Big Data Anwendungsgebiete

Mit Big Data auf Verbrecherjagd

13.10.2013 von Uwe Küll
Das Phänomen Big Data geistert seit gut zwei Jahren durch die (Fach-)presse. Viel Theorie, wenig Anwendungen. Doch es gibt sie, die Beispiele.

Es ist kurz vor zwei Uhr nachts, irgendwo in einem Londoner Vorort, als die beiden Polizisten im Streifenwagen per Funk die Anweisung erhalten, einen verdächtigen Vorgang in der Nähe zu kontrollieren. "Dort ist eine Unterbrechung des Telefonnetzes diagnostiziert worden, die auf Kabeldiebstahl hindeutet", tönt es aus dem Lautsprecher, während der Fahrer die Signalanlage einschaltet und aufs Gaspedal tritt. Nach wenigen Minuten sind die Beamten am Tatort. Zwar sind die Täter bereits geflohen, doch ihr Diebesgut mussten sie auf der Flucht zurücklassen.

Mit Big Data auf Verbecherjagt
Foto: Arno Bachert, Fotolia.com

Fälle wie dieser sind in Großbritannien keine Seltenheit. Zigtausende von Störungen pro Jahr infolge von Kabeldiebstahl registrieren die Experten des Netzbetreibers BT. Die Hoffnungen auf eine Besserung der Situation ruhen unter anderem auf Assure Analytics. So heißt die von BT entwickelte Big-Data-Anwendung, die im Kampf gegen den gewerbsmäßigen Diebstahl von Telefonkabel zum Erfolg verhelfen soll. Organisierte kriminelle Banden unterbrechen Leitungen, ziehen die Kabel aus dem Boden und verkaufen das darin enthaltene wertvolle Kupfer als Altmetall. Simon Davies, als General Manager bei BT auch zuständig für die Bekämpfung des Kabeldiebstahls: "Für BT bedeutet das finanzielle Verluste in Millionenhöhe. In einigen Fällen waren schon ganze Kommunen ohne Telefon."

Assure Analytics soll diese Verluste verringern und die Verfügbarkeit der Services für die Kunden erhöhen. Das System erfasst Daten aus unterschiedlichen Quellen in den verschiedensten Formaten. Dazu gehören Maschinendaten von Servern und anderen Netzkomponenten ebenso wie E-Mails der Techniker, Geo-Koordinaten und viele andere Informationen aus dem Umfeld jedes Vorfalls. Assure Analytics kombiniert sie miteinander und bereitet sie visuell so auf, dass die Ziele möglicher zukünftiger Attacken auf einer geografischen Karte sichtbar werden.

Auf Basis dieser Informationen können sowohl Entstörungstechniker von BT als auch Polizeistreifen ihre Routinefahrten so organisieren, dass sie ein hohes Abschreckungspotenzial entfalten und im Falle einer Störung schneller als früher zur Stelle sind. Zwar gelang noch keine Festnahme "in flagranti", doch konnten die Täter durch das schnelle Eintreffen der Polizei gezwungen werden, ohne Beute vom Tatort zu fliehen. Das reduziert sowohl den direkten materiellen Schaden für BT als auch die Zeit zur Wiederherstellung der durchtrennten Leitung.

Big Data in Zahlen
Karl Valentin hat einmal das Bonmot geprägt, schwer sei leicht was. Das kann man für den Trend Big Data mit Sicherheit auch behaupten. Sinnvoll in der Theorie, schwer in der Realisierung. Wir liefern ein paar Fakten.
Welche Probleme sehen Sie beim Einsatz von Big Data?
Big-Data-Konzepte werden nicht vorangetrieben, weil es an den richtigen Skills fehlt.<br> Angaben in Prozent; n = 206; Mehrfachnennungen möglich; Quelle: BARC

Schlechte Nachricht für Diebe

Tatsächlich lassen sich die positiven Folgen der Arbeit mit Assure Analytics bereits messen: So stieg in den ersten elf Monaten die durchschnittliche Zahl der Festnahmen pro Monat im Zusammenhang mit Kabeldiebstählen um acht Prozent. Insgesamt wurden in dieser Zeit 480 Diebe gefasst und fast 260 Tonnen gestohlenes Kupfer sichergestellt. Im Betrachtungszeitraum 2012/2013 wurden nur noch 109 Tonnen gestohlenes Metall aus BT-Netzen sichergestellt.

