Ratgeber Nearshore-Modelle

Mit der IT ins Ausland?

06.07.2023 von Gustav Bruckner
Um den IT-Fachkräftemangel zu überbrücken, aber auch um Kosten zu sparen, suchen viele hiesige Unternehmen nach Ressourcen in den Nachbarländern. Mit passenden Nearshore-Modellen lassen sich Ärger, Zeit und Geld sparen.
Osteuropäische Städte (im Bild Europas Kulturhauptstadt 2023 Temeswar) bilden nach wie vor attraktive Entwicklungsstandorte für westeuropäische Unternehmen.
Foto: Catalin Lazar - shutterstock.com

Seit über 100 Jahren beliefert der schwäbische Spezialist rund um Drehen, Fräsen, Bohren die weltweit Großen in Maschinenbau, Automobil sowie Luft- und Raumfahrt. Zeitgleich zur weiteren globalen Expansion beschloss der Vorstand, auch das Lieferantennetzwerk zu internationalisieren. Die IT sollte dabei wegen des Fachkräftemangels vorangehen. Aber wie? Offshore oder Nearshore? Und wenn Nearshore, im Westen, Süden oder Osten? Wenn Osten, so Polen, Tschechien, Bulgarien oder Rumänien?

Nur die Gründung einer eigenen IT-Gesellschaft war gesetzt. Nach einigen Länderanalysen und etlichen Meetings rückte Rumänien in den Fokus. Drei Jahre später blickt der CIO auf eine 2,5 Jahre lange erfolgreiche Zusammenarbeit mit einem IT-Dienstleister im Modell verlängerte Werkbank und einem Projektteam aus sieben SAP- und RPA-Fachleuten zurück. Ob der Mittelständler das IT-Team in eine eigene Gesellschaft überführt und weiter ausbaut, steht noch nicht fest.

Singulärer Mitarbeiterzuwachs

Beispiele wie dieses zeigen immer wieder, dass die Realität selten den sorgfältig erarbeiteten abgestimmten und verabschiedeten Strategieplänen folgt, zumindest kurzfristig nicht. Unternehmen brauchen aber trotzdem solche klar umrissenen Pläne, sollten aber auch bereit sein, neue Optionen zu prüfen und zu realisieren, um so schneller ans Ziel zu kommen. Welches Nearshore-Modell dabei die Nachfrage nach IT-Ressourcen am besten erfüllt, hängt entscheidend vom Bedarf des nachfragenden Unternehmens ab.

Manche brauchen etwa nur einen hochspezialisierten remote IT-Mitarbeiter, den sie wegen einem ganz bestimmten, aber seltenen Know-how bei sich schwer finden. Im Prinzip beabsichtigen sie auch nicht, auf mehr Ressourcen im nahen Ausland zu zugreifen. Bei so einem Modell des einmaligen, singulären Mitarbeiter-Zuwachses könnte das Unternehmen eigentlich Recruiter vor Ort oder Jobplattformen bemühen. Aber auch im jeweiligen IT-Bereich spezialisierte Nearsore IT-Dienstleister bieten hier eine verlässliche, breite und überprüfte Auswahl solcher Fachkräfte. Und sollte so ein Mitarbeiter mal ausfallen, so kümmert sich das IT-Unternehmen auch um adäquaten Ersatz und schnelle Einarbeitung.

verlängerte Werkbank

Oft führt ein als singuläres Mitarbeiter-Zuwachs begonnenes Nearshore-Modell beim IT-Provider zu einer größeren Gruppe von remote IT-Fachkräften, die das betriebsinterne Projektteam des Auftraggebers unterstützen. So können beide Partner sukzessive aufeinander zugehen und die Zusammenarbeit in ein als verlängerte Werkbank bekanntes Modell überführen. Sie optimieren schrittweise ihre jeweiligen Prozesse, verteilen klare Verantwortlichkeiten und wachsen als unternehmensübergreifendes Team zusammen.

So eine organische Erweiterung der Kooperation schützt beide Seiten vor dem Sprung ins kalte Wasser. Sie bedarf keines so umfangreichen Lastenhefts oder überbordender Vertragsentwürfe, da sie auf einer gewachsenen Vertrauensbasis und einem gemeinsamen Verständnis der Prozesse und Aufgaben aufbaut sowie Nachfrage und IT-Angebot gut zusammenbringt. Die Vergütung dieser Leistungen kann nach Zeit und Materialien, auf Basis von Tagessätzen oder monatlichen Fixbeträgen pro Mitarbeiter erfolgen.

