Keine Jahre mehr verschenken

12.11.2004 von Gerhard Holzwart
Nach vielen Fehlern und Versäumnissen steht es heute schlecht um den IT-Standort Deutschland. Höchste Zeit sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Von Gerhard Holzwart*

"Ideen gibt es in Deutschland genug. Aber Innovation ist die Fähigkeit, aus einer Idee auch einen wirtschaftlichen Erfolg zu machen". Dieses pointierte Statement stammt von August-Wilhelm Scheer, Gründer der IDS Scheer AG und allseits in der deutschen IT-Branche geschätzter Vor- und Querdenker. Wer sich zum Kritikaster der deutschen IT-Industrie beziehungsweise dessen, was davon übrig geblieben ist, aufschwingen will, muss sich nicht besonders anstrengen, um sich auf solche und ähnliche Stimmen zu stützen.

Der Fundus an Fehlschlägen reicht vom viel zitierten Telefax bis zum MP-3-Player oder den LCD-Flachbildschirmen. Die Rede ist von Basistechnologien, die hierzulande entwickelt wurden - aber eben nicht zur Marktreife! Den Reibach mit dem Verkauf entsprechender Geräte und Devices, deren Verbreitung fast immer auch eine technologische Revolution bedeutete, machten Hersteller aus den USA oder Asien. "Wir hatten Ideen, wir haben geforscht und entwickelt; aber wir haben keine Produkte daraus gemacht, die Umsätze und Arbeitsplätze schaffen. Wir waren kreativ, aber leider nicht innovativ", klagte Willi Berchtold, Präsident des ITK-Dachverbandes Bitkom vor wenigen Wochen auf der Systems in München.

So weit, so schlecht. Vielleicht sollte man an dieser Stelle die Problematik noch mit Hilfe eines weiteren Zeitgenossen auf den Punkt bringen. Durch Peter Glotz zum Beispiel, den früheren SPD-Generalsekretär, anerkannten Medienexperten und heutigen Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen. Er stellt fest: "Siemens ist das letzte europäische Unternehmen, das in der Halbleiterindustrie eine Rolle spielt. Über eine Computerindustrie verfügen die Deutschen längst nicht mehr. In der Unterhaltungselektronik haben wir noch müde Reste. In welchen Schwierigkeiten beispielsweise ein Unternehmen wie Grundig ist, kann jeder, der es will, in Nürnberg besichtigen. Ein paar der deutschen Softwarehäuser - allerdings wirklich nur ein paar - sind vorzüglich. Aber sie sind klein. Mit dem Riesen Microsoft ist das nicht zu vergleichen. Leistungsfähig sind wir nur (noch) auf dem Gebiet der Telekommunikation."

Die Misere, die Glotz hier schildert, ist im doppelten Sinne tragisch. Zum einen stimmt einfach, was er sagt. Das noch viel größere Problem ist indes, dass dieses Zitat vom April 1994 stammt! Seither sind mehr als zehn Jahre ins Land gegangen, und fast möchte man meinen, es sei nichts passiert. Siemens und Halbleiter, na ja! Grundig gibt es noch - als Marke. Und sonst? Natürlich ist SAP noch größer und erfolgreicher geworden; IDS Scheer im Windschatten der Walldorfer auch. Aber dann: Die Software AG tritt seit Jahren auf der Stelle, Intershop und Pixelpark sind schnell aufgestiegen und jäh wieder abgestürzt, einst etablierte mittelständische deutsche Softwareanbieter wie Brain, Infor und Ixos sind zum Objekt und Spielball ausländischer Investoren geworden. Im Hardwaremarkt gibt es bei wohlwollender Betrachtung aus deutscher Sicht noch Fujitsu-Siemens; zeitweilige Shooting Stars wie Maxdata und Medion kämpfen mit den Widrigkeiten eines mehr denn je volatilen PC-Geschäfts sowie den Folgen eigener Management-Fehler.