Die Verantwortlichen sehen das als Erfolg der permanenten Analyse aller relevanten Daten zum Kabeldiebstahl und weiterer Maßnahmen wie etwa der engen Zusammenarbeit mit der Polizei. Simon Davies sagt: "Durch den Einsatz von Assure Analytics können wir die Risiken besser vorhersagen. Das wird die Abschreckungswirkung erhöhen und die Zahl der Diebstähle reduzieren. Für Bürger und Unternehmen heißt das: weniger Störfälle."

Für Carsten Bange, Geschäftsführer des Business Application Research Center (BARC), liegt die Besonderheit von Big Data in einem strategischen Umgang mit Daten. "Auswertungen von strukturierten und unstrukturierten Daten aus unterschiedlichen Quellen, die bislang nur punktuell und mit hohem zeitlichem Aufwand vorgenommen wurden, werden Bestandteile von Standardprozessen und ermöglichen dadurch qualitative und quantitative Optimierungen von Produkten und Services."

Papierstapel groß wie ein Hochhaus

Bei der Software Diagnostics GmbH aus Potsdam verrät schon der Firmenname, wofür die neuen Technologien eingesetzt werden: "Wir nutzen Big Data vor allem als Chance, die gigantischen Datenmengen, die bei der Entwicklung von Software anfallen, automatisiert zu analysieren und die Ergebnisse in Form eines dreidimensionalen Stadtplans zu visualisieren", erklärt Johannes Bohnet, Managing Director bei Software Diagnostics. Zu den Quellen zählen unter anderem der Sourcecode, das Konfigurations- oder Änderungs-Management und Issue- oder Bug-Tracking-Systeme.

Um den wirtschaftlichen Nutzen von Big Data bei der Analyse von Software-Entwicklungsprojekten zu verdeutlichen, verweist Bohnet auf die Untersuchung "Maintaining Mental Models: A Study of Developer Work Habits" von Thomas LaToza und Robert DeLine von Microsoft Research. Demnach verbringen Entwickler 15 Prozent ihrer Arbeitszeit damit, Code durch Refactoring verstehbarer zu machen. 49 Prozent der Zeit entfallen auf Bug-Korrekturen. Nur 36 Prozent der Entwicklerzeit stehen für die Erstellung neuer Funktionalität zur Verfügung.

"Big-Data-Technik hilft, den Anteil der wertschöpfenden Arbeit der Entwickler zu erhöhen", sagt Bohnet. Beispiel: der Sourcecode von Android. Wollte man alle Codezeilen des Mobile-Betriebssystems ausdrucken, um sie zu analysieren, wie es in der Softwareentwicklung nicht unüblich ist, erhielte man in diesem Fall einen Papierstapel von der Höhe eines 22-stöckigen Hochhauses. Ein Überblick über die Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Modulen und Funktionen ist so kaum möglich. "Mit Hilfe von Big Data und Business Intelligence hingegen lassen sich baufällige Softwaremodule schnell ausmachen", kommentiert Bohnet.

