usw. Auf dem Bildschirm lassen sich aber auch geplante Restaurierungen simulieren oder zerfallene Gebäudekomplexe rekonstruieren - farbig und in drei Dimensionen. Da sieht man plötzlich eine ganze Säulenhalle auf dem Bildschirm, digital ergänzt und aufgebaut aus dem Computerabbild tatsächlich existierender Ruinen. "So könnte Pompeji ausgesehen haben", erklärt der Elektronik-Zauberer, drückt ein paar Tasten, worauf eine andere Ansicht erscheint: "Oder so." Solche Spielereien gehören auch dazu; sie lockern den Ernst der Sache auf.

Wer weiß, vielleicht werden solche Programme eines Tages wirklich gebraucht: zum Beispiel für ein umfassendes System, das nicht nur die nackten Mauern, Säulen und Dächer von Pompejis Gebäuden rekonstruiert, sondern gleich noch die längst abtransportierten, überall verstreuten Fundgegenstände hinzufügt, Menschen und Tiere der antiken Stadt elektronisch aufleben läßt und das Ganze als riesige Multivisionsshow farbig, in drei Dimensionen und Quadrophonie präsentiert.

Alles wird digitalisiert

Zu den ernsthaften Computeranwendungen gehört das Kartographiesystem, das die Forscher im Rahmen des Projekts entwickelt haben. Es erfaßt über 350 größere archäologische Funde. Nachdem das Gebiet um den Vesuv mit dem Flugzeug vermessen war, verarbeiteten die Kartografen die Daten auf dem Computer in digitalisierte Pläne, die eine bisher nicht gekannte Präzision aufweisen. Die Karten können auf dem Bildschirm abgerufen, analysiert, nötigenfalls korrigiert und ausgedruckt werden. Im System sind sie mit all jenen Daten verknüpft, die die Forscher für historisch-archäologische Untersuchungen brauchen können. So lassen sich zum Beispiel die Fundorte bestimmter Gegenstände mit den entsprechenden Epochen vergleichen oder spezielle Merkmale gewisser Gebiete herauskristallisieren.

Von den rund 12 000 pompejanischen Fresken und Mosaiken haben die Archäologen auf dem Computersystem elektronische Karteikarten für die wissenschaftliche Katalogisierung erstellt. Diese Datenbank kann in Sekundenschnelle abgefragt werden - zum Beispiel nach sämtlichen Funden, die ein bestimmtes Malmotiv gemeinsam halben. Mit dem System lassen sich Fundobjekte in kurzer Zeit bis ins Detail analysieren.

Die Fresken und Mosaike wurden nicht nur katalogisiert, sondern auch fotografiert und als digitale Farbbilder im Computer abgespeichert. Damit sind sie automatisch der elektronischen Bildverarbeitung zugänglich, einem äußerst starken und vielseitigen Arbeitshilfsmittel. Mit dem Rechner lassen sich praktisch auf Tastendruck Bildausschnitte vergrößern, Farben chromatisch analysieren, Details retouchieren, Farben hinzufügen oder wegnehmen.

Die Möglichkeit, auf dem Computer gefahrlos verschiedenste Varianten durchzuspielen, hat in den letzten Jahren die Methoden der Bildrestauration gründlich umgekrempelt. Früher blieb den Restauratoren nichts anderes übrig, als die fehlenden Farben direkt auf das Original zu malen - in der stillen Hoffnung, daß sie sich bei der Wahl des Materials und des Farbtons nicht verschätzt haben.

Allzuoft blieb es offenbar bei der guten Absicht. Die Milaneser Restaurationsexpertin Francesca Monfredini jedenfalls stellt den Vertretern ihres Berufsstandes ein schlechtes Zeugnis aus: "Bis vor wenigen Jahren", behauptet Monfredini in der amerikanischen Computerzeitschrift 'Datamation', "benutzten die meisten Restauratoren ungeeignete Werkzeuge, das falsche Material und miserable Techniken - mit dem Resultat, daß vier von fünf Restaurationen mißlangen."

Heute gehen die Spezialisten in der Regel anders vor: Nach einer gründlichen Reinigung des Bildes oder Freskos füllen sie die Lücken erst mal mit einer dünnen, neutralen Farbschicht, die sie aus den andern Farbtönen des Werks zusammenmischen. Auf diese Weise kann man einerseits die zu restaurierenden Stellen von den Originalstellen auseinanderhalten, anderseits sind die Übergänge harmonisch, und das Bild als Ganzes vermittelt einen guten Eindruck vom Original.

Viele Restauratoren trauen nur ihren Augen

Im zweiten Schritt geht es nun darum, die richtige Zusammensetzung der fehlenden Farben zu bestimmen. Hier scheiden sich die Geister: Man kann das entweder von bloßem Auge tun oder mit Computerhilfe.

Beim Computerverfahren wird das vorbereitete Objekt fotografiert und Bildpunkt für Bildpunkt in den Rechner eingegeben. Dieser ordnet nun sämtlichen Farbtönen einen Wert zu - also auch dem frisch applizierten neutralen Ton. Aufgrund dieser Information liefert das System schließlich die Rezepte für die exakten Farbmischungen, die für die Restauration benötigt werden.