Kein Wunder also, dass sich in der deutschen IT-Industrie zuletzt mehr denn je Katzenjammer und defätistische Stimmung breit machte. Die Internet-Euphorie und der Hype am Neuen Markt sind längst verflogen. Die letzten Jahre waren, wirft man einen vordergründigen Blick auf einschlägige Statistiken, Minusjahre: weniger Umsatz, weniger Arbeitsplätze, weniger Neugründungen, dafür um so mehr Pleiten, Pech und Pannen. Die Posse um die Maut, die sich mehr als zäh gestaltende Einführung einer Gesundheitskarte und - ganz aktuell - die Softwareprobleme der Bundesagentur für Arbeit in Sachen Hartz IV. Hinzu kommt: Auch an den Kräfteverhältnissen hat sich nichts geändert. Mehr denn je fungieren (mit Ausnahme von SAP) Microsoft, IBM und Hewlettt-Packard (HP) als Taktgeber der Branche - und sind auch mit die größten Arbeitgeber in der IT-Industrie hierzulande.

Angesichts dieser ernüchternden Bilanz ist zumindest die Tatsache erfreulich, dass sich im deutschen Telekommunikationsmarkt seit dessen Liberalisierung im Jahr 1998 ein halbwegs funktionierender Wettbewerb etablieren konnte. So gelang es dem früheren Monopolisten Deutsche Telekom nach einigen sehr turbulenten Jahren, sich neben British Telecom als zweiter großer europäischer Carrier zu positionieren; hierzulande sorgten ein florierender Mobilfunksektor und ein sich respektabel entwickelndes Internet-Segment auch in den schwierigen Zeiten nach dem Platzen der Internet-Blase dafür, dass die TK-Branche insgesamt - wenn auch auf niedrigrem Niveau - auf Wachstumskurs blieb. Doch auch hier gäbe es aus Sicht des hiesigen Betrachters Anlass zur Häme und Kritik. Abgesehen von der kleinen Erfolgsgeschichte des Internet-Dienstleisters United Internet hat es kein weiteres deutsches Unternehmen geschafft, sich überregional einen bedeutenden Namen zu machen. Die Story des ehemaligen Highflyers Mobilcom ist immer noch eine eigene Geschichte wert; die der Mannesmann-Übernahme durch Vodafone sowieso.

Was bleibt also als Zwischenbilanz festzuhalten? Der deutsche ITK-Markt insgesamt tritt auf der Stelle. Nicht unbedingt, was das weitere Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze angeht. Glaubt man den jüngsten Bitkom-Prognosen, steigt das Wachstum im kommenden Jahr wieder auf ansehnliche 3,4 Prozent. Mehr als 10 000 offene Stellen, die vermutlich mangels qualifizierter Spezialisten gar nicht besetzt werden können, zeugen vom Wiederaufschwung. Aber das grundlegende Übel, die Wurzel aller Probleme, scheint unüberwindbar: die fehlende "Time-to-Market"-Fähigkeit deutscher Ingenieure und Informatiker. Und deren nicht sonderlich ausgeprägte Bereitschaft, eigene Unternehmen zu gründen.

Noch immer finden sich bei den Patentanmeldungen unter den weltweit ersten zwölf Unternehmen mit Bosch, Infineon und Siemens drei deutsche Elektronikfirmen. Doch der Transfer des Wissens aus der Grundlagenforschung in die Wirtschaft könnte weitaus effektiver sein, heißt es bei Fachleuten und Politikern aller Coleur vielsagend. Hans-Jörg Bullinger, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, schrieb unlängst seiner Zunft öffentlich ins Stammbuch: "Wir sind satt und bequem geworden." Damit aber in Zukunft aus solchen Tüfteleien wieder verstärkt gute und vermarktbare Produkte "Made in Germany" werden, wird landauf, landab einmal mehr neben der besseren Vernetzung von Forschung und Wirtschaft auch mehr Mut zum Risiko gefordert. Auch Bullinger redet einer erneuten Gründeroffensive das Wort: "Wir müssen daran arbeiten, dass die jungen Menschen wieder die Chance bekommen, mit Venture Capital Risiken einzugehen."

