Neue Herrscher über die Prozesse

03.06.2004 von Sascha Alexander
Unter dem Schlagwort Business-Process-Management (BPM) versuchen Hersteller von Integrationssoftware und Analysten, die bisher von technischen Aspekten dominierte Diskussion um eine Unternehmenssteuerung mit Hilfe von Geschäftsprozessen strategischer anzugehen. Heraus kamen interessante Neuerungen in den Produkten, aber auch ein unübersichtlicher Markt.

Unter den Kürzeln, die Hersteller und Analysten zum Thema Anwendungsintegration in Umlauf bringen, ist BPM vielleicht das vieldeutigste. Die damit verbundene, oft akademische und widersprüchliche Diskussion füllt mittlerweile Bände und hat doch zu keiner eindeutigen Definition geführt. Grundsätzlich lässt sich aber festhalten, dass BPM den Fokus auf die Gestaltung und Steuerung der Anwendungen durch Geschäftsprozesse legt.

Quelle: IMSI

Statt nur selektiv Kontrollflüssen zwischen einzelnen Anwendungen zu koppeln, wie dies heute meist Projektalltag ist, sollen künftig die einzelnen Abläufe zu übergreifenden End-to-End-Prozessen organisiert werden. Nicht mehr einzelne Anwendungen haben in diesem Szenario die "Prozesshoheit", sondern quer und unabhängig zu diesen werden Abläufe je nach Bedarf immer kleinteiliger gestaltet, kontinuierlich verbessert (orchestrieren) und implementiert. Dabei umfasst BPM nicht nur Prozesse zwischen und sogar in Anwendungen wie Unternehmenssoftware, sondern bezieht menschliche Arbeitsabläufe (Workflow) ein.

Ziel ist letztlich der Aufbau eines Regelkreises, erklärt Sacha Strathmann, Principal Consultant und EAI-Spezialist bei der Entory AG in Ettlingen. Dieser umfasst die fachliche Modellierung der Prozesse, deren Messung (Balanced Scorecard etc.), die technische Modellierung, die Automatisierung und Integration mittels Technik für Enterprise Application Integration (EAI) und zum Aufbau serviceorientierter Architekturen (SOA).

Hinzu kommt das Monitoring der Prozesse, dessen Ergebnisse wieder bei der Messung berücksichtigt werden (siehe Grafik "Regelkreis"). Mit Hilfe eines Regelkreises ließen sich Prozesse kontinuierlich steuern, was Unternehmen beispielsweise den Vorteil bringe, ihre Lagerbestände optimieren zu können sowie aufgrund schnellerer Durchlaufzeiten Kosten einzusparen. Zentral sei es dabei, die Abläufe ständig zu überwachen und zu messen: "Mit steigender Zahl der Durchläufe verbessert sich der Prozess, da Stück für Stück Schwachstellen und Engpässe entdeckt und behoben werden können", sagte Strathmann.

Manche Kritiker behaupten, dass BPM inhaltlich nichts Neues bringe. Die Diskussion über das Management von Geschäftsprozessen lasse sich bis auf Systemtheorien aus den 20er Jahren zurückdatieren. IT-Experten verweisen darauf, dass die gleiche Debatte noch vor einigen Jahren unter dem Schlagwort "Business Process Reeingineering" geführt wurde, von dem heute die Hersteller nichts mehr hören wollten.

Regelkreis sichert effektives Business-Prozess-Management: Damit BPM funktioniert, müssten Geschäftsprozesse über eine Plattform durchgängig geplant, geprüft, modelliert, integriert und überwacht werden. (Quelle: Entory)

Für Rüdiger Spies, Vice President Enterprise Applications beim Beratungshaus Meta Group in Ismaning, ist das Interesse an BPM vor allem dem erfolgreichen Marketing einiger EAI-Hersteller zu verdanken. Diese suchten angesichts fallender Lizenzpreise und der wachsenden Verbreitung von Web-Services als Integrationsvehikel nach neuen Wachstumsmärkten und einer Überlebensstrategie.

Ebenso wird eifrig darüber diskutiert, ob es eine eigene Produktkategorie für Business-Process-Management-Systeme (BPMS) geben sollte oder ob bisherige Integrationstechniken ausreichen. Befürworter behaupten, dass erst mit einem zentralen BPMS bisher getrennt angebotene EAI- und Workflow-Technik verschmelzen.