Trotz den unbestreitbaren Erfolgen, die das High-Tech-Verfahren bisher gebracht hat, ziehen es einige Restauratoren vors sich auf ihre eigenen Augen zu verlassen. Ornella Casazza zum Beispiel, die für ein mehrjähriges Restaurationsprojekt in der Florentiner Kirche Santa Maria del Carmine verantwortlich ist, hat beide Methoden verglichen und festgestellt, daß sie praktisch zu gleichen Resultaten führten. Seither benutzt sie den Computer nur noch für Katalogierungsarbeiten.

Eine andere Anwendung der digitalen Bildverarbeitung, die ebenfalls im Rahmen des Projekts Neapolis praktiziert wird, ist hingegen über jeden Zweifel erhaben: Auf dem Computer sind 9000 Seiten von Ausgrabungstagebüchern und 800 antike Papyri gespeichert. Hier ermöglicht der Rechner nicht nur das rasche Auffinden des gewünschten Blattes, sondern er hilft mit raffinierten elektronischen Zoom- und Filtereffekten, daß der Forscher auf dem Bildschirm antike Texte lesen kann, die er auf dem Original gar nicht entziffern könnte. Wenn man beispielsweise auf den digital erfaßten Resten der verkohlten Papyrusrollen die Flecken verschieden einfärbt, läßt sich die Schrift von den Verunreinigungen auseinanderhalten.

Auch für die rund zwei Millionen Touristen, die Pompeji jedes Jahr überfluten, wird etwas vom Informatik-Großprojekt abfallen: ein elektronischer Ratgeber für den Besuch der antiken Ruinen. Am Haupteingang werden einfache Computerterminals mit nur vier Bedienungstasten installiert. Neugierige Besucher können mit den Apparaten einen rudimentären Dialog führen. Wenn sie dem Computer verraten, wieviel Zeit sie für Pompeji haben und was sie interessiert, stellt dieser ihnen ein individuelles Programm zusammen - samt Hinweisen auf spezielle Veranstaltungen und Ausstellungen.

Der nächste Schritt wäre dann wohl ein System, das die Besucher direkt von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit schickt - etwa so: "Gehen Sie 50 Meter geradeaus und dann rechts um die Ecke bis zum nächsten Bildschirm. Der wird Ihnen weiterhelfen."

Touristen am elektronischen Gängelband? Was für Kunst und Geschichtsinteressierte eine Horrorvorstellung ist, wäre für die bedrohten Schätze der Antike gar nicht so schlecht: So könnte man die Besucherhorden elegant an heiklen Stellen vorbeilotsen.

Während solche Computeranwendungen zumindest in den Köpfen von Martino Politi und seinen Kollegen herumschwirren, wurde beim Projekt Neapolis ein anderer Einsatz moderner Technik ausgeklammert: die Beobachtung des in letzter Zeit wieder unruhiger gewordenen Vulkans und der Versuch, einen allfälligen Ausbruch rechtzeitig zu prognostizieren.

Die Forscher, so meine private Spekulation, gehen da wohl von zwei ganz nüchternen Überlegungen aus: Zum einen ließe sich ein künftiger Vulkanausbruch auch mit Computerhilfe nicht abwenden, und zum andern wäre die nächste Rekonstruktion von Pompeji viel einfacher - man müßte dazu bloß die Daten ausgraben, die man vorher in den Computer gepackt hat.

Das Rechnersystem des Konsortiums Neapolis

Die Computerausrüstung des Konsortiums Neapolis ist gigantisch: Als Zentralrechner fungiert ein IBM Großrechner vom Typ 3090/150E. Daran angeschlossen sind zahlreiche PS/2-Computer, grafische Arbeitsstationen sowie Systeme für die Verarbeitung von Karten und Dokumenten.

Die bei der KataIogisierung gesammelten Aufnahmen und Daten werden in eine relationale Datenbank eingegeben. Der Benutzer kann Informationen, die er früher aus verschiedensten Quellen mühsam zusammentragen mußte, praktisch auf Tastendruck abfragen. Die Daten lassen sich nach beliebigen Kriterien verknüpfen und miteinander in Beziehung bringen.

In der Kartographie-Abteilung werden Flugaufnahmen digitalisiert, mit einem IBM System 5080 grafisch aufbereitet und schließlich von einem Stereo-Wiedergabegerät zu Karten verarbeitet.

Die Analyse und Verarbeitung von Fresko-Aufnahmen geschieht auf Terminals und Personal Computern sowie mit einem Spezialsystem, das über 64 000 verschiedene Farbtöne unterscheiden kann. Die elektronische Farbpalette wurde speziell auf die vorwiegend rötlichen Malereien von Pompeji angepaßt. "Hätten die Bilder neben den vielen Rotabstufungen ebensoviele Blau- und Grüntöne", erklärte der verantwortliche Informatiker, "müßte das System sehr viel mehr Farben verarbeiten können."