Einfacher gesagt, als getan. Denn damit ist man bei einem weiteren strukturellen Problem des IT-Standortes Deutschlandes. Nach dem Ende des Hypes an der Börse haben viele der Wagniskapitalisten der IT-Branche wieder die kalte Schulter gezeigt; den erfolgreichen "Exit"-Börsengang gibt es für die Investoren auf absehbare Zeit nicht mehr. Viele Venture Capitalists sitzen zudem auf "toten Fonds", müssen reihenweise Totalverluste abschreiben. Dem Shake out in der New Economy folgt(e) die Marktbereinigung unter den Private-Equity-Anbietern. Wie schon einmal zu Beginn der 90er Jahre hat man es mit einem Teufelskreis zu tun: Der Nachwuchs in der IT-Branche (im übrigen auch etablierte Firmen) klagt über zu wenig Möglichkeiten der Fremd- beziehungsweise Wachstumsfinanzierung; die Investoren ihrerseits sprechen von zu wenig Business Plänen mit Substanz.

Einig sind sich alle Beteiligten indes in einem anderen Punkt: Das Land braucht mehr Innovationen. Die Bundesregierung hat den Begriff quasi zum Programm erklärt, will mehr Gelder in die Forschung und vor allem in das Bildungssystem stecken. Mehr als 80 Prozent der Top-Manager der 100 größten europäischen Konzerne fordern laut einer Umfrage des Kommunikationsberatungshauses Pleon neue Produkte und Dienstleistungen, die aus entsprechender "Forschung und Entwicklung in Schlüsselbranchen" resultieren. Doch den großen Masterplan, der genauer sagt, wo, wie und wohin, sucht man vergebens.

Auch der ITK-Verband Bitkom ist schon vor einem Jahr mit einem eigenen "Innovationspapier" in die Öffentlichkeit gegangen. Inhalt: mehr E-Government und öffentliche IT-Projekte, natürlich die Gesundheitskarte sowie ein radikaler Systemwechsel in der Bildungs- und Wirtschaftpolitik. Vor wenigen Wochen zog Bitkom-Präsident Bechtold eine "ernüchternde Bilanz". Wichtige IT-Projekte wie der digitale Behördenfunk oder die elektronische Gesundheitskarte kämen nur schleppend voran, das geplante neue Urheberrechtsgesetz sei sogar ein Rückschritt. "Was hat Vater Staat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht alles gefördert: den Transrapid, der schwierig zu verkaufen ist, den Schnellen Brüter in Kalkar, der nie ans Netz ging, das hochauflösende Fernsehen HDTV, das keinen Markt fand. Die Bildung im Lande aber haben wir in die zweite Liga gespart, den Wettbewerb mit den Nachbarstaaten um eine modernes Steuersystem haben wir für unzulässig erklärt, und die Bürokratie haben wir ausgebaut statt abgebaut", zog Bechtold auf der Systems vom Leder.

Nun könnte man solche Äußerungen zunächst als pflichtschuldigen Auftritt eines Lobbyisten abtun. Schließlich war der oberste Bitkom-Repräsentant bis vor kurzem auch Chef des Chipkarten-Herstellers Giesecke & Devrient, hatte also auch ein "natürliches" Interesse am Fortschritt des Projektes Gesundheitskarte. Man kann sich aber auch mit einer anderen, kaum anfechtbaren Bitkom-Statistik auseinandersetzen: Deutschland importierte im Jahr 2003 mehr ITK-Technik, als es ausführte. Das entsprechende Handelsdefizit lag bei 7,4 Milliarden Euro! Es ehrt Bechtold, wenn er in diesem Zusammenhang auch selbstkritische Worte an die eigene Industrie richtete und rhetorisch fragte: "Sind wir in den Unternehmen richtig aufgestellt? Haben wir die richtigen Produkte für die Weltmärkte? Sind wir mit neuen Angeboten schnell genug am Markt? Sind wir aggressiv genug im internationalen Wettbewerb? Sind wir noch zum echten unternehmerischen Risiko bereit? Oder haben wir uns in der Wirtschaft auch anstecken lassen vom Pessimismus-Virus in Deutschland?" Es spricht einiges für die Annahme, dass die ITK-Branche in Deutschland nicht weitere zehn Jahre Zeit hat, diese Fragen für sich zu beantworten.