Linux auf dem Desktop weckt Interesse

22.05.2003 von Ludger Schmitz
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Lange Zeit wurde die Idee belächelt, Linux auf dem Desktop etablieren zu wollen. Zu weit hinkten die Anwendungen hinter der Microsoft-Welt hinterher. Seit gut einem Jahr ist das anders. Die Möglichkeiten und Grenzen der Desktop-Alternative sind in der Diskussion.

Schon in vergangenen Jahren waren Linux-Desktops auf einschlägigen Veranstaltungen wie „Linux-Tag“ oder „Linux-World“ ein Thema. Diskutiert wurden erste Fälle, in denen Anwender Arbeitsplatzrechner auf Linux-Basis betrieben. Der Versicherungskonzern Debeka etwa hatte über 3000 Clients auf das Open-Source-System umgestellt. Außerdem, so war damals zu hören, liefen in der öffentlichen Verwaltung gut ein Dutzend Pilotprojekte zur Nutzung von Linux auf normalen Office-Desktops.

Foto: ls

Dabei ist es nicht geblieben. Die Münsteraner Versicherung LVM ist mit bisher rund 7000 Arbeitsplatzrechnern auf Linux gewechselt. Auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene läuft in mehreren Großprojekten die Migration auf Linux-Desktops. Das verwundert Markus Huber-Graul, Analyst der Meta Group, nicht: „Man kann sich einiges sparen. 50 Prozent der IT-Kosten fallen im Client-Bereich an.“

Sparen müssen die IT-Abteilungen jedoch alle, ob sie nun in Unternehmen oder in der öffentlichen Verwaltung ansässig sind. Trotzdem stürzen sich nicht alle auf Linux. Nach übereinstimmender Ansicht der meisten Open-Source-Beobachter der Entwicklung zeigen Versicherungen und Behörden das meiste Interesse an Linux auf Desktops. Es folgen die Banken. Und inzwischen melden selbst mittelständische Unternehmen wie der Edelpfannenhersteller Berndes, Arnsberg, oder die Fürther Kerscher-Metalle die Verwendung von Linux-Desktops.

Dabei ist ein klares Muster in der Nutzung von Open-Source-Produkten zu erkennen. Es gibt zwei Grundtypen, die etwas mit der spezifischen Struktur der IT bei den Anwendern zu tun haben. Versicherungen beispielsweise verwenden Linux am Frontend auf PCs, auf denen wenige Host-basierende Spezialanwendungen unter einem Browser oder Portal laufen. An diesen Arbeitsplätzen geht es in erster Linie um einfache Eingabe- und Berechnungsfunktionen. Hier ersetzt Linux kein Windows, sondern die alte Host-Terminal-Umgebung.

Ganz anders in der öffentlichen Verwaltung, wo Open Source Microsoft von den Desktops zu verdrängen beginnt. Auf den Fat Clients läuft statt Microsofts Office-Paket die kostenlose Alternative Open Office. Microsoft-Makros, die Open Office nicht verarbeiten kann, werden in diesen Ämtern nur wenig genutzt, sind also kein großes Migrationshindernis. Und der größte Teil ihres Datenaustausches erfolgt mit kommunalen Rechenzentren, die Linux unterstützen. In der öffentlichen Verwaltung weit verbreitete PC-Anwendungen wie das Dokumenten-Management-System „Domea“ von SER sind inzwischen auf Linux portiert.

Open-Source-Welt mit Microsoft-Inseln

In der Regel bleibt es aber bei einer Mischform aus Linux- und Windows-PCs. Die Microsoft-Plattform bleibt beispielsweise dort erhalten, wo aufwändige Excel-Kalkulationen erfolgen, für die umfangreiche selbst entwickelte Makros benötigt werden. Andernorts gibt es noch kein entsprechend leistungsfähiges Linux-Pendant zu Windows-basierenden Anwendungen. Oder man verwendet weiterhin einige Microsoft-Desktops, um Dokumente mit alten Formaten lesen zu können.