Erfahrungen beim Einsatz von Big-Data-Techniken
Es ist nicht so, dass noch niemand Big-Data-Projekte angegangen wäre. Es gibt sogar einige Beispiele von Unternehmen, die solche Projekte mit Erfolg absolviert haben.
Deutsche Welle
„Essenziell auch für Big-Data-Projekte sind eine klare Aufgabenstellung, Fokus auf die Lösung und die Nutzer dieser Lösung (weniger auf neueste Informationstechnik) und nicht zuletzt auch ein Gespür für Usability und Funktionsumfang eines Reporting-/Analyse-Dashboards. Weniger ist hier meistens mehr.“
DeutschlandCard GmbH
„Nur ein minutiöser Migrationsplan mit mindestens einer kompletten Generalprobe inklusive Fallback-Test sichert die Betriebssicherheit einer solch komplexen Applikation mit ihren zahlreichen Schnittstellen zu externen Partnern.“
Schukat Electronic
„Big Data Analytics ist nicht nur eine Herausforderung für Großunternehmen. Auch der Mittelstand muss sich immer mehr mit diesem Thema beschäftigen, um im internationalen Wettbewerb erfolgreich zu sein. Das Anwendungsbeispiel verdeutlicht den Nutzen im Vertrieb. Aber beispielsweise auch in der Produktion mit Sensordaten etc. gibt es vielfältige Szenarien in den Fachabteilungen.“
Otto Versand
„Wir haben erkannt, dass für unsere Anforderungen ein selbstlernendes System notwendig ist, das sich stetig ändernde Einflussfaktoren wie Ansprache und Artikel- Ranking oder im Printbereich Seitenanteil und Katalogausstoßmenge berücksichtigt. Damit steigt unsere Prognosequalität kontinuierlich, und die prognostizierten Absatzmengen werden immer präziser. Außerdem können wir uns frühzeitig auf künftige Entwicklungen einstellen.“
Macy‘s
„Der Business-Nutzen zeigt sich erst, wenn Prozesse, die aufgrund fehlender Möglichkeiten bewusst eingeschränkt waren, verbessert werden. In diesem Fall ist es die früher gar nicht mögliche, sehr viel häufigere Preisoptimierung im Gesamtsortiment. Auch können nun sehr viel aktuellere Abverkaufszahlen mit in die Analyse einbezogen werden.“
Telecom Italia
„Bestehende Segmentierungsmodelle können um rollenbasierte Modelle erweitert werden, indem der Einfluss auf das soziale Umfeld durch Leader, Follower etc. verdeutlicht wird. Leader gelten als Kommunikations-Hubs und haben einen starken Entscheidungseinfluss auf ihr Umfeld. Marketing- Strategien und Ansätze zur Kundenakquise können durch SNA optimiert werden. Eigenschaften der Communities, Wechsel zwischen den Communities und die Identifikation von Teilnehmern in Schnittstellenbereichen ermöglichen Rückschlüsse auf neue Kundensegmente und Zielgruppen.“
Netapp
„Das auf Apache Hadoop basierende System arbeitet sicher, zuverlässig und höchst performant. Die Java-basierende Plattform verwendet offene Technologien und ist somit flexibel erweiterbar. Kunden vermeiden so bei niedrigen Betriebskosten (TCO) ein Vendor-Lock-in.“
Semikron GmbH
„Big-Data-Projekte sind komplex. Oft sind Unternehmen nicht in der Lage, ihre tatsächlichen Datenbestände für die geplanten Projektvorhaben hinsichtlich ihrer Volumenentwicklung abzuschätzen. Bei Semikron hat sich beispielsweise gezeigt, dass sie von einem viel größeren Datenvolumen ausgegangen sind, als es tatsächlich der Fall war. Bei dem durchgeführten Proof of Concept stellte sich heraus, dass zwar die Vielzahl an Daten, die in den typischen Produktionsprozessen anfallen, sehr hoch ist, nicht aber das Datenvolumen.“
Vaillant Group
„Allein die Umstellung der Systemlandschaft auf innovative Big-Data-Architekturen aus technischer IT-Perspektive ergibt belastbare Business Cases zur Reduzierung des TCO. Noch deutlich übertroffen werden für Fachabteilungen die Resultate aus dem Mehrwert der neuen Lösungen und Möglichkeiten in Verbindung mit der drastischen Reduzierung der Bearbeitungszeiten durch die Anwender.“
TomTom
„Um die kompletten Anforderungen des Kunden in Big- Data-Projekten erfüllen zu können, ist übergreifendes Know-how erforderlich, das die Konfiguration von Hard- und Software, das Tuning und technisches Consulting umfasst.“
United Overseas Bank (Singapur)
„Entscheidend ist das Denken in Geschäftsprozessen. Wird nur ein Teil beschleunigt, der Gesamtprozess bleibt aber unangetastet, so lässt sich der Vorteil nicht realisieren. Sowohl das Daten-Management im Vorfeld als auch die Echtzeit-Nutzung der Echtzeit-Ergebnisse sind bestimmende Faktoren für den erfolgreichen Einsatz dieser neuen Lösung.“
Xing
„In kürzester Zeit stellten sich positive Effekte bei Xing ein, vor allem eine deutliche Verbesserung bei den Analysen. Prozesse können durch die neue Lösung schneller entwickelt und Ad-hoc Anfragen zügiger beantwortet werden. Es sind keine langen Workarounds mehr notwendig, alle BI-Mitarbeiter nutzen das neue System effektiv. Die Komplexität und die Wartung des Systems wurden merklich verringert. Bei der Arbeit mit der neuen Lösung konnte eine steile Lernkurve seitens der Anwender verzeichnet werden, auch wird spürbar produktiver gearbeitet.“
In eigener Sache:
Mit diesen Anwenderzitaten wollen wir Ihnen Lust machen auf das nächste Heft in unserer vierteiligen Quadriga-Reihe. Titelthema ist Big Data. Anwenderbeispiele, visionäre Konzepte und Meinungen runden das Thema ab. Auch auf die Megatrends Mobility, Cloud Computing und Social Media werden wir wieder eingehen. Erscheinungstermin: 10. Juni 2013.

