Ingredienzien für coole Websites: Ajax, Tags und RSS

03.05.2005 von Wolfgang Sommergut
Neue Firmen und Online-Services nutzen die sozialen und technischen Möglichkeiten des Netzes immer besser.

Hier lesen Sie ...

  • warum ein neues Verständnis des Web zur erfolgreichen Umsetzung von Ideen führt, an denen Dotcom-Firmen noch scheiterten;

  • wie die akademisch anmutenden Entwürfe des W3C zum Semantic Web durch pragmatische Ansätze in den Schatten gestellt werden;

  • welche Möglichkeiten die Kombination aus von Benutzern erzeugten Metadaten und RSS eröffnet.

  • wie neue Bedienkonzepte von Browser-Anwendungen die Erwartungen der Benutzer verändern.

Site mit Kultstatus: Kollaborative Lebensplanung unter der Aufsicht von Amazon.

Das Zerplatzen der Dotcom-Blase schien all jene Skeptiker zu bestätigen, die dem Web mit seiner wuchernden Kreativität und seiner schier grenzenlosen Innovationsfähigkeit immer misstraut hatten. Mit dem Bankrott zahlreicher Startup-Firmen, die zum Teil auf unseriöse Geschäftmodelle gebaut hatten, schien das neue Medium entzaubert. Im Web bildet sich aber seit einiger Zeit eine neue Gründerwelle, die laufend Firmen mit pfiffigen Ideen hervorbringt - allerdings fast nur in den USA. Den Newcomern ist mit den Großen des E-Business gemeinsam, dass sie die Möglichkeiten des Mediums besser verstehen und ausnutzen als die Pioniere der Dotcom-Zeit. Ironischerweise entstanden die Technologien und Konzepte, die momentan besonders Furore machen, schon vor dem Goldrausch der Jahrtausendwende.

Viele sind schlauer als wenige

Eine Reihe von Firmen erproben Methoden, die das Wissen ihrer Anwender akkumulieren. Als Vorreiter auf diesem Gebiet gilt del.icio.us, eine Site, die ihren Dienst als Social Bookmarks beschreibt. Bereits in den 90er Jahren gab es Firmen, die Web-Surfern das Speichern ihrer Bookmarks auf einem Server anboten. Der Vorzug dieser Services sollte darin bestehen, dass die Browser-Lesezeichen nicht bloß auf einem bestimmten PC zur Verfügung stehen, sondern sich von überall abrufen lassen. Diesen Diensten war indes nur wenig Erfolg beschieden.

Social Bookmarks wie del.icio.us, Furl oder Spurl entwickeln sich hingegen zu Rennern. Was unterscheidet sie von den erfolglosen Pionieren? Anstatt ihren Service als privaten Stauraum für Bookmarks zu betrachten, bedienen sie sich geschickt der Netzwerkeffekte, die durch große Teilnehmerzahlen entstehen. Im Fall der Social Bookmarks profitieren alle Nutzer von der Tätigkeit aller anderen. Wer eine URL im System hinterlegt, kann sofort sehen, wie viele andere Anwender dieselbe Seite vorgemerkt haben. Aus der aktuellen Bookmark-Hitparade lässt sich leicht erkennen, die Inhalte welcher Sites gerade stark beachtet werden.

Der eigentliche Clou der Social Bookmarks besteht aber darin, dass Benutzer angehalten werden, ihre favorisierten Seiten zu beschreiben. Dazu bedienen sie sich einer freien Verschlagwortung. Firmenintern, etwa bei der Auszeichnung von Texten in Content-Management-Systemen, hat sich dieses Verfahren keinen besonders guten Ruf erworben. Weil die Anwender Synonyme und unterschiedliche Flexionsformen verwenden sowie Kategorien eng oder weit fassen, entstehen nur bedingt verwertbare Metadaten.