Dediziertes Projektteam

Beim nächsten, etwas höherwertigeren Nearshore-Modell, das auf Basis eines umfangreichen Leistungskatalogs, einer klaren Produktvision oder eines neu zu etablierenden Geschäftsmodells arbeitet, übernimmt ein speziell beim IT-Dienstleister dafür zusammengestelltes Team den größten Teil der Aufgaben. Bei Softwareprojekten beispielsweise treibt ein Produktmanager gemeinsam mit dem Prozessverantwortlichen und Teamleiter mit seinem dedizierten Projektteam aus Programmierern, Qualitätssicherern und Testern das Projekt voran. Bei solchen IT-Projekten trägt der IT-Dienstleister die Projekt-, Budget- und Mitarbeiterverantwortung, was oft eine Festpreisvereinbarung miteinschließt.

Für ihn steigen damit zwar die Risiken, aber vor allem auch die Chancen, was sich auf die gesamte Motivation seines IT-Teams und somit auch auf den Erfolg als sehr förderlich auswirkt. Auftraggeber, die auf dieses Nearshore-Modell setzen, sollten einerseits solche Projekte im Vorfeld sehr genau vorbereiten - nicht alle Aufgaben eignen sich dafür - andererseits aber den Dienstleister in der Wahl der Lösungsansätze so wenig wie nötig einschränken. Dieses Modell setzt in der Praxis voraus, dass Auftraggeber vor Projektvergabe etwa mehrere potenzielle SAP- und IT-Dienstleister prüfen, auswerten und auch vor Ort kennenlernen sollten.

Betreibermodelle

Einen Schritt weiter gehen Betreibermodelle, engl. BOT (Build, Operate, Transfer). Bei diesem ursprünglich aus öffentlichen Infrastrukturprojekten kommenden Modell geben Unternehmen bestimmte klar umrissene IT-Leistungen ab beziehungsweise lassen neue IT-Aufgaben von IT-Dienstleistern aufbauen. Dabei streben sie in Zeiten des IT-Fachkräftemangels und des steigenden Kostenbewusstsein verstärkt in Nearshore-Länder. Dort übernimmt ein IT-Provider die Leistungen beziehungsweise baut sie zuerst auf und betreibt sie anschließend in eigener Verantwortung.

Nach einer gewissen Zeit kann das auslagernde Unternehmen die IT-Leistungen wieder in eigener Regie übernehmen und beispielsweise vor Ort in einer Tochtergesellschaft weiterführen oder mit dem Betreiber ein Joint-Venture gründen. Solche BOT-Modelle müssen auf einem gemeinsamen Verständnis von Zielen, Leistungen, Zeitschiene und Kosten fußen. Ihr Erfolg hängt entscheidend vom Management des IT-Dienstleisters ab, seinen internationalen Projekterfahrungen, seiner Attraktivität für heimische IT-Spezialisten und respektvollem kulturellen Miteinander.

Business Process Outsourcing

Beispielhaft für ein weiteres Nearshore-Modell, das Business Process Outsourcing (BPO), stehen Prozesse aus dem Personalwesen, das oft selbst unter Fachkräftemangel leidet. Denn standardisierte, immer wieder reproduzierbare Prozesse, wie etwa die Payroll, erbringen fürs Unternehmen keinen strategischen Mehrwert. Trotzdem müssen sie sicher, verlässlich und kostengünstig erfolgen. Bei zu wenigen personellen Ressourcen drohen hier Risiken, die Nearshore-Anbieter abfedern können.

Allerdings sollten im Vorfeld auslagernde Unternehmen solche BPO-Dienstleister unter die Lupe nehmen. Haben sie die notwendige finanzielle Stabilität, um die Business Prozesse langfristig erfolgreich zu betreiben? Wie sieht ihre dafür qualifizierte Personalbasis und das Recruiting aus? Welche Referenzen weisen sie vor, welche BPO-Erfahrung haben sie? Können sie neben den fachlichen und sprachlichen Anforderungen auch entsprechende IT- und Infrastrukturleistungen erfüllen? Auch die Verbindungen zu anderen IT-Systemen erbringen, Updates und Pflege der Parameter und alles auch DSGVO-konform machen?

Anfangs dürften die Kosten für solche BPOs vielleicht noch etwas höher liegen. Kalkulieren die auslagernden Unternehmen aber ihre Kosten für die Infrastruktur, die Hardware, die jeweiligen Release- und Supportarbeiten, das Recruiting und die Ausbildung sowie die geringeren Personalkosten mit ein, überwiegen auch hier bald deutlich die Vorteile.

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