Bitkom warnt vor Digitalkolonie Deutschland

IT-Fachkräftemangel verschärft sich bis 2040

11.04.2024 von Manfred Bremmer
Laut Bitkom droht sich der IT-Fachkräftemangel in Deutschland bis 2040 zu vervierfachen, wenn nicht massiv gegengesteuert wird.
Berechnungen des Bitkom zufolge wird sich der Fachkräftemangel in der IT bis 2040 deutlich verschlimmern.
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Schockierte der Bitkom im Dezember 2023 mit der Meldung, dass allein in den deutschen Unternehmen 149.000 IT-Stellen nicht besetzt werden können, sieht es für die weitere Zukunft sogar noch schlimmer aus. Der Branchenverband geht in einer aktuellen Untersuchung davon aus, dass der Bedarf an IT-Fachkräften bis 2040 jährlich um 2,5 Prozent auf knapp zwei Millionen ansteigt. Gleichzeitig werde das Angebot an IT-Fachkräften nur leicht auf 1,256 Millionen ansteigen - sofern die entsprechenden Maßnahmen auf dem aktuellen Niveau fortgeführt werden. Das Resultat wäre eine eklatante Lücke von 663.000 IT-Experten.

Laut Bitkom gehen Angebot und Bedarf an IT-Fachkräften immer weiter auseinander.
Foto: Bitkom

"Eine immer größer werdende Fachkräftelücke in der IT bedeutet einen Verlust von Wettbewerbsfähigkeit, Wertschöpfung, Wachstum und Wohlstand", warnte Bitkom-Präsident Dr. Ralf Wintergerst bei der Vorstellung der Studie. Ohne IT-Spezialistinnen und -Spezialisten verspiele Deutschland seine digitale Zukunft und laufe Gefahr, zu einer Digitalkolonie zu werden. "Umso wichtiger ist, dass wir jetzt die Weichen stellen und erfolgreich gegensteuern. Wenn wir jetzt konsequent handeln, muss diese Projektion nicht Realität werden", so Wintergerst. Der Bitkom sieht dabei vier Ansatzpunkte für Gegenmaßnahmen:

1. Studium und Ausbildung fördern

Aus Sicht des Branchenverbands ließe sich das Interesse an IT-Berufen durch bildungspolitische Maßnahmen weiter steigern. Der Bitkom setzt dabei insbesondere auf mehr Mädchen und Frauen: So seien aktuell nur rund 21 Prozent der Studierenden und 10 Prozent der Auszubildenden im Bereich Informatik weiblich. Wenn der Frauenanteil unter denjenigen, die Studium und Ausbildung abschließen, auf 50 Prozent erhöht würde, könnten bis 2040 weitere 25.500 IT-Fachkräfte zur Verfügung stehen. Das sei kein Ding der Unmöglichkeit, erklärte Wintergerst und verwies auf interdisziplinäre Studiengänge wie Bioinformatik und Medizininformatik, wo der Frauenanteil bereits bei 40 Prozent liege.

Ein weiterer Ansatzpunkt im Bereich Studium ist die Reduzierung der Abbrecherquote in den Informatik-Studiengängen - diese liegt mit 42 Prozent deutlich über dem Durchschnitt aller Studiengänge (27 Prozent). Mit einer Senkung der Abbrecherquote auf 20 Prozent könnten bis 2040 weitere rund 55.000 hochqualifizierte IT-Fachkräfte in Deutschland gewonnen werden, rechnete der Bitkom-Präsident vor. Es brauche eine Reform der Studiengänge, so Wintergerst - ein Lösungsansatz wäre eine Aufteilung nach Mindestqualifikation und Hochspezialisten, wie er in Indien gehandhabt werde.

Um mehr junge Menschen motivieren - das Ziel sind hier rund 27.000 weitere IT-Experten bis 2040 - fordert der Bitkom außerdem Maßnahmen wie bundesweit ein Pflichtfach Informatik ab der Sekundarstufe 1 oder kooperationen zwischen Schule und Wirtschaft.

2. IT-Quereinstieg erleichtern

Laut Bitkom sind aktuell rund ein Viertel aller Fachkräfte in der IT-Branche Quereinsteiger. Durch konkrete Maßnahmen wie die Förderung von Quereinstiegsprogrammen und Bootcamps sowie den Ausbau von Beratungsangeboten könne dieser Wert noch um 50 Prozent erhöht werden, was rund 129.500 zusätzlichen Fachkräften entspeche.