1073-mal um die Erde gefahren

Dass man auch Big-DataAnwender sein kann, ohne es zu wissen, zeigt sich im Bereich Telematik, Navigation und Flotten-Management. Axel Backof, Sales Director DACH bei TomTom Business Solutions, erklärt das so: "Mit HD Traffic nutzen wir die Bewegungsdaten von 250.000 Fahrzeugen unserer Business-Kunden und zusätzlich von Millionen TomTom-Benutzern auf Europas Straßen, um dem Anwender etwa Staus frühzeitig anzuzeigen."

Um die Fahrer im Minutentakt auf dem aktuellen Stand der Verkehrslage zu halten, werten die Systeme jeden Tag die Daten aus einer Million Fahrstunden und 43 Millionen gefahrenen Kilometern - das entspricht 1073 Erdumrundungen - aus. Backof: "Die Echtzeitdatenanalyse dient vor allem der Optimierung von Logistikprozessen."

Gesetzlich definierte Krisenreaktionszeiten

Neben Kurierdiensten und Speditionen nutzen vor allem Serviceunternehmen die Möglichkeiten der Big-Data-Anwendung HD Traffic. Sie geben beispielsweise ihrer Notfall-Hotline Zugriff auf das System. Insbesondere im technischen Service von Versorgungunternehmen kommt es auf jede Minute an, denn hier sind gesetzlich vorgegebene Krisenreaktionszeiten einzuhalten. Doch auch Handwerksbetriebe und natürlich die Transportunternehmen vom Paketkurierdienst bis zum klassischen Spediteur profitieren auf diese Weise von Big Data: vermiedene Staus, Senkung des Treibstoffverbrauchs und Schadstoffemissionen. Backof zufolge werden so täglich rund 7,5 Millionen Liter Treibstoff und 20.000 Tonnen CO2 eingespart. (mhr)

Nach Einschätzung von Industry Analyst Rüdiger Spies zeigen die hier dargestellten Beispiele, wie die "vier V" Big Data im Zusammenspiel erfolgreich machen:

In aller Regel werden vergleichsweise große Datenmengen einbezogen.
Es werden Daten aus verschiedenen Quellen und in unterschiedlichen Formaten herangezogen.
Die genutzten Daten sind schnellem Wandel unterworfen und werden in (Nahezu-)Echtzeit ausgewertet.
Der Wert der Daten im Unternehmenskontext ist hoch.

Spies ergänzt: "Ein einzelnes ,V` macht noch kein Big-Data-Projekt. Die Komplexität und damit auch der Wert entsteht durch die Kombination der Faktoren."