IT zwischen Standardisierung und Spezialisierung

IT im Auto braucht neue Kompetenzen

04.05.2011 von Hartmut Lüerßen
IT-Beratungs- und IT-Service-Unternehmen stehen in der Automobilindustrie vor Herausforderungen: Der Technologiewandel verlangt neue Strategien und Konzepte für zukünftiges Wachstum.

Für die deutsche Automobilindustrie waren die letzten drei Jahre mehr als turbulent: Nach einem Pkw-Absatz in Höhe von rund 3,1 Millionen im Jahr 2008 stiegen die Fahrzeugverkäufe infolge der Abwrackprämie 2009 auf nahezu 3,8 Millionen an. Im Jahr darauf gingen die Absatzzahlen jedoch zurück auf 2,9 Millionen Fahrzeuge. Einer Studie der Universität Duisburg-Essen zufolge werden die Automobilhersteller (OEMs) 2011 etwa 3,15 Millionen Pkws in Deutschland verkaufen.

Die hohen Absatzzahlen zwischen 2000 und 2008 mit durchschnittlich 3,3 Millionen Fahrzeugen werden demnach nicht wieder erreicht. Trotzdem soll der Markt 2012 leicht auf 3,2 Millionen Pkws zunehmen und damit den Höchststand nach der Krise erreichen. Mittel- und langfristig dürfte der Automobilabsatz in Deutschland angesichts struktureller und konjunktureller Veränderungen jedoch schrumpfen, bis zum Jahr 2015 circa auf 3,1 Millionen Fahrzeuge.

Es herrscht ein Verdrängungswertbewerb. Die IT muss dabei den Spagat bewältigen zwischen kontinuierlicher Konsolidierung und Steigerung der Automatisierung im operativen IT-Betrieb einerseits und der Rolle als Enabler für Innovationen in den Geschäftsmodellen der Automobilhersteller andererseits. Im Mittelpunkt steht dabei das vernetzte Auto, das sich zukünftig auch über Services definieren soll.

Dabei weichen die Grenzen zwischen der klassischen Prozess-IT und der Produkt-IT, die sich um die Fahrzeugentwicklung und das Engineering kümmert, spürbar auf.

Konsolidierung der IT-Landschaft

Nicht selten werden bis zu 80 Prozent des IT-Budgets allein für den Betrieb der riesigen, heterogenen IT-Landschaften aufgewendet. Um die Betriebskosten zu reduzieren, investieren die Unternehmen kontinuierlich in die Konsolidierung der Infrastruktur sowie in die Standardisierung, Virtualisierung und Automatisierung.

Ein Beispiel: Daimler will Unternehmensangaben zufolge bis zum Jahr 2015 die Konzern-IT um 40 Prozent bereinigen. Dadurch soll die Systemlandschaft optimiert und gleichzeitig die Effizienz gesteigert werden. Bereits 2010 sei die Zahl der Applikationen um rund acht Prozent gesenkt worden, so der Konzern. Es ist geplant, die eigene IT-Abteilung von einem internen Dienstleister zu einem Kompetenzzentrum für Prozessberatung umzubauen. Insgesamt erbringt der Konzern rund 30 Prozent der IT-Leistung selbst, 70 Prozent werden eingekauft. Dafür stehen etwa 400 IT-Beratungs- und IT-Service-Unternehmen sowie Hardware- und Software Anbieter auf der Auftragsliste.

Das IT-Szenario Daimlers spiegelt die Situation von anderen Automobilherstellern und großen -Zulieferern wieder. Alle bedienen sich externer IT-Dienstleister. Gerade für die Betriebsthemen sowie große Projekte setzen die Unternehmen auf große Partner wie T-Systems, IBM, Hewlett Packard Services, Accenture oder Capgemini. Wesentliche Gründe dafür sind die Kostenvorteile durch Volumenbündelung oder die erforderliche internationale Präsenz an den Unternehmensstandorten.

Auch steigen mit der Größe und der strategischen Reichweite der Outsourcing-Verträge und Change-Projekte die Anforderungen an die wirtschaftliche Stabilität des Partners. Als nächster Schritt in dieser Entwicklung steht das Cloud Services auf der Agenda. Mittelgroße und kleinere IT-Beratungs- und IT-Service-Unternehmen können daher vor allem dann punkten, wenn es primär auf die Kompetenzen ankommt.