Bei großen Gruppen mit mehreren tausend Benutzern lassen sich aber aus solchen inkonsistenten Daten verwandte Begriffe und thematische Schwerpunkte ermitteln sowie wie Ausreißer eliminieren, die nur von wenigen Anwendern eingegeben wurden. Die Schlagwortlisten sind im Gegensatz zu kontrollierten Vokabularen, wie sie etwa in Bibliotheken verwendet werden, flach, das heißt, es gibt keine hierarchische Abhängigkeit zwischen Begriffen. Sie daher für ein heterogenes Publikum, das nicht in den Gebrauch eines komplizierten Katalogs eingeübt werden kann, einfacher zu handhaben.

Für die freie Verschlagwortung von Inhalten durch eine große Anwenderschaft hat sich das Kunstwort Folksonomy eingebürgert. Es setzt sich aus den englischen Begriffen "Folks" und "Taxonomy" zusammen. Häufig ist aber auch nur von "Tagging" (Tag = englisch für Etikett, Marke) die Rede.

Mehr Benutzerkomfort im Web

Eine technische Errungenschaft, mit der einige Sites Aufsehen erregten, hört auf das Akronym Ajax (Asynchronous Javascript + XML). Dahinter verbirgt sich eine Kombination aus Javascript, der HTML-Programmierschnittstelle DOM sowie einem Modul namens XMLHttpRequest, das es dem Browser erlaubt, in Reaktion auf Benutzeraktivitäten mit dem Server zu kommunizieren. Als Pionier dieses Verfahrens gilt Microsoft, das während des legendären Browser-Kriegs in den 90er Jahren damit die Java-Bedrohung abwehren wollte. Mit dem weitgehenden Verschwinden von Java-Applets aus dem Web verlor Redmond das Interesse an der Technologie und propagiert nun sein Konzept des Smart Client, der auf .NET beruht.

Ausgerechnet der neue Microsoft-Rivale Google zeigt nun, welche Möglichkeiten in Ajax stecken. Er erzielt damit einen Bedienkomfort, der bisher Desktop-Anwendungen vorbehalten blieb. Besonders eindrucksvoll wirkt das so genannte Auto-Vervollständigen in GMail und Google Suggest. Während der Benutzer bei Googles Web-Mailer einen Empfängernamen in das betreffende Feld eintippt, schlägt das Programm im Server-gestützten Adressbuch die passenden Einträge nach - und das in Echtzeit ohne Neuladen der Seite. Wer Hotmail oder GMX gewohnt ist, gerät darüber ins Staunen. Ähnliches gilt für Google Suggest, das während der Eingabe eines Suchbegriffs den umfangreichen Google-Index konsultiert und für jeden Ausdruck schon vorab anzeigt, zu wie vielen Treffern er führen wird.

Das steigende Interesse an Ajax und die Vorbildfunktion populärer Sites wird die Erwartungen der Web-Nutzer nach oben schrauben. Herkömmliche Browser-basierende Bedienoberflächen, die schon bei geringen Aktivitäten des Anwenders Seiten vom Server nachladen müssen, erscheinen unzeitgemäß. Welch funktionsreiche Benutzerführungen mit dieser Technologie möglich sind, zeigt auch Amazons neue Suchmaschine A9 mit ihrer Unterstützung für Drag and Drop

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Semantic Web auf andere Art

Die Benutzerscharen von del.icio.us und vergleichbaren Diensten verfolgen ähnliche Ziele wie die Initiative des Semantic Web von Tim Berners-Lee. Der President des W3C propagiert seit Jahren maschinell auswertbare Web-Inhalte, deren Bedeutung sich über standardkonforme Metadaten erschließen lässt. Der um sich greifende Einsatz von Folksonomies bedient sich indes nicht der W3C-Empfehlungen Resource Description Framework (RDF) oder der Web Ontology Language (OWL), die als kompliziert gelten. Sie sind auch nicht Teil einer öffentlichen Infrastruktur, wie es den Schöpfern des Annotea-Projekts vorschwebte, sondern geballtes Wissen in privaten Datenbanken.

Andererseits sind Social-Bookmarks-Anwendungen sehr einfach bedienbar und belohnen die Eingabe von Metadaten unmittelbar. In del.icio.us kann der Eingebende nämlich sofort einsehen, welche URLs andere Benutzer mit den von ihm verwendeten Schlagwörtern ausgezeichnet haben. Auf diese Weise erhält man vielfältige Hinweise auf Web-Ressourcen, die den eigenen Interessen entsprechen.