Während sich also einzelne Branchen mit Linux auch auf dem Desktop anfreunden, ist das Thema für das Gros der Unternehmen noch immer ein Tabu. Anders sieht es auf den Servern aus. Carlo Velten von Techconsult, Kassel: „Bei den Servern ist eine kritische Masse erreicht, welche die Entwicklung dynamischer macht. Auf der Desktop-Seite fehlt die einfach noch.“ Die Skeptiker können vor allem auf einen Punkt verweisen: Die bisherigen Linux-Desktop-Projekte sind noch zu jung, um abschließend beurteilt werden zu können. Velten fragt: „Ob die wirklich so erfolgreich waren, wie geplant?“

Die Menge der Anwender, die gegenwärtig das freie Betriebssystem auf ihren Desktops nutzen, lässt sich kaum beziffern. Wie groß sie ist, lässt sich kaum ausmachen, weil die Verbreitung des frei kopierbaren Linux sich nicht in zählbaren Lizenzen niederschlägt. Die Meta Group schätzt den Marktanteil von Linux auf Unternehmens-Desktops auf „weniger als fünf Prozent“, so Analyst Huber-Graul. Techconsult geht von drei Prozent aus, und Berater Velten glaubt, dass sich dieser Verbreitungsgrad in jüngster Zeit nicht wesentlich vergrößert habe. „Die Anwender sprechen nicht mehr sofort auf Hype-Themen an. Aber sie wissen, dass sie sich auf das Thema vorbereiten müssen.“

Eine Welle von Machbarkeitsstudien

Die Vorbereitung hat nach Ansicht der befragten Marktbeobachter eine Form: „Es läuft eine große Welle von Machbarkeitsstudien“, erklärt Steffen Binder, Research Director von Soreon im schweizerischen Kreuzlingen, der selbst gerade eine Studie über Linux-Desktops abgeschlossen hat. „Etliche Projekte sind entscheidungsreif.“ Genau so sieht es David Burger, Vice President Enterprise Sales and Services bei Suse: „Viele Anwender haben Machbarkeitsstudien über Linux auf Desktops erstellt.“ Aber wie viele davon auch nur in Pilotprojekte gemündet sind, vermag er nicht zu schätzen. Unsicherheit besteht in diesem Punkt auch deshalb, weil manche Anwender ihre Machbarkeitsstudien dazu angestrengt haben könnten, um sich bessere Positionen für Verhandlungen mit Microsoft zu verschaffen.

Über die eigene IT wieder selbst bestimmen

Trotzdem stimmt die Reaktion auf das Paket „Suse Linux Office Desktop“ Burger zuversichtlich. Dies ist eine seit der Verfügbarkeit im Februar dieses Jahres gerade 6300-mal verkaufte Office-Komplettlösung für Klein- und Heimbüros sowie Firmen mit bis zu 20 PCs. Aber seit der Präsentation des Produkts auf der letzten Linux-World zeigten sich vor allem Großanwender interessiert. Das Ergebnis ist ein für diese Anwendergruppe konzipierter „Suse Linux Enterprise Desktop“, der im Sommer auf den Markt kommen wird. Burger: „Ich bin überrascht, wie viel Interesse es an Linux-Desktops gibt. Wenn wir mit Kunden eigentlich über Server reden, kommen eingehendere Fragen über Desktops, als ich erwartet hätte.“

Die Motive des Anwenderinteresses sind in erster Linie Kostenaspekte. Die bei Verwendung von Open-Source-Software entfallenden Lizenzkosten bieten ein Sparpotenzial, sind aber nicht der wichtigste Faktor. „Viele Anwender werden durch die Lizenzpolitik ihrer Lieferanten genötigt, ihre Hardware abzulösen“, erläutert Daniel Riek vom Linux-Verband Live. „Solche Zwangssituationen möchte man in Zukunft vermeiden. Die Unternehmen wollen selbst entscheiden, wann sie upgraden. Linux läuft auf der vorhandenen alten Hardware.“ Alfred Schröder, Geschäftsführer des Linux-Dienstleisters Gonicus aus Arnsberg, stellt fest: „Die Unternehmen möchten über ihre IT wieder selbst bestimmen.“