"Wichtig sind Flexibilität und Kreativität", erklärte Wintergerst. So sollten etwa gemäß dem Modell Bildungsteilzeit Menschen, die sich in die IT, aber auch in andere Mangelberufe orientieren wollen, gezielt finanziell unterstützt werden. Aber auch die Unternehmen selbst müssten in ihre Zukunft investieren und Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowohl von aktiven als auch von potenziellen Beschäftigten massiv ausbauen.

3. Längere Beschäftigung unterstützen

Zugleich könnten laut Bitkom bis 2040 weitere rund 68.500 IT-Fachkräfte zusätzlich zur Verfügung stehen, wenn ältere Beschäftigte über das Renteneintrittsalter hinaus freiwillig im Arbeitsmarkt blieben. Aktuell sind gerade einmal 1,5 Prozent der IT-Beschäftigten 65 Jahre alt oder älter - über alle Berufsgruppen hinweg liegt der Wert bei 4 Prozent.

Um diesen Anteil zu erhöhen, brauche es jedoch finanzielle Anreize für Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen, zugleich sollten die Sozialabgaben für Erwerbstätige im Rentenalter ganz abgeschafft oder zumindest deutlich verringert werden, so Wintergerst. "Gleichzeitig müssen gerade die besonders jugendorientierten Tech-Unternehmen eine Kultur entwickeln, die Ältere als wichtigen Teil von Diversität begreift und das auch lebt. Hier sind andere Länder deutlich flexibler", erklärte der Bitkom-Chef.

4. Zuwanderung attraktiver machen

Dem Branchenverband zufolge sind zuletzt bereits jährlich etwa 13.000 ausländische Fachkräfte aus der EU und anderen Ländern in IT-Berufe zugewandert. Als Resultat des reformierten Fachkräfteeinwanderungsgesetzes werde erwartet, dass pro Jahr weitere 4.000 IT-Fachkräfte aus Drittstaaten außerhalb der EU nach Deutschland kommen.

Ein ähnlicher Anstieg müsse auch für EU-Staaten erreicht werden. "Wir werden mit dem inländischen Potenzial und der bisherigen Zuwanderung die IT-Fachkräftelücke nicht schließen können", betonte Wintergerst. Der Bitkom plädiert daher dafür, die Ausländerbehörden zu Willkommensagenturen umzubauen, das internationale Marketing für den IT-Standort Deutschland zu verstärken und die Einwanderung deutlich zu entbürokratisieren und zu beschleunigen, etwa durch eine umfassende Digitalisierung der Verfahren. Nach Bitkom-Berechnungen könnten so bis 2040 insgesamt etwa 321.000 zusätzliche Fachkräfte aus Drittstaaten und der EU nach Deutschland kommen.

"Es fehlt eine ambitionierte Gesamtstrategie"

Würden alle Maßnahmen kurzfristig angegangen, so ließe sich die Fachkräftelücke in der IT bis 2040 auf 17.000 reduzieren und damit praktisch schließen, rechnete der Branchenverband vor. "Der Fachkräftemangel ist kein Naturereignis. Seit Jahren diskutieren wir über den Fachkräftemangel in der IT und starten einzelne Projekte. Woran es fehlt, ist eine ambitionierte Gesamtstrategie. Sie muss jetzt kommen", erklärte Bitkom-Präsident Wintergerst.

Laut Bitkom müsste man jetzt schon Maßnahmen gegen die wachsende IT-Fachkräftelücke treffen. Hat leider bei Themen wie Umweltschutz oder Rente auch nicht geklappt.
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Relativ kurz kam in den Ausführungen des Branchenverbands der Blick darauf, welche Auswirkungen Technologien wie Cloud und insbesondere künstliche Intelligenz auf den künftigen Bedarf an IT-Fachkräften haben. So wachsen aktuell angesichts der rasanten Fortschritte im Bereich (generative) KI die Bedenken, dass mit der Technologie zahlreiche Tätigkeiten automatisiert werden können.

"Es handelt sich bei den Zahlen um eher konservative Berechnungen. Allein wenn man die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung betrachtet, ist der Bedarf an IT-Fachkräften tendenziell höher" gab sich Bitkom-Präsident Wintergerst darauf angesprochen eher zuversichtlich. Zudem werde die KI nicht alles wegrationalisieren, ebenso wenig wie die Cloud. Betrachte man Entwicklungen wie die Balkanisierung des Internet oder gestiegene Anforderungen, was IT-Sicherheit angeht, werde die Komplexität eher steigen.