Die amerikanische CW-Schwesterpublikation "Infoworld" traut Social Bookmarks mehr zu als bloß die Verwaltung von persönlich bevorzugten Web-Ressourcen. Sie nutzt seit kurzem del.icio.us, um ihre eigenen Inhalte zu kategorisieren. Die Website der Publikation gruppiert anschließend verwandte Artikel auf Basis der Schlagwörter aus dem Online-Dienst.

Del.icio.us gewährt verschiedenste Sichten auf die im System gespeicherten Bookmarks und bietet dafür RSS-Abonnements an.

Die Nutzung von Folksonomies kommt immer mehr in Mode, und viele neue Sites experimentieren mit diesem Instrumentarium. Eine Reihe von Web-Companies verspricht sich von anwendergenerierten Metadaten erhebliche Vorteile und weist ihnen eine zentrale Rolle für ihre Services zu. Dazu zählt etwa Flickr mit ihrem Dienst zum Austausch von privaten Fotos, der RSS-Aggregator Rojo oder Vimeo, das private Videoclips beherbergt.

Einen gewissen Kultstatus erlangte bereits 43Things, eine Site, auf der Besucher ihre persönlichen Wünsche und Ziele eingeben können. Das Spektrum des Inputs reicht von guten Vorsätzen über Konsumwünsche und Urlaubspläne bis hin zu privaten Sehnsüchten. Auch hier hilft die Kategorisierung der Inhalte bei der Suche nach Gleichgesinnten. Der Klick auf ein bestimmtes Schlagwort öffnet die Liste mit all jenen, die ihre Ziele und Vorsätze damit beschrieben haben. Im nächsten Schritt kann der Besucher sehen, welche weiteren Wünsche oder Vorhaben die betreffenden Personen formuliert haben, und möglicherweise zusätzliche Übereinstimmungen mit den eigenen Vorhaben finden. Auf diese Weise eröffnen sich ungeahnte soziale und geschäftliche Möglichkeiten.

RSS als ideales Distributionsformat

Die meisten der genannten Sites werden häufig mit dem Etikett der Social Software versehen. Es handelt sich dabei um eine relative vage Charakterisierung. Sie bezieht sich im Allgemeinen aber darauf, dass Dienste die Netzwerkeffekte zu nutzen wissen, die durch große Benutzergruppen entstehen können. Der amerikanische Medientheoretiker Clay Shirky definierte Social Software als alles, was unter Spam zu leiden hat. Noch lässt sich kaum Missbrauch der innovativen Dienste beobachten, er dürfte aber nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Google Suggest ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Möglichkeiten, die dynamisches HTML bietet.

Die kontinuierliche Aktivität einer großen Benutzergemeinde, die Inhalte über Metadaten beschreibt, erzeugt einen beständigen Datenstrom. Deren Kategorisierung durch Schlagwörter generiert themenspezifische Informationsflüsse, die man als Channels betrachten kann. Wer an ihnen partizipieren will, kann sich nicht auf traditionelle Nutzungsgewohnheiten wie Besuch der Website oder Abonnement eines Newsletter beschränken. Ein Pull-Mechanismus wie RSS eignet sich dafür wesentlich besser. Del.icio.us bietet deshalb die Möglichkeit, neue Einträge über fast beliebige Kriterien zu filtern und als RSS-Feed abzurufen. Man kann beispielsweise sämtliche Bookmarks einer bestimmten Person abonnieren oder all jene, die von allen Benutzern mit einem bestimmten Schlagwort ausgezeichnet wurden. Nach dem gleichen Muster verfahren auch 43Things und Flickr.

Diese Anwendungen geben all jenen Recht, die schon länger darauf insistieren, dass RSS zu mehr geeignet ist als zum Abrufen von Online-News. Auch diese Technik gab es übrigens schon während der Dotcom-Ära. Sie wurde etwa von Netscape eingesetzt, um Inhalte von Drittanbietern auf dem Netcenter-Portal zu aggregieren. Ihren großen Durchbruch erlebte sie aber erst in den letzten zwei Jahren. Eine interessante Verwendung für RSS hat die Amazon-Company A9 entdeckt, die damit einen Verbund aus Website-eigenen Suchmaschinen aufbaut.