Die Finanzchefs mischen sich ein

Der Anstoß zu Linux-Projekten war früher immer „von unten“, von Linux-erfahrenem IT-Personal, gekommen. Diese Verhältnisse haben sich in Zeiten des Sparzwangs verschoben. Soreon-Forscher Binder hat beobachtet: „Es gibt offensichtlich eine Art Koalition zwischen Linux-affinen IT-Spezialisten und den Finanzverantwortlichen. Beide Seiten stoßen die Projekte an, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven.“ Die einen wollten ein besseres System, die anderen ein kostengünstigeres. Und inzwischen gibt es für beide Seiten eine echte Möglichkeit, den Microsoft-Pfad zu verlassen. Suse-Manager Burger blickt selbstkritisch zurück: „Eine veritable Alternative hat es eigentlich vor sechs Monaten noch nicht gegeben.“ Wo kein Angebot, da kein Markt.

Besonders das Fehlen einer Groupware-Lösung hat lange die Verbreitung von Linux in Büros behindert. Inzwischen gibt es zwar Produkte, die erfordern aber entweder den Erwerb einer Lizenz (wie die Lösung von Skyrix aus Magdeburg), oder sie bieten nur Basisfunktionen (wie „Evolution“ von Ximian). Mittlerweile fördert das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) die Entwicklung der Open-Source-Lösung „Kroupware“. Ein anderer hemmender Faktor sind noch die Schriftfonts, die durchweg urheberrechtlich geschützt sind. Doch nun hat sich Agfa dem Linux-Trend geöffnet. Damit verbessert sich nicht nur die Erscheinung von Linux auf dem Bildschirm oder der ausgedruckten Dokumente. Möglich wird auch der Zugriff auf Windows-Anwendungen

(via „Crossover“ von Codeweavers), die bestimmte Fonts benötigen.

Als hinderlich könnte sich bei einigen Anwendern das eigene IT-Personal erweisen. Wo Unix-Erfahrungen bestehen, ist Linux keine Herausforderung. In Häusern mit ausgeprägter Microsoft-Tradition könnte es jedoch mit dem Support Probleme geben. Suse-Manager Burger: „Diejenigen, die nur Microsoft kennen, empfinden Angst vor dem Unbekannten.“

Linux-Desktop-Angebot: Suse ist der einzige Linux-Distributor mit einem dedizierten Desktop-Angebot, dem „Suse Linux Office Desktop“ und der künftigen Version „Enterprise Desktop“. Die Pakete umfassen neben dem Betriebssystem, den Benutzeroberflächen „KDE“ und „Gnome“ und dem „Mozilla“-Browser eine Palette von typischen Büroanwendungen. Hinzu kommt die „Crossover“-Software von Codeweavers, mit der sich etliche - aber nicht alle - Windows-Anwendungen aus Linux starten lassen. Außerdem umfasst es den „Acronis OS Selector“, ein Partitionierungswerkzeug für das wechselweise Arbeiten mit Windows und Linux.

Sun wollte eigentlich ein Paket aus PCs, Servern, eigener Linux-Version und Office-Anwendungen schnüren. Das ist seit der Einstellung der eigenen Distribution auf die lange Bank geschoben. Red Hat hat schon mehrmals erklärt, sein Angebot in Richtung Clients ausbauen zu wollen. Chief Executive Officer und President Matthew Szulik befand: „Das Linux-Phänomen auf den Servern weitet sich auf die Desktops aus.“ Ende letzten Jahres kündigte Red Hat an, zusammen mit Oracle das Angebot für Clients verbessern zu wollen. Herausgekommen ist dabei bisher nichts. Red Hats „Enterprise Linux 3 Workstation“ ist eher für anspruchsvolle Umgebungen konzipiert. Jetzt soll im Spätsommer dieses Jahres ein umfassenderes Paket mit typischen Office-Werkzeugen auf den Markt gelangen.