Erstere diene vor allem einer technischen Integration strukturierter Daten und biete rudimentäre Prozessmodellierung, Workflow-Technik sei hingegen auf eine Automatisierung von Arbeitsabläufen und der Verarbeitung unstrukturierter Daten spezialisiert. Hinzu kommt als dritter BPMS-Baustein ein Abstraktions-Layer für Geschäftsprozess-Modellierung, wobei hier künftig auch Design-Werkzeuge (Business Process Modelling) wie das "Aris Toolset" von IDS Scheer herangezogen werden. Befürworter von BPMS, die sich seit einigen Jahren vor allem über die Community BPMI (www.bpmi.org ) austauschen, erwarten, dass sich mit der Weiterentwicklung der Produkte künftig nicht nur IT-Spezialisten, sondern zunehmend auch Fachanwender mit der Gestaltung und Dokumentation von Prozessen beschäftigen werden.

Da ferner das Monitoring und Messen von Prozessen, das auch unter der Bezeichnung "Business Activity Monitoring" (BAM) vermarktet wird, Bestandteil des Regelkreises und somit eines vollständigen BPMS sein sollte, sieht Meta-Analyst Spies noch eine weitere Produktkategorie: Software für Business Intelligence (BI) und Data Warehousing. Und tatsächlich wird auch in diesem Markt das Akronym BPM verwendet, steht jedoch für "Business Performance Management" und betont die betriebswirtschaftliche Bedeutung einer Prozess- und Datenintegration für die Unternehmenssteuerung.

Anwendungszenarien

Vor allem Software für Business Intelligence soll dabei die gesamte Wertschöpfungskette eines Unternehmens beobachten und auswerten und Daten liefern, mit denen sich die Leistung eines Unternehmens bewerten, verbessern und steuern. Technisch sollen dabei künftig für BAM auch Prozessdaten erfasst und ausgewertet werden. Für Spies sind daher beide BPM-Varianten Teilbereiche einer umfassenden Prozessoptimierung.

An der verbreiteten Meinung, dass EAI-Plattformen für BPM nicht ausreichend sein könnten, sind die Anbieter nicht ganz unschuldig. So wurden EAI-Produkte etwa von Tibco, Seebeyond, Vitria, Webmethods, Sterling Commerce oder IBM meist als Lösungen für die Integration von Daten und Anwendungslogik sowie reines Straight-Through-Processing (STP) angepriesen. Letzteres bedeutet, dass ein Prozess einmal erfolgreich angestoßen wird und alle nachfolgenden Prozesse gesteuert über ein intelligentes Software-Tool automatisch ablaufen.

Interview mit Michael Neff, CIO bei Heidelberger Druck:

"Business-Process-Management: Die Sicht des CIO"

Tatsächlich ist EAI schon weiter: Viele Hersteller bieten neben Adaptern und Technik zur Transformation von Daten und entfernter Systemaufrufe bereits seit Jahren auch Werkzeuge zur Prozessmodellierung und -integration. "Allerdings wurde die Methodik und eine betriebswirtschaftliche Sicht auf die Prozesse bei der Vermarktung vernachlässigt", erklärt EAI-Experte Strathmann.

Die Softwarebranche wird derweil durch diese Debatte und Klassifizierung zusehends unübersichtlich und macht Anwendern eine Produktauswahl anhand von Marktkriterien fast unmöglich. Über 50 Hersteller unterschiedlichster Herkunft werben in ihren Broschüren für BPM und SOA. Marktforscher wie Forrester Research versuchen, die Produkte anhand typischer Anwendungsgebiete grob zu sortieren und haben sogar ein Segment "echter" BPM-Anbieter ausgemacht (siehe Tabelle "Anwendungsszenarien").

Andererseits bezweifeln EAI-Kenner wie Richard Nußdorfer, Geschäftsführer des Münchner Beratungshauses CSA Consulting, dass es heute schon vollständige BPMS gibt und diese überhaupt eine eigene Produktkategorie darstellen. "Viele Marketiers wissen gar nicht, wovon sie reden."