Innovative Firmen werden weggekauft

Den Startups der neuen Generation ist gemeinsam, dass sie im Gegensatz zu ihren Dotcom-Vorgängern keine phänomenalen Börsengänge hinlegen konnten und daher nicht mit üppigen Finanzmitteln ausgestattet sind. Die Großen des E-Business sehen deshalb ihre Chance, viel versprechende Companies aufzukaufen. Sie haben es besonders auf jene abgesehen, die es auf Basis der neuen Ansätze schaffen, pfiffige Geschäftsideen umzusetzen. Yahoo griff zu, als die Popularitätskurve von Flickr steil anstieg, und übernahm den Schöpfer des Dienstes, die Firma Ludicorp.

Der RSS-Aggregator Bloglines fiel kürzlich an Ask Jeeves, und Netscape-Gründer Marc Andreessen investierte in den Konkurrenten Rojo. Amazon stieg als Mehrheitseigner bei Robot Co-op ein, der Firma hinter 43Things, und Looksmart kaufte Furl. Sie und andere innovative Startups haben wesentlich dazu beigetragen, Services zu entwickeln, die dem neuen Medium mit seinen enormen Möglichkeiten gerecht werden. Darin unterscheiden sie sich ebenfalls von den Dotcom-Vorgängern, die darin primär einen Vertriebskanal oder ein Mittel zur Publikation traditionell aufbereiteter Inhalte sahen.

Die Vorreiterrolle von Googles GMail

Als Google im letzten Jahr seinen Webmail-Service ankündigte, machte vor allem der ungewöhnlich großzügige Speicherplatz von 1 GB Schlagzeilen. Die eigentliche Innovation von GMail fand in jedoch zwei anderen Bereichen statt. Durch die konsequente Nutzung von dynamischem HTML (neuerdings "Ajax") entstand eine Web-basierende Benutzeroberfläche, die einem Desktop-Programm in puncto Komfort kaum nachsteht. Gleichzeitig bietet sie alle Vorteile einer Web-Applikation, indem sie keine lokale Installation oder Datenhaltung erfordert.

Die Anwendung reagiert auf fast alle Benutzeraktivitäten unverzüglich und ohne die bei Konkurrenten üblichen Wartezeiten für das Nachladen der Seite. Sie beherrscht sogar das Auto-Vervollständigen ("Type Ahead") im Eingabefeld für Mail-Empfänger.

Eine weitere wesentliche Neuerung von GMail besteht im Vergleich zu herkömmlichen Mail-Diensten darin, dass es auf Ordnerhierarchien für die Sortierung von Mails verzichtet. Stattdessen bietet es eine Kombination aus Googles Suchmaschine und freier Verschlagwortung. Bei GMail heißen diese beschreibenden Informationen "Label" (übrigens auch in der deutschen Fassung).

Sie tragen dem Umstand Rechnung, dass sich die heutige Informationsflut mit den immer noch gebräuchlichen Ordnersystemen nicht mehr adäquat bändigen lässt. Die Zuordnung einer Mail zu einem Ordner wird schwieriger, je mehr sich ihre Bedeutung in einer komplexen Hierarchie zu überschneiden beginnt. Das Label-System von GMail hat dagegen den Vorzug, dass pro Mail beliebig viele solche Etiketten vergeben werden können - es ist gewissermaßen flach.

Jedes von ihnen repräsentiert ein Filterkriterium, so dass sich viele Sichten auf den Mail-Bestand eröffnen. Die Problematik, große Datenmengen in einer hierarchischen Struktur organisieren zu müssen, gilt auch für Dateisysteme. Aus diesem Grund machte Microsoft so viel Aufhebens um WinFS, das für Windows Longhorn geplant war. Es sollte Informationen vor allem auf Basis reicher Metadaten verwalten und damit eine Alternative zu den althergebrachten Verzeichnisbäumen bieten.