Red Hat tut sich in einem Punkt mit dem Desktop-Markt schwer. „Die Integration proprietärer Software ist für uns ausgeschlossen“, erklärt ein Firmensprecher. Angesprochen sind damit in erster Linie die lizenzbehafteten Tools Crossover und Acronis OS Selector. Suse begründet die der Open-Source-Orientierung widersprechende Aufnahme dieser Tools in sein Angebot damit, dass Linux in der Regel auf bestehenden Windows-PCs installiert und zumindest in einer Übergangszeit mit Anwendungen und Daten aus zwei Welten gearbeitet werde.

Live-Sprecher Riek legt den Finger in die Wunde: „Der Wissenshorizont von Microsoft-geschultem Supportpersonal kann erschreckend gering sein.“ Dessen übliche Methode, mit Workarounds an Problemen herumzudoktern, vertrage sich nicht mit dem Open-Source-Prinzip, Fehler an ihren Wurzeln zu bekämpfen. Diesen Unterschied zwischen der Open-Source- und der Microsoft-Welt betrachten die Analysten Velten und Binder nicht als gravierend. Das IT-Personal habe durch die Bank ein „Eigeninteresse, sich weiterzubilden“, damit sein Know-how nicht veraltet.

Das größte Hindernis für Linux-Desktop-Projekte sind letztlich die Endanwender selbst. Gonicus-Chef Schröder: „Die Akzeptanz der End-User ist der entscheidende Faktor bei einem Migrationsprojekt. Sie werden keinen Linux-Desktop gegen den Willen der Benutzer einführen können.“ Letztlich sei das doch bei allen DV-Projekten so, wendet Suse-Manager Burger ein: „Es kommt darauf an, wie es intern vorbereitet und verkauft wird.“ Das Look and feel der Linux-Benutzeroberflächen und -Office-Anwendungen dürfte kein Problem mehr sein; beide ähneln der Windows-Welt. Trotzdem muss man grundsätzlich zu Veränderungen bereit sein, so Burger: „Linux auf dem Desktop ist nicht Microsoft.“

Die radikalste Position in Sachen Desktop-Linux vertritt IBM. Auf schlanken Clients sollen unter einer Browser-Oberfläche Server-basierende Portallösungen laufen. Dabei ist es Big Blue egal, ob die Clients Windows, Windows CE, Linux oder Mac-OS verwenden. „Plattformignorant“ nennt IBMs IT-Architekt im Bereich Software Solutions Architectures, Holger Lehmann, diesen Ansatz. Das deckt sich zumindest in einem Punkt mit Zielen, die bei Linux-Desktop-Projekten oft eine Rolle spielen: die Eindämmung des kostenträchtigen Turnschuh-Supports. Die Administration der Endgeräte soll zentralisiert stattfinden. Technisch funktioniert das auch mit neueren Microsoft-Systemen. Aber bei Linux haben die User nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, ihre Desktops nach Belieben zu konfigurieren oder um gefährliche Spielereien zu erweitern.

Microsofts Angst vor den Nischen

Trotz zahlreicher Argumente für Linux auf dem Desktop ist vorerst keine Revolution zu erwarten. „Linux bleibt in einer signifikanten Nische mit einstelligem Marktanteil“, erwartet Soreon-Marktforscher Binder. „Es wird Windows und Office auf absehbare Zeit nicht verdrängen können.“ Der Analyst erwartet, dass sich Microsoft gegenüber der Gefahr aus den Nischen als lernfähig erweist. Insbesondere in der Lizenz- und Preispolitik dürfte der Konzern künftig vorsichtiger agieren. Suse-Manager Burger: „Die Zukunft von Linux auf dem Desktop kann Microsoft genauso beeinflussen wie wir. Wenn Microsoft seine bisherigen Fehler fortsetzt, wird das Linux Auftrieb geben.“