Auch andere Integrationsexperten argumentieren, dass BPM Teil einer EAI-Plattform sein (bleiben) sollte, die zugleich die Ablaufumgebung (Integration Server) stellt und alle benötigten Komponenten integriert. "EAI-Produkte haben sich mittlerweile von einer Toolbox zum Business-Werkzeug weiterentwickelt", sagte Wolfgang Gebhard, Product Marketing Manager bei Tibco.

So ließen sich Prozesse heute beispielsweise Prozessschritte granularer aufbauen. Es sei laut CSA-Geschäftsführer Nußdorfer zudem schlichtweg falsch, zu behaupten, EAI-Produkte böten bisher keine Unterstützung für Workflows und die damit oft einhergehenden lang laufenden Transaktionen. "Es gibt aber noch riesige Unterschiede bei der Funktionalität der Modellierungskomponenten sowie im generierten Code." Außerdem bieten nur Spitzenprodukte die für BPM propagierte Möglichkeit, Prozesse dynamisch zu ändern. "Viele Tools haben heute noch ein katastrophales Handling." Ebenso würden erst langsam BAM-Funktionen verfügbar, ergänzte Entory-Manager Strathmann.

Als vielleicht wichtigste Neuerung im Zusammenhang mit BPM entstehen außerdem Sprachen zur Beschreibung system- und konzernübergreifender Geschäftsprozesse mit Hilfe von XML, die einmal proprietäre Prozessmodelle ablösen könnten. Wichtige Initiativen sind hier die Business Process Modeling Language (BPML) der BPMI, die Business Process Execution Language for Web Services (BPEL, früher auch BPEL4WS), die vor allem von IBM und Microsoft propagiert wird, sowie die Electronic Business XML Initiative (Ebxml), die von den Organisationen Oasis und UN/Cefact entwickelt wird. Mit der Business Process Modeling Notation (BPMN) ist zudem eine einheitliche Kennzeichnung von Prozesselementen in Arbeit.

Trotz der Anstrengungen der Hersteller, ihre Produkte zu einem BPMS aufzuputzen, erwartet Meta-Analyst Spies, dass sich letztlich nur wenige Hersteller im Integrationsmarkt halten können. Anwender sollten daher EAI-Produkte vor allem aus taktischen Gründen kaufen, um kurzfristige Anforderungen abzudecken. Als Gewinner sehe er langfristig die IBM, wenn es um eine technische Anbindung gehe, sowie Microsoft, das künftig über seinen "Biztalk"-Server stark die Prozesse zu seinen Office- und Business-Produkten kontrollieren werde. Hinzu geselle sich die SAP aufgrund ihres betriebswirtschaftliches Wissen um die internen Abläufe der eigenen Unternehmenssoftware, das sie in ihre als "Netweaver" vermarkteten Infrastrukturtechniken einbringen wird. Das Angebot der Walldorfer sei zwar noch nicht voll ausgereift, verdiene aber als einziges im Markt die Bezeichnung BPM-Suite, behauptet Spies.

Ein Blick in den Anwenderalltag offenbart jedoch, dass das Thema Prozess-Management noch am Anfang stehe, vielleicht mit einer Ausnahme: Viele Finanzdienstleister arbeiten seit langem mit methodisch ausgereiften Werkzeugen zur Geschäftsmodellierung wie Aris und haben viel Geld und Zeit investiert. Die resultierenden Modelle deckten laut Berater Strathmann indes meistens nur Teilsichten auf die Prozesse des Unternehmens ab.

Zwar ließen sich die Modelle der diversen Aris-Versionen mittlerweile in einige EAI-Plattformen oder in BPEL überführen. Doch bereiteten die unterschiedliche Mächtigkeit der Prozessbeschreibungen (Granularität) sowie die technische Implementierung Probleme. In anderen Branchen seien brauchbare End-to-End-Prozessmodelle oder gar Dokumentationen für eine Implementierung die Ausnahme. Dies treffe selbst auf die TK- und Automobilindustrie zu, die in puncto Prozess-Management gern als Vorreiter im Markt gesehen werden. "Aber immerhin gibt es in den meisten dieser Unternehmen ein einheitliches Verständnis der Modellierung und Terminologie."