Je nach Konstellation bei den OEMs und den Zulieferern verbleiben für spezialisierte IT-Beratungsunternehmen wie Cirquent (Prozesse und IT-Technologien), Cenit AG (Product Lifecycle Management), Seeburger (ERP, EDI, SAP), Mieschke Hofmann und Partner (Management- und IT-Beratung), BTC AG (EDI, SAP) sowie viele weitere mittelgroße und kleine Unternehmen meist zwischen 20 und 40 Prozent des Budgets. Dabei hängt viel davon ab, wie die Auftraggeber ihre Partner-Modelle aufgestellt haben und welche Volumina und Themen an die Tier-1- und Tier-2-Partner vergeben werden.

Car IT verbindet IT mit Engineering-Themen

Nicht nur das operative IT-Business ist interessant für externe IT-Dienstleister. Die aktuellen Entwicklungen im Automobil, seien es die Hybridtechnologie, Infotainment im Auto oder Elektromobilität, die alle zum Thema Car IT gehören, schaffen neue Geschäftsfelder und Chancen. Der Wertanteil von elektrischen und elektronischen Komponenten im Automobil nimmt stark zu.

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Moderne Autos lösen Notrufe aus, sie übermitteln Informationen über die Schwere des Unfalls sowie die Zahl der betroffenen Personen an eine Leitstelle und geben die exakte Position an. Im Luxussegment können die Autos bei Nacht schon heute weiter sehen als der Fahrer, sie warnen vorausschauend vor Staus und bremsen bereits dann, wenn der Fahrer eine Gefahr noch gar nicht erkannt hat. Neun von zehn Innovationen im Fahrzeug basieren inzwischen auf Elektronik.

Mehr und mehr integrierte Systeme übernehmen als elektronische Helfer Funktionen, die früher mechanisch geregelt wurden. Dass viele IT-Anbieter hier Chancen sehen, zeigen Allianzen wie der Branchenverband Genivi, der sich für die Einführung einer Open-Source-Entwicklungsplattform für Infotainment in Fahrzeugen (IVI - In-Vehicle-Infotainment) auf breiter Basis einsetzt.

Nicht nur im Auto selbst, sondern auch beim Entwicklungsprozess, der Produktion und der Wartung spielt die Software im Auto eine immer wichtigere Rolle. Steuersysteme lassen sich kostengünstig updaten. Weltweite Produktion, Vernetzung von Herstellern und Zulieferern, Wartung in der Werkstatt und Fuhrpark-Management profitieren heute davon.

Immer mehr Fahrzeuge werden mit einem drahtlosen Internet-Zugang ausgestattet. Bereits seit geraumer Zeit bieten Fahrzeughersteller breitbandige Mobilfunk-Datenverbindungen zu hauseigenen Diensten an - wie ConnectedDrive von BMW. Mittelfristig dürfte sich die Zugangstechnik von den Angeboten der Autohersteller emanzipieren. Künftig sollen solche auch im freien Handel ihre Kunden finden - als Teil der After-Sales-Angebote. Damit verschiebt sich auch die Wertschöpfungskette. Durch Car IT mit Embedded Systems werden sich andere Servicemodelle im After-Sales-Bereich entwickeln, an dem auch IT-Service-Dienstleister partizipieren können.

Prozessoptimierung durch PLM

Eines der etablierten Spezialisierungsthemen in der Automobilbranche ist Product-Lifecycle-Management (PLM). PLM gestaltet das Management von Produkten über deren gesamten Lebenszyklus hinweg und ist ein wichtiger Schlüssel, um die Kosten der Produktentwicklung zu reduzieren sowie die Entwicklungszeit zu verkürzen. Es umfasst sowohl unterstützende IT-Systeme als auch Methoden, Prozesse und Organisationsstrukturen von der Planung (PPS/ERP), Entwicklung, Konstruktion (CAE/CAD) bis zum Controlling, Vertrieb und Service.

Bei der Entwicklung einer PLM-Strategie stehen die Kunden meist vor großen Herausforderungen, wenn beispielsweise neue Systeme in bestehenden Produktlinien eingesetzt oder erweitert werden sollen oder die PLM-Strategie die Migration oder Zusammenführung aus verschiedenen Ausgangssystemen erfordert. Der PLM-Markt ist trotz hoher Reife in Bewegung geraten: So wechseln beispielsweise Daimler und Chrysler Medienberichten zufolge von Dassault Systèmes (Catia) auf Siemens PLM, während sich BMW hingegen in einem Bereich für Dassault entschieden hat.

Die steigende Bedeutung von Simulation und Modeling, zweier Kernthemen von PLM, wird auch durch die aktuelle Lünendonk-Anwenderstudie 2011: "Zukunft der Ingenieurdienstleistungen in Deutschland" belegt, die in Zusammenarbeit mit Alten, Altran, Industriehansa und Yacht-Teccon durchgeführt wurde: Innerhalb des Leistungsspektrums im Engineering erwarten die befragten Unternehmen hier den am stärksten wachsenden Bedarf. Auch die auf Prozess- und IT-Beratung fokussierte Porsche-Tochter Mieschke Hofmann und Partner (MHP) setzt auf die steigende Bedeutung von PLM.

Schließlich unterhalten Hersteller und Zulieferer immer mehr Produktionsstätten sowie Entwicklungsabteilungen dezentral auf verschiedenen Kontinenten und beziehen Teile von einer Vielzahl von Unternehmen. Neue Produkte müssen in immer kürzerer Zeit entwickelt werden. Dabei müssen die Unternehmen immer mehr Akteure einbinden. Ein schlanker Produktentwicklungsprozess und eine optimale Vernetzung aller Beteiligten sind für die Unternehmen daher kritische Erfolgsfaktoren.

Chancen in Nischen und Transfer-Kompetenz

In den vergangenen zehn Jahren lag im Automobilsektor große Aufmerksamkeit auf der Optimierung der Prozessketten innerhalb der Unternehmen sowie im Zusammenspiel mit den Zulieferern. Aus dem Druck heraus, kontinuierlich mehr Produkte mit einer immer größer werdenden Variantenvielfalt in ständig kürzeren Entwicklungszyklen auf den Markt zu bringen, dürfte sich die Fokussierung auf das Kerngeschäft weiter fortsetzen. Das betrifft nicht nur den OEM, sondern die komplette Wertschöpfungskette, und öffnet Chancen.

Weitere wichtige Entwicklungsschritte sind im Management der Supply Chain zu erwarten: Stichwort Engpass-Management. Wie lassen sich Versorgungsengpässe und Produktionsstopps, ausgelöst durch Naturkatastrophen, technische Probleme oder ähnliches, nachhaltig vermeiden? Ebenso wie bei neuen Technologie-Innovationen zählt bei diesem Thema vor allem die Kompetenz der Berater. Das steigert die Chance für spezialisierte Beratungsunternehmen wie J & M Management Consulting, die sich beispielsweise in dieser Nische einen Namen gemacht haben.

Die Entwicklung von Car-IT-Themen oder Elektromobilität zeigt, dass die klassischen IT-Themen sowie die Technologie-Beratung und Engineering Services immer stärker miteinander verzahnt werden. Die Geschäftsmodelle rund um das Auto verändern sich über die Grenzen der verschiedenen Disziplinen hinweg. Die Chance, durch übergreifende Kompetenzen stärker wachsen zu können, haben daher nicht nur große IT-Firmen wie T-Systems, Accenture oder auch Tata Consultancy Services erkannt.

So bauen die Anbieter von Technologie-Beratung und Engineering Services ihre IT-Kompetenzen aus. Beispiele dafür sind Systemdienstleister wie Altran, Bertrandt, Alten oder EDAG, die auch unternehmerisches Risiko für die Entwicklung übernehmen, genau wie auf Ressourcen-Unterstützung spezialisierte Dienstleister wie Yacht-Teccon, Brunel oder Tieto. Mittelgroße Anbieter wie Industriehansa oder die OSB AG aus München setzen ebenfalls auf die Verbindung von Engineering-Kompetenz mit IT-Beratungs-Know-how.

Vieles spricht dafür, dass die Veränderungen im Ökosystem der Automobilbranche und der Geschäftsmodelle nicht mehr aufzuhalten sind. Damit beginnt eine neue Form des Wettbewerbs, dem sich vor allem die kleineren Anbieter stellen müssen.